Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Das soziale Königtum. stimmter Notwendigkeit; sowenig ein Mensch dem andern an Kraft und Stärke, Das soziale Königtum. stimmter Notwendigkeit; sowenig ein Mensch dem andern an Kraft und Stärke, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157140"/> <fw type="header" place="top"> Das soziale Königtum.</fw><lb/> <p xml:id="ID_776" prev="#ID_775" next="#ID_777"> stimmter Notwendigkeit; sowenig ein Mensch dem andern an Kraft und Stärke,<lb/> an Geist und Seele gleicht, so wenig kann es eine Gleichheit des Besitzes geben.<lb/> Die sozialdemokratischen Agitatoren wissen dies wohl, aber so wirksam ist dieses<lb/> Lockmittel, daß sich noch immer Millionen durch diese Fata Morgana täuschen<lb/> lassen. Kaiser Wilhelm und Fürst Bismarck wählten erreichbare Ziele. Die<lb/> Wendung der Zollpolitik durch die Schaffung von Zöllen zum Schutze der in¬<lb/> ländischen Industrie gegen die ausländische Konkurrenz war der erste Schritt<lb/> auf dem Wege, den das soziale Königtum einschlug. Auch von den Gegnern<lb/> kann jetzt nicht mehr geleugnet werden, daß seit dieser neuen Richtung der Zoll¬<lb/> politik Handel und Industrie einen neuen Aufschwung genommen haben. Der<lb/> deutsche Markt ist gekräftigt, die deutsche Industrie hat, wie wir täglich aus<lb/> französischen und englischen Blättern entnehmen können, sich eine gefürchtete<lb/> Stellung im Welthandel geschaffen, und selbstverständlich mußten diesem Auf¬<lb/> schwünge auch die Arbeitslöhne und die Gelegenheit zur Arbeit folgen. Der<lb/> zweite Schritt in der Sozialpolitik bestand in einer Entlastung der untern<lb/> Klassen in ihren Leistungen dem Staate gegenüber. Es ist dies in doppelter<lb/> Richtung geschehen, und nicht ohne den erheblichsten Widerspruch des den krassesten<lb/> Kapitalismus vertretenden Fortschrittes und Freisinnes. Die Mehreinkünfte,<lb/> welche sich aus der Erhöhung der Zölle ergaben, wurden in Preußen dazu ver¬<lb/> wendet, um die untersten Stufen von der staatlichen Steuer zu befreien. Wohl<lb/> bleibt hier noch viel zu thun übrig, aber es ist doch eine That von hoher<lb/> sozialer Bedeutung, daß in mehr als 700 000 Fällen keine Exekution mehr<lb/> gegen die mindestbegüterten Glieder des Volkes stattfindet. Eine Minderung<lb/> der fast unerschwinglichen kommunalen Abgaben und Schullasten ist in Aussicht<lb/> genommen, und wenn hier noch kein Ergebnis auszuweisen ist, so werden sich<lb/> die deutschen Arbeiter bei den Führern der fortschrittlich-freisinnigen Koalition<lb/> zu bedanken haben. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen entzog dem trägen<lb/> Kapital die mühelos verdienten Superdividenden und wies den Überschuß an<lb/> Stelle der Aktionäre dem Staate zu und ermöglicht nun demselben, die schweren,<lb/> zur Aufrechterhaltung des Friedens erforderlichen Ausgaben zu tragen, ohne die<lb/> weniger bemittelten Klassen aufs neue zu belasten. Der dritte und schwer¬<lb/> wiegendste Schritt des sozialen Königtums bestand in den Reformen zur direkten<lb/> Fürsorge für den Arbeiter. Vernünftigerweise muß man sich sagen, daß im<lb/> allgemeinen heute der Arbeiter, wenn er die Gelegenheit zur Arbeit fleißig benutzt,<lb/> solange er in Arbeit steht, soviel verdient, um ein menschenwürdiges Dasein<lb/> führen zu können. Die Verfeinerung der Kultur hat sich auch auf die Arbeiter<lb/> erstreckt, ihre Bedürfnisse sind größer geworden, aber in den Regelfällen ist der<lb/> Lohn hinreichend bemessen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Was dagegen den<lb/> Arbeiter gegenüber den besitzenden Klassen in so große Gefahr bringt, ist die<lb/> Unsicherheit seiner Lage gegenüber den Wechselfällen des Lebens; die Krankheit<lb/> des Arbeiters und insbesondre ein während des Betriebes so leicht eintretender</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0215]
Das soziale Königtum.
stimmter Notwendigkeit; sowenig ein Mensch dem andern an Kraft und Stärke,
an Geist und Seele gleicht, so wenig kann es eine Gleichheit des Besitzes geben.
Die sozialdemokratischen Agitatoren wissen dies wohl, aber so wirksam ist dieses
Lockmittel, daß sich noch immer Millionen durch diese Fata Morgana täuschen
lassen. Kaiser Wilhelm und Fürst Bismarck wählten erreichbare Ziele. Die
Wendung der Zollpolitik durch die Schaffung von Zöllen zum Schutze der in¬
ländischen Industrie gegen die ausländische Konkurrenz war der erste Schritt
auf dem Wege, den das soziale Königtum einschlug. Auch von den Gegnern
kann jetzt nicht mehr geleugnet werden, daß seit dieser neuen Richtung der Zoll¬
politik Handel und Industrie einen neuen Aufschwung genommen haben. Der
deutsche Markt ist gekräftigt, die deutsche Industrie hat, wie wir täglich aus
französischen und englischen Blättern entnehmen können, sich eine gefürchtete
Stellung im Welthandel geschaffen, und selbstverständlich mußten diesem Auf¬
schwünge auch die Arbeitslöhne und die Gelegenheit zur Arbeit folgen. Der
zweite Schritt in der Sozialpolitik bestand in einer Entlastung der untern
Klassen in ihren Leistungen dem Staate gegenüber. Es ist dies in doppelter
Richtung geschehen, und nicht ohne den erheblichsten Widerspruch des den krassesten
Kapitalismus vertretenden Fortschrittes und Freisinnes. Die Mehreinkünfte,
welche sich aus der Erhöhung der Zölle ergaben, wurden in Preußen dazu ver¬
wendet, um die untersten Stufen von der staatlichen Steuer zu befreien. Wohl
bleibt hier noch viel zu thun übrig, aber es ist doch eine That von hoher
sozialer Bedeutung, daß in mehr als 700 000 Fällen keine Exekution mehr
gegen die mindestbegüterten Glieder des Volkes stattfindet. Eine Minderung
der fast unerschwinglichen kommunalen Abgaben und Schullasten ist in Aussicht
genommen, und wenn hier noch kein Ergebnis auszuweisen ist, so werden sich
die deutschen Arbeiter bei den Führern der fortschrittlich-freisinnigen Koalition
zu bedanken haben. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen entzog dem trägen
Kapital die mühelos verdienten Superdividenden und wies den Überschuß an
Stelle der Aktionäre dem Staate zu und ermöglicht nun demselben, die schweren,
zur Aufrechterhaltung des Friedens erforderlichen Ausgaben zu tragen, ohne die
weniger bemittelten Klassen aufs neue zu belasten. Der dritte und schwer¬
wiegendste Schritt des sozialen Königtums bestand in den Reformen zur direkten
Fürsorge für den Arbeiter. Vernünftigerweise muß man sich sagen, daß im
allgemeinen heute der Arbeiter, wenn er die Gelegenheit zur Arbeit fleißig benutzt,
solange er in Arbeit steht, soviel verdient, um ein menschenwürdiges Dasein
führen zu können. Die Verfeinerung der Kultur hat sich auch auf die Arbeiter
erstreckt, ihre Bedürfnisse sind größer geworden, aber in den Regelfällen ist der
Lohn hinreichend bemessen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Was dagegen den
Arbeiter gegenüber den besitzenden Klassen in so große Gefahr bringt, ist die
Unsicherheit seiner Lage gegenüber den Wechselfällen des Lebens; die Krankheit
des Arbeiters und insbesondre ein während des Betriebes so leicht eintretender
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