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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Dichtung und Gegenwart.

Freude daran, die geheimnisvollen Regungen des Gemüts unter allgemeine
Naturgesetze zu bringen, noch ehe die Resultate der Wissenschaft dazu nötigen,
und diese Wissenschaft selbst sträubt sich aufs hartnäckigste, den Mechanismus
als äußere Form eines Geschehens aufzufassen, dessen Gesetz und Ursprung über
das Erklärbare hinausreicht. Und doch wird in Zukunft diese Erkenntnis dazu
berufen sein, die Bedürfnisse des Gemüts zu stillen und den gleichmäßig unter
die Räder des Weltmechanismus gezogenen Einzeldingen ihre individuelle Be¬
deutung im Sinne jenes letzten Urgrundes alles Geschehens wiederzugeben.

In einer Gesellschaft, wie die, deren seelische Physiognomie wir eben
zu skizziren versuchten, soll nun ein keimendes Dichtertalent Anregungen
empfangen, von ihr soll es seine Stoffe nehmen, ihr soll es seine Arbeiten
zur künstlerischen Erbauung geben, ans ihr soll ihm zu Lohn und weiterer
Anregung ein lautes Echo erklingen. Die Einseitigkeiten im Gange der
modernen Erziehung mag es mit einiger Charakterstärke -- und ohne Charakter
ist das Talent überhaupt verloren -- unter fortgesetzten Kämpfen überwinden
und sich, der Vielseitigkeit seiner seelischen Irritabilität entsprechend, die
idealen Triebe seiner Natur festigen und veredeln. Mit angeborenem Geschick
mag es ferner an den Dingen frühzeitig die individuellen Züge erfassen und
sich so eine dichterische, von der gebräuchlichen weit abweichende Weltansicht
bilden. Nun aber soll es produziren, und seine Lehrmeisterin bleibt unter
allen Umständen die wirkliche Welt, weil sie allein ihm die Bedingungen
und den Modus des Geschehens, also das Kriterium der Naturwahrheit, in
genügender Stärke und Deutlichkeit giebt. Was ist nun der Kern aller dichte¬
rischen Stoffe? Lyrik, Roman und Novelle, Drama: sie alle entfalten wer¬
dende Handlung und ihre Reflexe auf die Menschenseele, oder lediglich Reflexe,
die ein außerhalb der dichterischen Darstellung abgelaufenes Geschehen geworfen
hat. Immer also ist eine bestimmte ethische Stellungnahme zu den jeweiligen
Objekten unerläßlich, weil der moderne Dichter nicht mehr naiv erzählen kann,
sondern das Lebensschicksal seiner Figuren in irgendeiner Weise mit ihrer aktiven
und passiven Stellung zur Welt in Kausalzusammenhang bringen muß. Nun
sind bisher noch immer die Epochen hochbedeutender dichterischer Produktion
mit Zeiten zusammengefallen, in denen, aus welchen Gründen auch immer, ein
mächtiges ethisches Pathos die Welt durchströmte. So in dem aufblühenden
Selbstbewußtsein hellenischen Geistes nach Niederwerfung des orientalischen in
den Perserkriegen, so in der Shakespeareschen Dichtung nach der Wiedergeburt
des freien menschlichen Bewußtseins durch die Reformation, so in der Goethe-
Schillerschen Periode bei der Geburt des modernen Weltbewußtseins. In solchen
Zeiten durchdringen bestimmte sittliche Gesetze, Normen für das Handeln und
Benrteiluugsweisen des Geschehenden mit hinreißender Gewalt jedwede Em¬
pfindung; der Dichter erfaßt sie, prägt sie in seinen Charakteren aus, stellt sie
rein und ehrwürdig in der Konstruktion seiner Stoffe dar, und die begeisterte


Grenzboten IV. 28
Dichtung und Gegenwart.

Freude daran, die geheimnisvollen Regungen des Gemüts unter allgemeine
Naturgesetze zu bringen, noch ehe die Resultate der Wissenschaft dazu nötigen,
und diese Wissenschaft selbst sträubt sich aufs hartnäckigste, den Mechanismus
als äußere Form eines Geschehens aufzufassen, dessen Gesetz und Ursprung über
das Erklärbare hinausreicht. Und doch wird in Zukunft diese Erkenntnis dazu
berufen sein, die Bedürfnisse des Gemüts zu stillen und den gleichmäßig unter
die Räder des Weltmechanismus gezogenen Einzeldingen ihre individuelle Be¬
deutung im Sinne jenes letzten Urgrundes alles Geschehens wiederzugeben.

In einer Gesellschaft, wie die, deren seelische Physiognomie wir eben
zu skizziren versuchten, soll nun ein keimendes Dichtertalent Anregungen
empfangen, von ihr soll es seine Stoffe nehmen, ihr soll es seine Arbeiten
zur künstlerischen Erbauung geben, ans ihr soll ihm zu Lohn und weiterer
Anregung ein lautes Echo erklingen. Die Einseitigkeiten im Gange der
modernen Erziehung mag es mit einiger Charakterstärke — und ohne Charakter
ist das Talent überhaupt verloren — unter fortgesetzten Kämpfen überwinden
und sich, der Vielseitigkeit seiner seelischen Irritabilität entsprechend, die
idealen Triebe seiner Natur festigen und veredeln. Mit angeborenem Geschick
mag es ferner an den Dingen frühzeitig die individuellen Züge erfassen und
sich so eine dichterische, von der gebräuchlichen weit abweichende Weltansicht
bilden. Nun aber soll es produziren, und seine Lehrmeisterin bleibt unter
allen Umständen die wirkliche Welt, weil sie allein ihm die Bedingungen
und den Modus des Geschehens, also das Kriterium der Naturwahrheit, in
genügender Stärke und Deutlichkeit giebt. Was ist nun der Kern aller dichte¬
rischen Stoffe? Lyrik, Roman und Novelle, Drama: sie alle entfalten wer¬
dende Handlung und ihre Reflexe auf die Menschenseele, oder lediglich Reflexe,
die ein außerhalb der dichterischen Darstellung abgelaufenes Geschehen geworfen
hat. Immer also ist eine bestimmte ethische Stellungnahme zu den jeweiligen
Objekten unerläßlich, weil der moderne Dichter nicht mehr naiv erzählen kann,
sondern das Lebensschicksal seiner Figuren in irgendeiner Weise mit ihrer aktiven
und passiven Stellung zur Welt in Kausalzusammenhang bringen muß. Nun
sind bisher noch immer die Epochen hochbedeutender dichterischer Produktion
mit Zeiten zusammengefallen, in denen, aus welchen Gründen auch immer, ein
mächtiges ethisches Pathos die Welt durchströmte. So in dem aufblühenden
Selbstbewußtsein hellenischen Geistes nach Niederwerfung des orientalischen in
den Perserkriegen, so in der Shakespeareschen Dichtung nach der Wiedergeburt
des freien menschlichen Bewußtseins durch die Reformation, so in der Goethe-
Schillerschen Periode bei der Geburt des modernen Weltbewußtseins. In solchen
Zeiten durchdringen bestimmte sittliche Gesetze, Normen für das Handeln und
Benrteiluugsweisen des Geschehenden mit hinreißender Gewalt jedwede Em¬
pfindung; der Dichter erfaßt sie, prägt sie in seinen Charakteren aus, stellt sie
rein und ehrwürdig in der Konstruktion seiner Stoffe dar, und die begeisterte


Grenzboten IV. 28
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[0185] Dichtung und Gegenwart. Freude daran, die geheimnisvollen Regungen des Gemüts unter allgemeine Naturgesetze zu bringen, noch ehe die Resultate der Wissenschaft dazu nötigen, und diese Wissenschaft selbst sträubt sich aufs hartnäckigste, den Mechanismus als äußere Form eines Geschehens aufzufassen, dessen Gesetz und Ursprung über das Erklärbare hinausreicht. Und doch wird in Zukunft diese Erkenntnis dazu berufen sein, die Bedürfnisse des Gemüts zu stillen und den gleichmäßig unter die Räder des Weltmechanismus gezogenen Einzeldingen ihre individuelle Be¬ deutung im Sinne jenes letzten Urgrundes alles Geschehens wiederzugeben. In einer Gesellschaft, wie die, deren seelische Physiognomie wir eben zu skizziren versuchten, soll nun ein keimendes Dichtertalent Anregungen empfangen, von ihr soll es seine Stoffe nehmen, ihr soll es seine Arbeiten zur künstlerischen Erbauung geben, ans ihr soll ihm zu Lohn und weiterer Anregung ein lautes Echo erklingen. Die Einseitigkeiten im Gange der modernen Erziehung mag es mit einiger Charakterstärke — und ohne Charakter ist das Talent überhaupt verloren — unter fortgesetzten Kämpfen überwinden und sich, der Vielseitigkeit seiner seelischen Irritabilität entsprechend, die idealen Triebe seiner Natur festigen und veredeln. Mit angeborenem Geschick mag es ferner an den Dingen frühzeitig die individuellen Züge erfassen und sich so eine dichterische, von der gebräuchlichen weit abweichende Weltansicht bilden. Nun aber soll es produziren, und seine Lehrmeisterin bleibt unter allen Umständen die wirkliche Welt, weil sie allein ihm die Bedingungen und den Modus des Geschehens, also das Kriterium der Naturwahrheit, in genügender Stärke und Deutlichkeit giebt. Was ist nun der Kern aller dichte¬ rischen Stoffe? Lyrik, Roman und Novelle, Drama: sie alle entfalten wer¬ dende Handlung und ihre Reflexe auf die Menschenseele, oder lediglich Reflexe, die ein außerhalb der dichterischen Darstellung abgelaufenes Geschehen geworfen hat. Immer also ist eine bestimmte ethische Stellungnahme zu den jeweiligen Objekten unerläßlich, weil der moderne Dichter nicht mehr naiv erzählen kann, sondern das Lebensschicksal seiner Figuren in irgendeiner Weise mit ihrer aktiven und passiven Stellung zur Welt in Kausalzusammenhang bringen muß. Nun sind bisher noch immer die Epochen hochbedeutender dichterischer Produktion mit Zeiten zusammengefallen, in denen, aus welchen Gründen auch immer, ein mächtiges ethisches Pathos die Welt durchströmte. So in dem aufblühenden Selbstbewußtsein hellenischen Geistes nach Niederwerfung des orientalischen in den Perserkriegen, so in der Shakespeareschen Dichtung nach der Wiedergeburt des freien menschlichen Bewußtseins durch die Reformation, so in der Goethe- Schillerschen Periode bei der Geburt des modernen Weltbewußtseins. In solchen Zeiten durchdringen bestimmte sittliche Gesetze, Normen für das Handeln und Benrteiluugsweisen des Geschehenden mit hinreißender Gewalt jedwede Em¬ pfindung; der Dichter erfaßt sie, prägt sie in seinen Charakteren aus, stellt sie rein und ehrwürdig in der Konstruktion seiner Stoffe dar, und die begeisterte Grenzboten IV. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/185>, abgerufen am 29.12.2024.