Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Vie Tragödie Dantes. er an täglich neuen Erfindungen war; die meisten seiner Denkmäler sind wunder¬ Vie Tragödie Dantes. er an täglich neuen Erfindungen war; die meisten seiner Denkmäler sind wunder¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0234" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157159"/> <fw type="header" place="top"> Vie Tragödie Dantes.</fw><lb/> <p xml:id="ID_822" prev="#ID_821" next="#ID_823"> er an täglich neuen Erfindungen war; die meisten seiner Denkmäler sind wunder¬<lb/> bare Teile eines großen, kühn geträumten, aber niemals ausgeführten Ganzen,<lb/> das übrige nur Entwurf, Skizze, Stückwerk. „Ein Genie ohne Ahnen und<lb/> Nachkommen, ein in den Geschichtsbüchern der schöpferischen Phantasie einziges<lb/> Genie, welches aus dem innersten Wesen seines Ich heraus ein unbekanntes<lb/> Weltall herzustellen versucht hat, um durchaus nur den Eingebungen seines<lb/> souveränen Gedankens zu folgen; welches das Gebiet der Plastik bis in seine<lb/> fernsten Winkel durchforscht, aber sich auch an seinen unübersteiglichen Schranken<lb/> gestoßen und verblutet hat; ein Geist, der ich weiß nicht welches erhabene<lb/> xai, ?rSv der Kunst geträumt und nur erhabene Bruchstücke und Trümmer<lb/> zurückgelassen hat; der ebenso die stolzesten Verzückungen wie die bittersten Ent¬<lb/> täuschungen gekannt hat, und dessen Name zugleich den Gipfel und den Ver¬<lb/> fall unsrer modernen Kunst bezeichnet: — so erscheint uns Buonarrotti alsbald,<lb/> wenn wir nicht fürchten, ihm ins Gesicht zu schauen und uns über jene her¬<lb/> kömmlichen Urteile zu erheben, welche seit den Zeiten Vasaris bei uns im Um¬<lb/> laufe sind." — Und Dante? Er bietet in allem das entgegengesetzte Schau¬<lb/> spiel. Er bricht nicht bloß nicht mit der hieratischen Tradition des Mittelalters,<lb/> sondern seine Dichtung ist die eigentlichste Epopöe jener denkwürdigen Zeit,<lb/> deren Gefühle, Ideen, ja selbst scholastische Lehren sie wiedergiebt. Und kein<lb/> andres Werk des Mittelalters hat dem Altertum einen so breiten Raum zu¬<lb/> gestanden wie die Divina Commedia; jene Vereinigung der klassischen und christ¬<lb/> lichen Welt, welche der große Gedanke der Renaissance sein sollte, und welche<lb/> Michelangelo allein nie zulassen mochte, trotz aller Bewunderung, die er für<lb/> die alte Bildhauerei empfand, und trotz aller Begeisterung, die ihm das gött¬<lb/> liche Gedicht einflößte, ist von Alighieri inaugurirt worden. Der Bildhauer<lb/> und Maler von San Lorenzo und der Sixtina versetzt in eine unbekannte, für<lb/> uns unberechenbare Region die wirklichsten Persönlichkeiten der profanen, die<lb/> geläufigsten Typen der heiligen Geschichte, während der Dichter der göttlichen<lb/> Komödie uns das Jenseits so nahe als möglich zu bringen und sogar die<lb/> Finsternis der Hölle sichtbar zu machen wußte, Dante schasst nach einem genau,<lb/> bis ins kleinste Detail festgesetzten Plane, und wenn auch die großen gothischen<lb/> Dome seiner Zeit nicht fertig wurden: der nicht minder gothische Bau seines<lb/> Gedichtes wurde vollendet. Michelangelo nimmt immer nur die menschliche<lb/> Gestalt, und zwar in ihrem ausschließlich plastischen Sinne, zum Vorwurf, sogar<lb/> in seinen Fresken bleibt er Bildhauer; Dante macht die ganze Schöpfung zu<lb/> seiner Domäne und entlehnt seine Mittel den verschiedensten Zweigen der Kunst:<lb/> die Hölle hinterläßt einen vorzugsweise plastischen, das Fegefeuer einen male¬<lb/> rischen, das Paradies einen musikalischen Eindruck. Das symbolische Element,<lb/> welches Dante von allen Seiten durchdringt, geht Michelangelo vollständig ab.<lb/> In einer Mondscheinstimmung, zu gewissen süßen und einsamen Dämmerungs¬<lb/> stunden unsers Lebens finden wir besonders einen unsagbaren Reiz an der gött-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0234]
Vie Tragödie Dantes.
er an täglich neuen Erfindungen war; die meisten seiner Denkmäler sind wunder¬
bare Teile eines großen, kühn geträumten, aber niemals ausgeführten Ganzen,
das übrige nur Entwurf, Skizze, Stückwerk. „Ein Genie ohne Ahnen und
Nachkommen, ein in den Geschichtsbüchern der schöpferischen Phantasie einziges
Genie, welches aus dem innersten Wesen seines Ich heraus ein unbekanntes
Weltall herzustellen versucht hat, um durchaus nur den Eingebungen seines
souveränen Gedankens zu folgen; welches das Gebiet der Plastik bis in seine
fernsten Winkel durchforscht, aber sich auch an seinen unübersteiglichen Schranken
gestoßen und verblutet hat; ein Geist, der ich weiß nicht welches erhabene
xai, ?rSv der Kunst geträumt und nur erhabene Bruchstücke und Trümmer
zurückgelassen hat; der ebenso die stolzesten Verzückungen wie die bittersten Ent¬
täuschungen gekannt hat, und dessen Name zugleich den Gipfel und den Ver¬
fall unsrer modernen Kunst bezeichnet: — so erscheint uns Buonarrotti alsbald,
wenn wir nicht fürchten, ihm ins Gesicht zu schauen und uns über jene her¬
kömmlichen Urteile zu erheben, welche seit den Zeiten Vasaris bei uns im Um¬
laufe sind." — Und Dante? Er bietet in allem das entgegengesetzte Schau¬
spiel. Er bricht nicht bloß nicht mit der hieratischen Tradition des Mittelalters,
sondern seine Dichtung ist die eigentlichste Epopöe jener denkwürdigen Zeit,
deren Gefühle, Ideen, ja selbst scholastische Lehren sie wiedergiebt. Und kein
andres Werk des Mittelalters hat dem Altertum einen so breiten Raum zu¬
gestanden wie die Divina Commedia; jene Vereinigung der klassischen und christ¬
lichen Welt, welche der große Gedanke der Renaissance sein sollte, und welche
Michelangelo allein nie zulassen mochte, trotz aller Bewunderung, die er für
die alte Bildhauerei empfand, und trotz aller Begeisterung, die ihm das gött¬
liche Gedicht einflößte, ist von Alighieri inaugurirt worden. Der Bildhauer
und Maler von San Lorenzo und der Sixtina versetzt in eine unbekannte, für
uns unberechenbare Region die wirklichsten Persönlichkeiten der profanen, die
geläufigsten Typen der heiligen Geschichte, während der Dichter der göttlichen
Komödie uns das Jenseits so nahe als möglich zu bringen und sogar die
Finsternis der Hölle sichtbar zu machen wußte, Dante schasst nach einem genau,
bis ins kleinste Detail festgesetzten Plane, und wenn auch die großen gothischen
Dome seiner Zeit nicht fertig wurden: der nicht minder gothische Bau seines
Gedichtes wurde vollendet. Michelangelo nimmt immer nur die menschliche
Gestalt, und zwar in ihrem ausschließlich plastischen Sinne, zum Vorwurf, sogar
in seinen Fresken bleibt er Bildhauer; Dante macht die ganze Schöpfung zu
seiner Domäne und entlehnt seine Mittel den verschiedensten Zweigen der Kunst:
die Hölle hinterläßt einen vorzugsweise plastischen, das Fegefeuer einen male¬
rischen, das Paradies einen musikalischen Eindruck. Das symbolische Element,
welches Dante von allen Seiten durchdringt, geht Michelangelo vollständig ab.
In einer Mondscheinstimmung, zu gewissen süßen und einsamen Dämmerungs¬
stunden unsers Lebens finden wir besonders einen unsagbaren Reiz an der gött-
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