Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Dichtung und Gegenwart.

innere Gewißheit, auf dem rechten Wege zu sein, giebt ihm nicht nur eine mäch¬
tige, durch garnichts zu ersetzende Resonanz, sondern verleiht auch seinen Werken
in den Augen der Zeitgenossen eine fast an die religiöse streifende Bedeutung.
Heute sind nicht einmal die elementarsten ethischen Grundsätze Gemeingut der
Nation; der Dichter soll das moralische Gewissen der Zeit, eine Art von Welt-
uemesis sein, und ist nicht auf eine Sekunde sicher, im Sinne der Zeitgenossen
zu sprechen und zu urteilen. Der Einwand liegt nahe, daß es ja dessen auch
nicht bedürfe, sobald er nur selbst eine feste sittliche Basis besitze, diese mit
Begeisterung festhalte und so in seine Figuren überpflanze. Das ist nicht richtig.
Ein individueller sittlicher Maßstab hat, eben weil er individuell ist, stets etwas
bewußt zurecht Gemachtes, Absichtliches, Willkürliches. Mag immerhin ein
Teil der Leser auf demselben Standpunkte stehen: der Eindruck des unmittelbar
aus dem Göttlichen quellenden Sittengesetzes und der daraus resultirenden furcht¬
baren Verantwortlichkeit geht unter allen Umständen verloren. Und er gerade
ist es, der den heiligen Schauer, die x"^"^>c7tL verursacht, um derentwillen wir
ein Dichterwerk über andre erheben. Bleichsüchtige Figuren werden geschaffen,
deren Konflikte nicht im Auflehnen gegen eine sittliche Weltordnung, sondern
in einem Verfehlen des rechten Weges bestehen; blinde Wanderer, die im Umher¬
tappen sich an Steinen und Mauern stoßen. Selbst eine mächtige dichterische
Persönlichkeit, die allen Zweifel in sich überwunden hat und deren ethischer
Grund und Boden ihr organisch im Bewußtsein verschmolzen ist: auch sie würde
moderne Menschen immer in dieser unseligen Unsicherheit befangen darstellen
müssen. Reine und in ihrer Einfachheit erhabene Konflikte -- nur Lear sei als
Beispiel genannt -- würden ihm nur durch Zurückgehen in eine phantastische
Vergangenheit möglich werden. Das ist bei Shakespeare freilich auch der Fall,
aber aus sehr andern Gründen.

So gäbe es denn nur den Ausweg, die Gegenwart ganz ruhen zu lassen
und poetische Objekte in vergangenen Epochen zu suchen. Ist damit wirklich
etwas gewonnen? Wird ein dichterisches Talent vermessen genug sein, die
Reproduktion vergangener Stoffe in der Weltanschauung ihrer Zeit zu ver¬
suchen? Ein wirklich dichterisches Talent, das eine ehrfurchtsvolle Pietät gegen
das Individuelle besitzt und sich schämt, jenen keiner Zeit angehörigen und
psychologisch unsinnigen Mischmasch zu tage zu fördern, mit dem unsre mo¬
dernsten Dichterlinge uns aufzuwarten belieben? Der wirkliche Dichter stattet
seine Figuren nur mit dem aus, was er selbst als seelisches Eigentum besitzt,
nicht mit dem, was er sich verstandesmäßig als Kenntnisse angeeignet hat,
daher denn auch alle großen Dichter, wo sie Vergangenes darstellen, immer
Menschen ihrer Zeit schildern. Will der moderne Dichter so verfahren, so ge¬
winnt er also nichts: seine ethische Subjektivität begleitet ihn überall hin. Und
möge doch niemand wähnen, menschliches Empfinden in Wahrheit zu verstehen,
wenn es nicht in seinen allgemeinen Voraussetzungen dem seinen konform ist.


Dichtung und Gegenwart.

innere Gewißheit, auf dem rechten Wege zu sein, giebt ihm nicht nur eine mäch¬
tige, durch garnichts zu ersetzende Resonanz, sondern verleiht auch seinen Werken
in den Augen der Zeitgenossen eine fast an die religiöse streifende Bedeutung.
Heute sind nicht einmal die elementarsten ethischen Grundsätze Gemeingut der
Nation; der Dichter soll das moralische Gewissen der Zeit, eine Art von Welt-
uemesis sein, und ist nicht auf eine Sekunde sicher, im Sinne der Zeitgenossen
zu sprechen und zu urteilen. Der Einwand liegt nahe, daß es ja dessen auch
nicht bedürfe, sobald er nur selbst eine feste sittliche Basis besitze, diese mit
Begeisterung festhalte und so in seine Figuren überpflanze. Das ist nicht richtig.
Ein individueller sittlicher Maßstab hat, eben weil er individuell ist, stets etwas
bewußt zurecht Gemachtes, Absichtliches, Willkürliches. Mag immerhin ein
Teil der Leser auf demselben Standpunkte stehen: der Eindruck des unmittelbar
aus dem Göttlichen quellenden Sittengesetzes und der daraus resultirenden furcht¬
baren Verantwortlichkeit geht unter allen Umständen verloren. Und er gerade
ist es, der den heiligen Schauer, die x«^«^>c7tL verursacht, um derentwillen wir
ein Dichterwerk über andre erheben. Bleichsüchtige Figuren werden geschaffen,
deren Konflikte nicht im Auflehnen gegen eine sittliche Weltordnung, sondern
in einem Verfehlen des rechten Weges bestehen; blinde Wanderer, die im Umher¬
tappen sich an Steinen und Mauern stoßen. Selbst eine mächtige dichterische
Persönlichkeit, die allen Zweifel in sich überwunden hat und deren ethischer
Grund und Boden ihr organisch im Bewußtsein verschmolzen ist: auch sie würde
moderne Menschen immer in dieser unseligen Unsicherheit befangen darstellen
müssen. Reine und in ihrer Einfachheit erhabene Konflikte — nur Lear sei als
Beispiel genannt — würden ihm nur durch Zurückgehen in eine phantastische
Vergangenheit möglich werden. Das ist bei Shakespeare freilich auch der Fall,
aber aus sehr andern Gründen.

So gäbe es denn nur den Ausweg, die Gegenwart ganz ruhen zu lassen
und poetische Objekte in vergangenen Epochen zu suchen. Ist damit wirklich
etwas gewonnen? Wird ein dichterisches Talent vermessen genug sein, die
Reproduktion vergangener Stoffe in der Weltanschauung ihrer Zeit zu ver¬
suchen? Ein wirklich dichterisches Talent, das eine ehrfurchtsvolle Pietät gegen
das Individuelle besitzt und sich schämt, jenen keiner Zeit angehörigen und
psychologisch unsinnigen Mischmasch zu tage zu fördern, mit dem unsre mo¬
dernsten Dichterlinge uns aufzuwarten belieben? Der wirkliche Dichter stattet
seine Figuren nur mit dem aus, was er selbst als seelisches Eigentum besitzt,
nicht mit dem, was er sich verstandesmäßig als Kenntnisse angeeignet hat,
daher denn auch alle großen Dichter, wo sie Vergangenes darstellen, immer
Menschen ihrer Zeit schildern. Will der moderne Dichter so verfahren, so ge¬
winnt er also nichts: seine ethische Subjektivität begleitet ihn überall hin. Und
möge doch niemand wähnen, menschliches Empfinden in Wahrheit zu verstehen,
wenn es nicht in seinen allgemeinen Voraussetzungen dem seinen konform ist.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0186" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157111"/>
          <fw type="header" place="top"> Dichtung und Gegenwart.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_649" prev="#ID_648"> innere Gewißheit, auf dem rechten Wege zu sein, giebt ihm nicht nur eine mäch¬<lb/>
tige, durch garnichts zu ersetzende Resonanz, sondern verleiht auch seinen Werken<lb/>
in den Augen der Zeitgenossen eine fast an die religiöse streifende Bedeutung.<lb/>
Heute sind nicht einmal die elementarsten ethischen Grundsätze Gemeingut der<lb/>
Nation; der Dichter soll das moralische Gewissen der Zeit, eine Art von Welt-<lb/>
uemesis sein, und ist nicht auf eine Sekunde sicher, im Sinne der Zeitgenossen<lb/>
zu sprechen und zu urteilen. Der Einwand liegt nahe, daß es ja dessen auch<lb/>
nicht bedürfe, sobald er nur selbst eine feste sittliche Basis besitze, diese mit<lb/>
Begeisterung festhalte und so in seine Figuren überpflanze. Das ist nicht richtig.<lb/>
Ein individueller sittlicher Maßstab hat, eben weil er individuell ist, stets etwas<lb/>
bewußt zurecht Gemachtes, Absichtliches, Willkürliches. Mag immerhin ein<lb/>
Teil der Leser auf demselben Standpunkte stehen: der Eindruck des unmittelbar<lb/>
aus dem Göttlichen quellenden Sittengesetzes und der daraus resultirenden furcht¬<lb/>
baren Verantwortlichkeit geht unter allen Umständen verloren. Und er gerade<lb/>
ist es, der den heiligen Schauer, die x«^«^&gt;c7tL verursacht, um derentwillen wir<lb/>
ein Dichterwerk über andre erheben. Bleichsüchtige Figuren werden geschaffen,<lb/>
deren Konflikte nicht im Auflehnen gegen eine sittliche Weltordnung, sondern<lb/>
in einem Verfehlen des rechten Weges bestehen; blinde Wanderer, die im Umher¬<lb/>
tappen sich an Steinen und Mauern stoßen. Selbst eine mächtige dichterische<lb/>
Persönlichkeit, die allen Zweifel in sich überwunden hat und deren ethischer<lb/>
Grund und Boden ihr organisch im Bewußtsein verschmolzen ist: auch sie würde<lb/>
moderne Menschen immer in dieser unseligen Unsicherheit befangen darstellen<lb/>
müssen. Reine und in ihrer Einfachheit erhabene Konflikte &#x2014; nur Lear sei als<lb/>
Beispiel genannt &#x2014; würden ihm nur durch Zurückgehen in eine phantastische<lb/>
Vergangenheit möglich werden. Das ist bei Shakespeare freilich auch der Fall,<lb/>
aber aus sehr andern Gründen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_650"> So gäbe es denn nur den Ausweg, die Gegenwart ganz ruhen zu lassen<lb/>
und poetische Objekte in vergangenen Epochen zu suchen. Ist damit wirklich<lb/>
etwas gewonnen? Wird ein dichterisches Talent vermessen genug sein, die<lb/>
Reproduktion vergangener Stoffe in der Weltanschauung ihrer Zeit zu ver¬<lb/>
suchen? Ein wirklich dichterisches Talent, das eine ehrfurchtsvolle Pietät gegen<lb/>
das Individuelle besitzt und sich schämt, jenen keiner Zeit angehörigen und<lb/>
psychologisch unsinnigen Mischmasch zu tage zu fördern, mit dem unsre mo¬<lb/>
dernsten Dichterlinge uns aufzuwarten belieben? Der wirkliche Dichter stattet<lb/>
seine Figuren nur mit dem aus, was er selbst als seelisches Eigentum besitzt,<lb/>
nicht mit dem, was er sich verstandesmäßig als Kenntnisse angeeignet hat,<lb/>
daher denn auch alle großen Dichter, wo sie Vergangenes darstellen, immer<lb/>
Menschen ihrer Zeit schildern. Will der moderne Dichter so verfahren, so ge¬<lb/>
winnt er also nichts: seine ethische Subjektivität begleitet ihn überall hin. Und<lb/>
möge doch niemand wähnen, menschliches Empfinden in Wahrheit zu verstehen,<lb/>
wenn es nicht in seinen allgemeinen Voraussetzungen dem seinen konform ist.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0186] Dichtung und Gegenwart. innere Gewißheit, auf dem rechten Wege zu sein, giebt ihm nicht nur eine mäch¬ tige, durch garnichts zu ersetzende Resonanz, sondern verleiht auch seinen Werken in den Augen der Zeitgenossen eine fast an die religiöse streifende Bedeutung. Heute sind nicht einmal die elementarsten ethischen Grundsätze Gemeingut der Nation; der Dichter soll das moralische Gewissen der Zeit, eine Art von Welt- uemesis sein, und ist nicht auf eine Sekunde sicher, im Sinne der Zeitgenossen zu sprechen und zu urteilen. Der Einwand liegt nahe, daß es ja dessen auch nicht bedürfe, sobald er nur selbst eine feste sittliche Basis besitze, diese mit Begeisterung festhalte und so in seine Figuren überpflanze. Das ist nicht richtig. Ein individueller sittlicher Maßstab hat, eben weil er individuell ist, stets etwas bewußt zurecht Gemachtes, Absichtliches, Willkürliches. Mag immerhin ein Teil der Leser auf demselben Standpunkte stehen: der Eindruck des unmittelbar aus dem Göttlichen quellenden Sittengesetzes und der daraus resultirenden furcht¬ baren Verantwortlichkeit geht unter allen Umständen verloren. Und er gerade ist es, der den heiligen Schauer, die x«^«^>c7tL verursacht, um derentwillen wir ein Dichterwerk über andre erheben. Bleichsüchtige Figuren werden geschaffen, deren Konflikte nicht im Auflehnen gegen eine sittliche Weltordnung, sondern in einem Verfehlen des rechten Weges bestehen; blinde Wanderer, die im Umher¬ tappen sich an Steinen und Mauern stoßen. Selbst eine mächtige dichterische Persönlichkeit, die allen Zweifel in sich überwunden hat und deren ethischer Grund und Boden ihr organisch im Bewußtsein verschmolzen ist: auch sie würde moderne Menschen immer in dieser unseligen Unsicherheit befangen darstellen müssen. Reine und in ihrer Einfachheit erhabene Konflikte — nur Lear sei als Beispiel genannt — würden ihm nur durch Zurückgehen in eine phantastische Vergangenheit möglich werden. Das ist bei Shakespeare freilich auch der Fall, aber aus sehr andern Gründen. So gäbe es denn nur den Ausweg, die Gegenwart ganz ruhen zu lassen und poetische Objekte in vergangenen Epochen zu suchen. Ist damit wirklich etwas gewonnen? Wird ein dichterisches Talent vermessen genug sein, die Reproduktion vergangener Stoffe in der Weltanschauung ihrer Zeit zu ver¬ suchen? Ein wirklich dichterisches Talent, das eine ehrfurchtsvolle Pietät gegen das Individuelle besitzt und sich schämt, jenen keiner Zeit angehörigen und psychologisch unsinnigen Mischmasch zu tage zu fördern, mit dem unsre mo¬ dernsten Dichterlinge uns aufzuwarten belieben? Der wirkliche Dichter stattet seine Figuren nur mit dem aus, was er selbst als seelisches Eigentum besitzt, nicht mit dem, was er sich verstandesmäßig als Kenntnisse angeeignet hat, daher denn auch alle großen Dichter, wo sie Vergangenes darstellen, immer Menschen ihrer Zeit schildern. Will der moderne Dichter so verfahren, so ge¬ winnt er also nichts: seine ethische Subjektivität begleitet ihn überall hin. Und möge doch niemand wähnen, menschliches Empfinden in Wahrheit zu verstehen, wenn es nicht in seinen allgemeinen Voraussetzungen dem seinen konform ist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/186
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/186>, abgerufen am 29.12.2024.