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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Die Tragödie Dantes.

geistsprühenden, von geschiehts- und kunstphilosophischer Kraft getragenen Essay
über den Dichter der Divina Commedia, als zu einer konkreten Darstellung
seines Lebens und seiner Werke; aber eben hierdurch haben sie ihre berechtigte
Stellung neben dem (von ihnen selbst lebhaft anerkannten) Meisterwerke F.
Wegeles in der Literatur; ein Buch ersetzt keineswegs das andre.

Es versteht sich von selbst, daß wir hier nicht unternehmen wollen, den
Gehalt eines so reichen Werkes wiederzugeben; jede solche Leistung verliert bei
der Reproduktion. Doch kurz anzuführen, wie Klaczko jene vier Fragen be¬
antwortet, können wir uns nicht versagen, wobei wir die Entscheidung über den
Gegensatz zwischen ihm und Witte gern den Fachmännern überlassen.

Ist Dante tragisch als Künstler?

Man kennt die romantische Theorie von dem Martyrium, zu dem die
Künstler von Haus aus verurteilt wären; aber man weiß auch, daß sie un¬
haltbar ist. Die größere Empfänglichkeit, welche dem Künstler für die Eindrücke
der Außenwelt zuteil geworden war, begründet jenes Martyrium noch keines¬
wegs. Je größer die Empfänglichkeit, umso größer die Lust an der Welt, und
übrigens steht er rein ästhetisch, beschaulich der Welt und ihren Kämpfen gegen¬
über. Die Erfahrung zeigt ebensoviele Künstler, die glücklich und zufrieden mit
der Welt endeten, als solche, die nie in ihr Befriedigung fanden. Also im
Wesen der künstlerischen Natur als solcher liegt noch keinerlei Tragik. Und
doch müssen vor dem Schatten Dantes jene andern alle zurücktreten in der
großen "Bruderschaft der Passion" -- die Byron, die Milton. Cervantes,
Tasso! "Warum scheint uns derselbe wie das Jerusalem des Propheten immer
zu sagen, daß kein Schmerz dem seinen gleich sei? Ich kenne in der Geschichte
der Kunst nur noch einen einzigen Namen, denjenigen Michelangelos, welcher
auf unsern Geist den nämlichen beängstigenden Zauber ausübt und uns an eine
ganze Welt ähnlich großer, ähnlich geheimnisvoller Leiden denken läßt." Worin
besteht die Tragödie Michelangelos? Die Erkenntnis derselben wird auch ein
Licht auf die Dantes werfen, zumal da man ohnehin, und wie Klaczko des
näheren nachweist, mit Unrecht beide Genien für verwandte Naturen zu er¬
klären pflegt. Michelangelo war tragisch, weil er nicht imstande war, als
Künstler seine Ideale zu gestalten; er hatte ganz andre Ideale nicht bloß als
seine Zeitgenossen, nicht bloß als seine Vorgänger, als die Antike, als das
Mittelalter, sondern als sie überhaupt der gemeinen menschlichen Natur konform
zu sein scheinen. Er war ein Revolutionär in allen Dingen und unterschied
sich, wie in seiner Begabung, so in der ganzen Art zu leben, zu arbeiten, zu
lieben und zu hassen von allen andern. Alles im Leben dieses außerordent¬
lichen Mannes erscheint verkehrt, auf den Kopf gestellt, durchkreuzt. Niemals
hat die Inspiration eines Künstlers in dem Maße wie bei ihm den Stempel
einer unsagbaren Qual, einer äußersten Spannung, eines schweren und leidvollen
Ringens getragen. Er hat eigentlich nie seine Pläne durchgeführt, so fruchtbar


Grenzboten IV. 1884. 29
Die Tragödie Dantes.

geistsprühenden, von geschiehts- und kunstphilosophischer Kraft getragenen Essay
über den Dichter der Divina Commedia, als zu einer konkreten Darstellung
seines Lebens und seiner Werke; aber eben hierdurch haben sie ihre berechtigte
Stellung neben dem (von ihnen selbst lebhaft anerkannten) Meisterwerke F.
Wegeles in der Literatur; ein Buch ersetzt keineswegs das andre.

Es versteht sich von selbst, daß wir hier nicht unternehmen wollen, den
Gehalt eines so reichen Werkes wiederzugeben; jede solche Leistung verliert bei
der Reproduktion. Doch kurz anzuführen, wie Klaczko jene vier Fragen be¬
antwortet, können wir uns nicht versagen, wobei wir die Entscheidung über den
Gegensatz zwischen ihm und Witte gern den Fachmännern überlassen.

Ist Dante tragisch als Künstler?

Man kennt die romantische Theorie von dem Martyrium, zu dem die
Künstler von Haus aus verurteilt wären; aber man weiß auch, daß sie un¬
haltbar ist. Die größere Empfänglichkeit, welche dem Künstler für die Eindrücke
der Außenwelt zuteil geworden war, begründet jenes Martyrium noch keines¬
wegs. Je größer die Empfänglichkeit, umso größer die Lust an der Welt, und
übrigens steht er rein ästhetisch, beschaulich der Welt und ihren Kämpfen gegen¬
über. Die Erfahrung zeigt ebensoviele Künstler, die glücklich und zufrieden mit
der Welt endeten, als solche, die nie in ihr Befriedigung fanden. Also im
Wesen der künstlerischen Natur als solcher liegt noch keinerlei Tragik. Und
doch müssen vor dem Schatten Dantes jene andern alle zurücktreten in der
großen „Bruderschaft der Passion" — die Byron, die Milton. Cervantes,
Tasso! „Warum scheint uns derselbe wie das Jerusalem des Propheten immer
zu sagen, daß kein Schmerz dem seinen gleich sei? Ich kenne in der Geschichte
der Kunst nur noch einen einzigen Namen, denjenigen Michelangelos, welcher
auf unsern Geist den nämlichen beängstigenden Zauber ausübt und uns an eine
ganze Welt ähnlich großer, ähnlich geheimnisvoller Leiden denken läßt." Worin
besteht die Tragödie Michelangelos? Die Erkenntnis derselben wird auch ein
Licht auf die Dantes werfen, zumal da man ohnehin, und wie Klaczko des
näheren nachweist, mit Unrecht beide Genien für verwandte Naturen zu er¬
klären pflegt. Michelangelo war tragisch, weil er nicht imstande war, als
Künstler seine Ideale zu gestalten; er hatte ganz andre Ideale nicht bloß als
seine Zeitgenossen, nicht bloß als seine Vorgänger, als die Antike, als das
Mittelalter, sondern als sie überhaupt der gemeinen menschlichen Natur konform
zu sein scheinen. Er war ein Revolutionär in allen Dingen und unterschied
sich, wie in seiner Begabung, so in der ganzen Art zu leben, zu arbeiten, zu
lieben und zu hassen von allen andern. Alles im Leben dieses außerordent¬
lichen Mannes erscheint verkehrt, auf den Kopf gestellt, durchkreuzt. Niemals
hat die Inspiration eines Künstlers in dem Maße wie bei ihm den Stempel
einer unsagbaren Qual, einer äußersten Spannung, eines schweren und leidvollen
Ringens getragen. Er hat eigentlich nie seine Pläne durchgeführt, so fruchtbar


Grenzboten IV. 1884. 29
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[0233] Die Tragödie Dantes. geistsprühenden, von geschiehts- und kunstphilosophischer Kraft getragenen Essay über den Dichter der Divina Commedia, als zu einer konkreten Darstellung seines Lebens und seiner Werke; aber eben hierdurch haben sie ihre berechtigte Stellung neben dem (von ihnen selbst lebhaft anerkannten) Meisterwerke F. Wegeles in der Literatur; ein Buch ersetzt keineswegs das andre. Es versteht sich von selbst, daß wir hier nicht unternehmen wollen, den Gehalt eines so reichen Werkes wiederzugeben; jede solche Leistung verliert bei der Reproduktion. Doch kurz anzuführen, wie Klaczko jene vier Fragen be¬ antwortet, können wir uns nicht versagen, wobei wir die Entscheidung über den Gegensatz zwischen ihm und Witte gern den Fachmännern überlassen. Ist Dante tragisch als Künstler? Man kennt die romantische Theorie von dem Martyrium, zu dem die Künstler von Haus aus verurteilt wären; aber man weiß auch, daß sie un¬ haltbar ist. Die größere Empfänglichkeit, welche dem Künstler für die Eindrücke der Außenwelt zuteil geworden war, begründet jenes Martyrium noch keines¬ wegs. Je größer die Empfänglichkeit, umso größer die Lust an der Welt, und übrigens steht er rein ästhetisch, beschaulich der Welt und ihren Kämpfen gegen¬ über. Die Erfahrung zeigt ebensoviele Künstler, die glücklich und zufrieden mit der Welt endeten, als solche, die nie in ihr Befriedigung fanden. Also im Wesen der künstlerischen Natur als solcher liegt noch keinerlei Tragik. Und doch müssen vor dem Schatten Dantes jene andern alle zurücktreten in der großen „Bruderschaft der Passion" — die Byron, die Milton. Cervantes, Tasso! „Warum scheint uns derselbe wie das Jerusalem des Propheten immer zu sagen, daß kein Schmerz dem seinen gleich sei? Ich kenne in der Geschichte der Kunst nur noch einen einzigen Namen, denjenigen Michelangelos, welcher auf unsern Geist den nämlichen beängstigenden Zauber ausübt und uns an eine ganze Welt ähnlich großer, ähnlich geheimnisvoller Leiden denken läßt." Worin besteht die Tragödie Michelangelos? Die Erkenntnis derselben wird auch ein Licht auf die Dantes werfen, zumal da man ohnehin, und wie Klaczko des näheren nachweist, mit Unrecht beide Genien für verwandte Naturen zu er¬ klären pflegt. Michelangelo war tragisch, weil er nicht imstande war, als Künstler seine Ideale zu gestalten; er hatte ganz andre Ideale nicht bloß als seine Zeitgenossen, nicht bloß als seine Vorgänger, als die Antike, als das Mittelalter, sondern als sie überhaupt der gemeinen menschlichen Natur konform zu sein scheinen. Er war ein Revolutionär in allen Dingen und unterschied sich, wie in seiner Begabung, so in der ganzen Art zu leben, zu arbeiten, zu lieben und zu hassen von allen andern. Alles im Leben dieses außerordent¬ lichen Mannes erscheint verkehrt, auf den Kopf gestellt, durchkreuzt. Niemals hat die Inspiration eines Künstlers in dem Maße wie bei ihm den Stempel einer unsagbaren Qual, einer äußersten Spannung, eines schweren und leidvollen Ringens getragen. Er hat eigentlich nie seine Pläne durchgeführt, so fruchtbar Grenzboten IV. 1884. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/233>, abgerufen am 29.12.2024.