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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Das soziale Königtum.

lichen sozialen Schäden, die Notlage der arbeitenden Klassen, ließen den fort¬
schrittlich-freisinnigen Liberalismus ungerührt, für ihn war eine vom Zaune
gebrochene konstitutionelle Doktorfrage wichtiger als die Linderung des Elends
der durch den Gründungswucher brotlos gewordenen Arbeiter. Aber auch die
übrigen Parteien verharrten in Einseitigkeit oder Öde. Die katholische Kirche,
die nach der Revolution von 1848 eine besondre Aufmerksamkeit dem sitt¬
lichen und leiblichen Wohl der untern Volksschichten zugewendet hatte und
in der Bischof von Ketteler auch der sozialen Frage nähergetreten war, be¬
nutzte seit dem Beginn des Kulturkampfes die geschaffene Organisation der
Bruderschaften und Gesellenvereine lediglich, um für das ultramontan-welfische
Interesse Stimmen bei den Wahlen zu werben. Die gemäßigte liberale Partei
verstand es nicht, die alte Haut abzustreifen und sich von den Banden eines
schönrednerischen Doktrinarismus zu befreien. Ein fruchtbarer Gedanke schien
aus der konservativen Partei zu entstehen, als sich aus ihr die Gemeinschaft
der Christlich-Sozialen abhob, welche anscheinend nach dem Vorbilde der eng¬
lischen (?0oxsrs.divo begann, in den bessern Klassen ein warmes Gefühl für die
Arbeiter zu erwecken. Aber die Hoffnungen, welche die Wohlgesinnten gerade
auf diese Bewegung gesetzt hatten, verschwanden, als dieselbe begann, die an sich
unbedeutende Autisemitenfrage zum Hauptgegenstande ihrer Agitation zu erheben
und Zelotismus und Kraftworte allein auf diese zu verschwenden. Gerade das
gehässige Hervorkehren dieses Nebenpunktcs hat in Deutschland diese Bewegung,
welche in England so segensreiche Früchte getragen hat, vielleicht für immer ge¬
fährdet, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß ein nicht unbedeutender Bruchteil
unsrer gebildeten jüngern Generation durch diese Agitation zu größerer patrio¬
tischen Sammlung gelangt ist.

So war das Reich auf dem Standpunkte angelangt, daß sich die politischen
Parteien damit begnügten, wenn der Ausbruch des Notschreies lediglich mit
Polizeigewalt unterdrückt würde und es im übrigen ginge, wie es Gott gefällt.
Das war der Weisheit höchster Schluß! Für den Kaiser Wilhelm und seinen
Kanzler war es aber zur festen Überzeugung geworden, daß -- wie es in der
Botschaft vom 17. November 1881 ausdrücklich und feierlich verkündet wurde --
die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der RePression
sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven
Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sei. Diese Überzeugung zu
verwirklichen, waren schon im Jahre 1878 die ersten Schritte geschehen. Die
Maßlosigkeit eines egoistischen Kapitalismus hatte durch Gründung und Über¬
produktion die deutsche Industrie an den Rand des Abgrundes gebracht. Nicht
bloß waren die Arbeitslöhne niedriger, sondern auch die Arbeitsgelegenheit ge¬
ringer geworden. Ein praktischer Staatsmann muß die utopistischen Ziele des
Kommunismus als unmöglich anerkennen. Die Ungleichheit des Besitzes ist
nicht bloß eine Thatsache, sie ist die Folge physischer, von der Schöpfung be-


Das soziale Königtum.

lichen sozialen Schäden, die Notlage der arbeitenden Klassen, ließen den fort¬
schrittlich-freisinnigen Liberalismus ungerührt, für ihn war eine vom Zaune
gebrochene konstitutionelle Doktorfrage wichtiger als die Linderung des Elends
der durch den Gründungswucher brotlos gewordenen Arbeiter. Aber auch die
übrigen Parteien verharrten in Einseitigkeit oder Öde. Die katholische Kirche,
die nach der Revolution von 1848 eine besondre Aufmerksamkeit dem sitt¬
lichen und leiblichen Wohl der untern Volksschichten zugewendet hatte und
in der Bischof von Ketteler auch der sozialen Frage nähergetreten war, be¬
nutzte seit dem Beginn des Kulturkampfes die geschaffene Organisation der
Bruderschaften und Gesellenvereine lediglich, um für das ultramontan-welfische
Interesse Stimmen bei den Wahlen zu werben. Die gemäßigte liberale Partei
verstand es nicht, die alte Haut abzustreifen und sich von den Banden eines
schönrednerischen Doktrinarismus zu befreien. Ein fruchtbarer Gedanke schien
aus der konservativen Partei zu entstehen, als sich aus ihr die Gemeinschaft
der Christlich-Sozialen abhob, welche anscheinend nach dem Vorbilde der eng¬
lischen (?0oxsrs.divo begann, in den bessern Klassen ein warmes Gefühl für die
Arbeiter zu erwecken. Aber die Hoffnungen, welche die Wohlgesinnten gerade
auf diese Bewegung gesetzt hatten, verschwanden, als dieselbe begann, die an sich
unbedeutende Autisemitenfrage zum Hauptgegenstande ihrer Agitation zu erheben
und Zelotismus und Kraftworte allein auf diese zu verschwenden. Gerade das
gehässige Hervorkehren dieses Nebenpunktcs hat in Deutschland diese Bewegung,
welche in England so segensreiche Früchte getragen hat, vielleicht für immer ge¬
fährdet, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß ein nicht unbedeutender Bruchteil
unsrer gebildeten jüngern Generation durch diese Agitation zu größerer patrio¬
tischen Sammlung gelangt ist.

So war das Reich auf dem Standpunkte angelangt, daß sich die politischen
Parteien damit begnügten, wenn der Ausbruch des Notschreies lediglich mit
Polizeigewalt unterdrückt würde und es im übrigen ginge, wie es Gott gefällt.
Das war der Weisheit höchster Schluß! Für den Kaiser Wilhelm und seinen
Kanzler war es aber zur festen Überzeugung geworden, daß — wie es in der
Botschaft vom 17. November 1881 ausdrücklich und feierlich verkündet wurde —
die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der RePression
sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven
Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sei. Diese Überzeugung zu
verwirklichen, waren schon im Jahre 1878 die ersten Schritte geschehen. Die
Maßlosigkeit eines egoistischen Kapitalismus hatte durch Gründung und Über¬
produktion die deutsche Industrie an den Rand des Abgrundes gebracht. Nicht
bloß waren die Arbeitslöhne niedriger, sondern auch die Arbeitsgelegenheit ge¬
ringer geworden. Ein praktischer Staatsmann muß die utopistischen Ziele des
Kommunismus als unmöglich anerkennen. Die Ungleichheit des Besitzes ist
nicht bloß eine Thatsache, sie ist die Folge physischer, von der Schöpfung be-


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[0214] Das soziale Königtum. lichen sozialen Schäden, die Notlage der arbeitenden Klassen, ließen den fort¬ schrittlich-freisinnigen Liberalismus ungerührt, für ihn war eine vom Zaune gebrochene konstitutionelle Doktorfrage wichtiger als die Linderung des Elends der durch den Gründungswucher brotlos gewordenen Arbeiter. Aber auch die übrigen Parteien verharrten in Einseitigkeit oder Öde. Die katholische Kirche, die nach der Revolution von 1848 eine besondre Aufmerksamkeit dem sitt¬ lichen und leiblichen Wohl der untern Volksschichten zugewendet hatte und in der Bischof von Ketteler auch der sozialen Frage nähergetreten war, be¬ nutzte seit dem Beginn des Kulturkampfes die geschaffene Organisation der Bruderschaften und Gesellenvereine lediglich, um für das ultramontan-welfische Interesse Stimmen bei den Wahlen zu werben. Die gemäßigte liberale Partei verstand es nicht, die alte Haut abzustreifen und sich von den Banden eines schönrednerischen Doktrinarismus zu befreien. Ein fruchtbarer Gedanke schien aus der konservativen Partei zu entstehen, als sich aus ihr die Gemeinschaft der Christlich-Sozialen abhob, welche anscheinend nach dem Vorbilde der eng¬ lischen (?0oxsrs.divo begann, in den bessern Klassen ein warmes Gefühl für die Arbeiter zu erwecken. Aber die Hoffnungen, welche die Wohlgesinnten gerade auf diese Bewegung gesetzt hatten, verschwanden, als dieselbe begann, die an sich unbedeutende Autisemitenfrage zum Hauptgegenstande ihrer Agitation zu erheben und Zelotismus und Kraftworte allein auf diese zu verschwenden. Gerade das gehässige Hervorkehren dieses Nebenpunktcs hat in Deutschland diese Bewegung, welche in England so segensreiche Früchte getragen hat, vielleicht für immer ge¬ fährdet, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß ein nicht unbedeutender Bruchteil unsrer gebildeten jüngern Generation durch diese Agitation zu größerer patrio¬ tischen Sammlung gelangt ist. So war das Reich auf dem Standpunkte angelangt, daß sich die politischen Parteien damit begnügten, wenn der Ausbruch des Notschreies lediglich mit Polizeigewalt unterdrückt würde und es im übrigen ginge, wie es Gott gefällt. Das war der Weisheit höchster Schluß! Für den Kaiser Wilhelm und seinen Kanzler war es aber zur festen Überzeugung geworden, daß — wie es in der Botschaft vom 17. November 1881 ausdrücklich und feierlich verkündet wurde — die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der RePression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sei. Diese Überzeugung zu verwirklichen, waren schon im Jahre 1878 die ersten Schritte geschehen. Die Maßlosigkeit eines egoistischen Kapitalismus hatte durch Gründung und Über¬ produktion die deutsche Industrie an den Rand des Abgrundes gebracht. Nicht bloß waren die Arbeitslöhne niedriger, sondern auch die Arbeitsgelegenheit ge¬ ringer geworden. Ein praktischer Staatsmann muß die utopistischen Ziele des Kommunismus als unmöglich anerkennen. Die Ungleichheit des Besitzes ist nicht bloß eine Thatsache, sie ist die Folge physischer, von der Schöpfung be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/214>, abgerufen am 29.12.2024.