Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.Dichtung und Gegenwart, Worauf es ankommt, ist stets das eine: die ethischen Konflikte der Gegen¬ Eine Frage, die unabhängig ist von allen hemmenden oder fördernden Dichtung und Gegenwart, Worauf es ankommt, ist stets das eine: die ethischen Konflikte der Gegen¬ Eine Frage, die unabhängig ist von allen hemmenden oder fördernden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0187" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/157112"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Gegenwart,</fw><lb/> <p xml:id="ID_651"> Worauf es ankommt, ist stets das eine: die ethischen Konflikte der Gegen¬<lb/> wart auszugleichen und uns Personen von tiefgegründeter, aus den Wurzeln<lb/> unsrer Zeit emporgediehener Weltanschauung vorzuführen, nach denen sich die<lb/> nachempfindenden Gebildeten die ihrige erbauen mögen. Das war und ist noch<lb/> immer die Aufgabe großer dichterischer Genies. Bei ihnen ist es aber deshalb<lb/> ohne Bedeutung, ob sie ihre Stoffe aus Vergangenheit oder Gegenwart nehmen:<lb/> immer ist ihre seelische Füllung die der Zukunft. In diesem Sinne hat man<lb/> die Dichter Propheten genannt. Mag jedermann aus den Bedenken, die wir<lb/> bisher geäußert, selbst die Wahrscheinlichkeit ermessen, mit der wir auf das baldige<lb/> Erscheinen eines solchen, in Wahrheit erlösenden Genius rechnen können. Er¬<lb/> lösend, denn indem er ein ethisches Weltgesetz nicht in abstrakter Form als Sitten¬<lb/> gebot, sondern in oonorsw und leicht ersichtlicher Nutzanwendung vorführt,<lb/> nimmt er die harrenden Gemüter im Sturm ein und erzieht sie zum Handeln.</p><lb/> <p xml:id="ID_652" next="#ID_653"> Eine Frage, die unabhängig ist von allen hemmenden oder fördernden<lb/> Einflüssen der Gegenwart auf die Dichtkunst, und die doch sehr intim die Be¬<lb/> ziehungen zwischen beiden betrifft, muß uns zum Schluß noch beschäftigen. Mag<lb/> nämlich der allgemeine Modus menschlichen Empfindens und Handelns sich ge¬<lb/> stalten, wie er will: die Art und Weise, beides anzusehen und zu beurteilen,<lb/> wechselt mit der Richtung, der das geistige Leben im allgemeinen folgt, und<lb/> involvirt für den Dichter die Aufgabe, seine Reproduktionen der Wirklichkeit<lb/> unbeschadet der ästhetischen Gesetze so zu gestalten, daß sie der Denkweise der<lb/> Zeit einigermaßen entsprechen. Damit ist nicht gemeint, daß der Dichter den<lb/> Strömungen der jeweiligen Weltanschauung folgen soll; im Gegenteil kann er<lb/> nur dann Anspruch auf Wertschätzung machen, wenn er die seinige unverrückt<lb/> festhält. Aber da er zu den Gemütern der Menschen sprechen will, muß er<lb/> Sorge tragen, sie sich zu öffnen; wenn er nicht die geniale Kraft besitzt, neue<lb/> Wege zu bahnen und alles zur Gefolgschaft zu zwingen, so thut er gut, die Dinge<lb/> von derjenigen Seite zu zeigen, welche dem allgemeinen Bewußtsein für die inter¬<lb/> essanteste gilt. Diese Rücksicht auf die Geistesrichtung der Mitlebenden zwingt<lb/> ihn hie und da zu Abänderungen in der Technik seiner Dichtungsformen, die<lb/> denselben kaum minder als ihr Inhalt den Stempel des Zeitalters aufdrücken.<lb/> Für die Gegenwart auch in diesem Sinne das Charakteristische die Betonung<lb/> der Individualität, deren Begriff viel lebhafter in den Köpfen spukt, als ihrer<lb/> thatsächlichen Ausbildung im handelnden Leben entspricht. Besonders für das<lb/> Drama ist diese moderne Geistesrichtung verhängnisvoll. Seit Shakespeare die<lb/> psychologische Vertiefung ohnehin für die vonäitio sins aus, moll jeder drama¬<lb/> tischen Dichtung haltend, ist jeder Einsichtige von der Knappheit der zugemessenen<lb/> Form — im Maximum fünf Akte in 3 bis 3^ Büynenstunden — überzeugt.<lb/> Fast scheint es unmöglich, hier noch mehr zu thun, wenn auch nur quantitativ,<lb/> als Shakespeare und etwa auch die Nebenpersonen seelisch gründlicher als bisher<lb/> zu motiviren oder — und das würde dem modernen Bewußtsein vielleicht noch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0187]
Dichtung und Gegenwart,
Worauf es ankommt, ist stets das eine: die ethischen Konflikte der Gegen¬
wart auszugleichen und uns Personen von tiefgegründeter, aus den Wurzeln
unsrer Zeit emporgediehener Weltanschauung vorzuführen, nach denen sich die
nachempfindenden Gebildeten die ihrige erbauen mögen. Das war und ist noch
immer die Aufgabe großer dichterischer Genies. Bei ihnen ist es aber deshalb
ohne Bedeutung, ob sie ihre Stoffe aus Vergangenheit oder Gegenwart nehmen:
immer ist ihre seelische Füllung die der Zukunft. In diesem Sinne hat man
die Dichter Propheten genannt. Mag jedermann aus den Bedenken, die wir
bisher geäußert, selbst die Wahrscheinlichkeit ermessen, mit der wir auf das baldige
Erscheinen eines solchen, in Wahrheit erlösenden Genius rechnen können. Er¬
lösend, denn indem er ein ethisches Weltgesetz nicht in abstrakter Form als Sitten¬
gebot, sondern in oonorsw und leicht ersichtlicher Nutzanwendung vorführt,
nimmt er die harrenden Gemüter im Sturm ein und erzieht sie zum Handeln.
Eine Frage, die unabhängig ist von allen hemmenden oder fördernden
Einflüssen der Gegenwart auf die Dichtkunst, und die doch sehr intim die Be¬
ziehungen zwischen beiden betrifft, muß uns zum Schluß noch beschäftigen. Mag
nämlich der allgemeine Modus menschlichen Empfindens und Handelns sich ge¬
stalten, wie er will: die Art und Weise, beides anzusehen und zu beurteilen,
wechselt mit der Richtung, der das geistige Leben im allgemeinen folgt, und
involvirt für den Dichter die Aufgabe, seine Reproduktionen der Wirklichkeit
unbeschadet der ästhetischen Gesetze so zu gestalten, daß sie der Denkweise der
Zeit einigermaßen entsprechen. Damit ist nicht gemeint, daß der Dichter den
Strömungen der jeweiligen Weltanschauung folgen soll; im Gegenteil kann er
nur dann Anspruch auf Wertschätzung machen, wenn er die seinige unverrückt
festhält. Aber da er zu den Gemütern der Menschen sprechen will, muß er
Sorge tragen, sie sich zu öffnen; wenn er nicht die geniale Kraft besitzt, neue
Wege zu bahnen und alles zur Gefolgschaft zu zwingen, so thut er gut, die Dinge
von derjenigen Seite zu zeigen, welche dem allgemeinen Bewußtsein für die inter¬
essanteste gilt. Diese Rücksicht auf die Geistesrichtung der Mitlebenden zwingt
ihn hie und da zu Abänderungen in der Technik seiner Dichtungsformen, die
denselben kaum minder als ihr Inhalt den Stempel des Zeitalters aufdrücken.
Für die Gegenwart auch in diesem Sinne das Charakteristische die Betonung
der Individualität, deren Begriff viel lebhafter in den Köpfen spukt, als ihrer
thatsächlichen Ausbildung im handelnden Leben entspricht. Besonders für das
Drama ist diese moderne Geistesrichtung verhängnisvoll. Seit Shakespeare die
psychologische Vertiefung ohnehin für die vonäitio sins aus, moll jeder drama¬
tischen Dichtung haltend, ist jeder Einsichtige von der Knappheit der zugemessenen
Form — im Maximum fünf Akte in 3 bis 3^ Büynenstunden — überzeugt.
Fast scheint es unmöglich, hier noch mehr zu thun, wenn auch nur quantitativ,
als Shakespeare und etwa auch die Nebenpersonen seelisch gründlicher als bisher
zu motiviren oder — und das würde dem modernen Bewußtsein vielleicht noch
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