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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Tragödie Dantes.

zu jener in die Augen springenden und nicht minder bezeichnenden Erscheinung
führten, daß die Geliebte Alighieris uns viel wirklicher und lebendiger in der
Göttlichen Komödie entgegentritt als in der Vita nuova. Die Beatrice der
Terzinen wird uns ohne weiteres als eine Abstraktion und als ein Ideal vor¬
gestellt, sie ist eine symbolische Figur, mit der wir uns sehr rasch abfinden,
während die Beatrice der Sonette uns den beunruhigenden Eindruck des Ano¬
nymen, ja man möchte fast sagen der erotischen Schablone macht. So wahr
dies ist, so notwendig ist es, daran zu erinnern, daß Dante und mit ihm die
späteren Dichter von der Kunst der provenyalischen Troubadours ausgegangen
sind, die Meister des "heitern Wissens," des sadsr waren, welches in ihren
Liebeshöfen gepflegt wurde. Die Liebessklaverei Petrarcas war dort Gesetz:
die Liebe erscheint dort stets als das Verhältnis des Vasalls zu seiner Su-
zeränin, das ganze Verdienst des Liebenden besteht darin, daß er sich demütig,
in Treue und unerschütterlich dem gebieterischen Willen einer immer grausamen
Herrin unterwirft. Daß ein solches Verhältnis mehr das Ergebnis der Kultur
als der Natur war, mehr eine Sache der Konvention als des Gefühls, das
sagt schon der einfache, gesunde Verstand, und die literarischen Denkmale selbst
setzen es außer Zweifel. Den proper?ausehen Ursprung ihrer Muse erkennen
die großen italienischen Dichter des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts
auch ohne Umstände an; diese provenyalische Tradition herrschte in ganz Europa,
auch der deutsche Minnesang ging von ihr aus. Nichts Geringeres war not¬
wendig, als das wunderbare Aufblühen der dramatischen Poesie vom siebzehnten
Jahrhundert an in Shakespeare, Corneille, Racine, Calderon, um endlich den
Geistern eine neue Richtung zu gebe", um der Liebe jenen tiefen, leidenschaft¬
lichen und pathetischen Charakter aufzudrücken, den sie seitdem bewahrt hat.
Aber man darf auch nicht ungerecht sein und muß erkennen, daß Petrarca doch
von einem im Grunde künstlichen, zufälligen Ideal, das notwendig untergehen
mußte, das wahre, dauerhafte Element abzulösen verstanden hat, das seitdem allen
Zeiten und Ländern angehört; und andrerseits wird man die ganze Tiefe der
Shakespeareschen Tragödie von Romeo und Julie und die höchsten Schönheiten
derselben nur begreifen, wenn man sich stets das alte Ideal der Provenyalen
vergegenwärtigt. So sehr nun auch Dante in der Vita nuova auf dem Boden
seiner Tradition steht und für Beatrice ganz im provenyalischen Geiste schwärmt,
so weit entfernt er sich von ihm sowohl als von Shakespeare in seinem göttlichen
Gedichte. Denn hier wird die Liebe in einem ganz übernatürlichen Sinne auf¬
gefaßt; sie wird begriffen als ein kosmisches Prinzip, als eine ungeheure Strö¬
mung, welche "das große Meer des Seins" und die drei Reiche der unsicht¬
baren Welt durchzieht. Die Zweifel an der Leidenschaft Dantes für Beatrice
sind also berechtigt, ohne daß sie im mindesten Dantes Schöpfung schädigen.

Von den verschiednen Menschen in Alighieri, welche wir bis jetzt gesehen
haben, hat uns noch keiner jene geheimnisvolle und erschütternde Verwirrung,


Die Tragödie Dantes.

zu jener in die Augen springenden und nicht minder bezeichnenden Erscheinung
führten, daß die Geliebte Alighieris uns viel wirklicher und lebendiger in der
Göttlichen Komödie entgegentritt als in der Vita nuova. Die Beatrice der
Terzinen wird uns ohne weiteres als eine Abstraktion und als ein Ideal vor¬
gestellt, sie ist eine symbolische Figur, mit der wir uns sehr rasch abfinden,
während die Beatrice der Sonette uns den beunruhigenden Eindruck des Ano¬
nymen, ja man möchte fast sagen der erotischen Schablone macht. So wahr
dies ist, so notwendig ist es, daran zu erinnern, daß Dante und mit ihm die
späteren Dichter von der Kunst der provenyalischen Troubadours ausgegangen
sind, die Meister des „heitern Wissens," des sadsr waren, welches in ihren
Liebeshöfen gepflegt wurde. Die Liebessklaverei Petrarcas war dort Gesetz:
die Liebe erscheint dort stets als das Verhältnis des Vasalls zu seiner Su-
zeränin, das ganze Verdienst des Liebenden besteht darin, daß er sich demütig,
in Treue und unerschütterlich dem gebieterischen Willen einer immer grausamen
Herrin unterwirft. Daß ein solches Verhältnis mehr das Ergebnis der Kultur
als der Natur war, mehr eine Sache der Konvention als des Gefühls, das
sagt schon der einfache, gesunde Verstand, und die literarischen Denkmale selbst
setzen es außer Zweifel. Den proper?ausehen Ursprung ihrer Muse erkennen
die großen italienischen Dichter des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts
auch ohne Umstände an; diese provenyalische Tradition herrschte in ganz Europa,
auch der deutsche Minnesang ging von ihr aus. Nichts Geringeres war not¬
wendig, als das wunderbare Aufblühen der dramatischen Poesie vom siebzehnten
Jahrhundert an in Shakespeare, Corneille, Racine, Calderon, um endlich den
Geistern eine neue Richtung zu gebe», um der Liebe jenen tiefen, leidenschaft¬
lichen und pathetischen Charakter aufzudrücken, den sie seitdem bewahrt hat.
Aber man darf auch nicht ungerecht sein und muß erkennen, daß Petrarca doch
von einem im Grunde künstlichen, zufälligen Ideal, das notwendig untergehen
mußte, das wahre, dauerhafte Element abzulösen verstanden hat, das seitdem allen
Zeiten und Ländern angehört; und andrerseits wird man die ganze Tiefe der
Shakespeareschen Tragödie von Romeo und Julie und die höchsten Schönheiten
derselben nur begreifen, wenn man sich stets das alte Ideal der Provenyalen
vergegenwärtigt. So sehr nun auch Dante in der Vita nuova auf dem Boden
seiner Tradition steht und für Beatrice ganz im provenyalischen Geiste schwärmt,
so weit entfernt er sich von ihm sowohl als von Shakespeare in seinem göttlichen
Gedichte. Denn hier wird die Liebe in einem ganz übernatürlichen Sinne auf¬
gefaßt; sie wird begriffen als ein kosmisches Prinzip, als eine ungeheure Strö¬
mung, welche „das große Meer des Seins" und die drei Reiche der unsicht¬
baren Welt durchzieht. Die Zweifel an der Leidenschaft Dantes für Beatrice
sind also berechtigt, ohne daß sie im mindesten Dantes Schöpfung schädigen.

Von den verschiednen Menschen in Alighieri, welche wir bis jetzt gesehen
haben, hat uns noch keiner jene geheimnisvolle und erschütternde Verwirrung,


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[0236] Die Tragödie Dantes. zu jener in die Augen springenden und nicht minder bezeichnenden Erscheinung führten, daß die Geliebte Alighieris uns viel wirklicher und lebendiger in der Göttlichen Komödie entgegentritt als in der Vita nuova. Die Beatrice der Terzinen wird uns ohne weiteres als eine Abstraktion und als ein Ideal vor¬ gestellt, sie ist eine symbolische Figur, mit der wir uns sehr rasch abfinden, während die Beatrice der Sonette uns den beunruhigenden Eindruck des Ano¬ nymen, ja man möchte fast sagen der erotischen Schablone macht. So wahr dies ist, so notwendig ist es, daran zu erinnern, daß Dante und mit ihm die späteren Dichter von der Kunst der provenyalischen Troubadours ausgegangen sind, die Meister des „heitern Wissens," des sadsr waren, welches in ihren Liebeshöfen gepflegt wurde. Die Liebessklaverei Petrarcas war dort Gesetz: die Liebe erscheint dort stets als das Verhältnis des Vasalls zu seiner Su- zeränin, das ganze Verdienst des Liebenden besteht darin, daß er sich demütig, in Treue und unerschütterlich dem gebieterischen Willen einer immer grausamen Herrin unterwirft. Daß ein solches Verhältnis mehr das Ergebnis der Kultur als der Natur war, mehr eine Sache der Konvention als des Gefühls, das sagt schon der einfache, gesunde Verstand, und die literarischen Denkmale selbst setzen es außer Zweifel. Den proper?ausehen Ursprung ihrer Muse erkennen die großen italienischen Dichter des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts auch ohne Umstände an; diese provenyalische Tradition herrschte in ganz Europa, auch der deutsche Minnesang ging von ihr aus. Nichts Geringeres war not¬ wendig, als das wunderbare Aufblühen der dramatischen Poesie vom siebzehnten Jahrhundert an in Shakespeare, Corneille, Racine, Calderon, um endlich den Geistern eine neue Richtung zu gebe», um der Liebe jenen tiefen, leidenschaft¬ lichen und pathetischen Charakter aufzudrücken, den sie seitdem bewahrt hat. Aber man darf auch nicht ungerecht sein und muß erkennen, daß Petrarca doch von einem im Grunde künstlichen, zufälligen Ideal, das notwendig untergehen mußte, das wahre, dauerhafte Element abzulösen verstanden hat, das seitdem allen Zeiten und Ländern angehört; und andrerseits wird man die ganze Tiefe der Shakespeareschen Tragödie von Romeo und Julie und die höchsten Schönheiten derselben nur begreifen, wenn man sich stets das alte Ideal der Provenyalen vergegenwärtigt. So sehr nun auch Dante in der Vita nuova auf dem Boden seiner Tradition steht und für Beatrice ganz im provenyalischen Geiste schwärmt, so weit entfernt er sich von ihm sowohl als von Shakespeare in seinem göttlichen Gedichte. Denn hier wird die Liebe in einem ganz übernatürlichen Sinne auf¬ gefaßt; sie wird begriffen als ein kosmisches Prinzip, als eine ungeheure Strö¬ mung, welche „das große Meer des Seins" und die drei Reiche der unsicht¬ baren Welt durchzieht. Die Zweifel an der Leidenschaft Dantes für Beatrice sind also berechtigt, ohne daß sie im mindesten Dantes Schöpfung schädigen. Von den verschiednen Menschen in Alighieri, welche wir bis jetzt gesehen haben, hat uns noch keiner jene geheimnisvolle und erschütternde Verwirrung,

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/236>, abgerufen am 29.12.2024.