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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Dichtung und Gegenwart.

tief genug und sind nicht konsequent genug durchdacht, um auf die sittliche
Regelung des Lebens einen Einfluß zu üben. Der Rest klammert sich, mit
seinen, innern Leben es ernstlich nehmend und an der sittlichen Autonomie des
Menschen verzagend, fest an die überlieferte kirchliche Dogmatik. Nur ein ganz
kleiner Teil sucht mit eigenem Denken an ein letztes metaphysisches Prinzip
ethische Gesetze anzuknüpfen und eine wirklich individuelle Lösung der modernen
religiösen Fragen herbeizuführen. Ein festes sittliches Zentrum, aus dem die
Handlungen quellen, haben eben nur die beiden letzten, und nichts ist auffäl¬
liger, als das Zurückbleiben und die Fruchtlosigkeit in der Bearbeitung dieser
religiös-sittlichen Gebiete, während auf allen andern eine Hochflut geistiger
Thätigkeit -- freilich vielfach auch mehr stagnirt als wirkt.

Und nun ein Individuum ohne bewußte Klarstellung und Festhaltung
dieses Kerns alles Menschlichen! Was den Kurzsichtigen unter uns einen hoch¬
entwickelten Individualismus vortäuscht, ist die Abneigung des modernen Men¬
schen, sich irgendeiner Autorität zu fügen, die er sich nicht selbst geschaffen hat.
Es ist freilich unleugbar, daß trotz aller besprochenen Hemmnisse die Ausbil¬
dung des persönlichen Elements gegen die meisten der früheren Epochen fort¬
geschritten ist. Recht und Gesetz, wie Gebrauch und Sitte erkennen den Wert
der Persönlichkeit an; das Prinzip ist auf die Fahne des Jahrhunderts ge¬
schrieben und das Bewußtsein seiner Individualität trägt jeder mit sich herum.
Nur daß die Wirklichkeit diesem Bewußtsein nicht enspricht, und daß vor der
Hand dasselbe, oft genug am unrechten Orte und in der falschen Weise auf¬
tretend, viele der wunderlichsten Krankheitserscheinungen der Zeit verursacht.

Wer sich selbst wirklich und mit Grund als Individuum fühlt, pflegt auch
andre -- Personen und Dinge -- daraufhin anzusehen. Bei uns aber arbeitet
die herrschende mechanische Weltanschauung dem gerade entgegen. Die Be¬
herrschung des modernen Geistes durch die Naturwissenschaften involoirte diese
Anschauungsweise durchaus nicht mit Notwendigkeit, und wenn sie gleich auf
naturwissenschaftlichem Gebiete selbst unabsehbare Vorzüge bot, so war durch
nichts ursprünglich die Veranlassung geboten, sie auf andre Gebiete des Lebens
zu übertragen. Dem Mechanismus sind die Dinge nicht Individuen, sondern
Zahlen und Kraftwerte, und daß der öffentliche Geist sich nicht gegen die Über¬
tragung dieser geistlosesten und oberflächlichsten aller Betrachtungsweisen gesträubt
hat, beweist am besten, wie wenig die Menschen noch gewohnt sind, in Gegen¬
ständen außer ihnen Objekte voll Besonderheit und unantastbarer Innerlichkeit,
also Individuen, zu sehen. Hat sich doch die mechanische Vorstellungsweise auch
tief in die Fragen des Gemüts eingefressen, alle Zartheit der Empfindung
ködert und den gesamten Inhalt des Lebens aufs schnödeste verflachend.
Die Alten haben sogar die unbewußt verlaufenden Naturvorgänge durch Ein¬
führung menschlich-göttlichen Seelenlebens vertieft und individualisirt, in Najaden,
Dryaden, Liebesgöttern. Die Modernen verfahren umgekehrt; sie finden ihre


Dichtung und Gegenwart.

tief genug und sind nicht konsequent genug durchdacht, um auf die sittliche
Regelung des Lebens einen Einfluß zu üben. Der Rest klammert sich, mit
seinen, innern Leben es ernstlich nehmend und an der sittlichen Autonomie des
Menschen verzagend, fest an die überlieferte kirchliche Dogmatik. Nur ein ganz
kleiner Teil sucht mit eigenem Denken an ein letztes metaphysisches Prinzip
ethische Gesetze anzuknüpfen und eine wirklich individuelle Lösung der modernen
religiösen Fragen herbeizuführen. Ein festes sittliches Zentrum, aus dem die
Handlungen quellen, haben eben nur die beiden letzten, und nichts ist auffäl¬
liger, als das Zurückbleiben und die Fruchtlosigkeit in der Bearbeitung dieser
religiös-sittlichen Gebiete, während auf allen andern eine Hochflut geistiger
Thätigkeit — freilich vielfach auch mehr stagnirt als wirkt.

Und nun ein Individuum ohne bewußte Klarstellung und Festhaltung
dieses Kerns alles Menschlichen! Was den Kurzsichtigen unter uns einen hoch¬
entwickelten Individualismus vortäuscht, ist die Abneigung des modernen Men¬
schen, sich irgendeiner Autorität zu fügen, die er sich nicht selbst geschaffen hat.
Es ist freilich unleugbar, daß trotz aller besprochenen Hemmnisse die Ausbil¬
dung des persönlichen Elements gegen die meisten der früheren Epochen fort¬
geschritten ist. Recht und Gesetz, wie Gebrauch und Sitte erkennen den Wert
der Persönlichkeit an; das Prinzip ist auf die Fahne des Jahrhunderts ge¬
schrieben und das Bewußtsein seiner Individualität trägt jeder mit sich herum.
Nur daß die Wirklichkeit diesem Bewußtsein nicht enspricht, und daß vor der
Hand dasselbe, oft genug am unrechten Orte und in der falschen Weise auf¬
tretend, viele der wunderlichsten Krankheitserscheinungen der Zeit verursacht.

Wer sich selbst wirklich und mit Grund als Individuum fühlt, pflegt auch
andre — Personen und Dinge — daraufhin anzusehen. Bei uns aber arbeitet
die herrschende mechanische Weltanschauung dem gerade entgegen. Die Be¬
herrschung des modernen Geistes durch die Naturwissenschaften involoirte diese
Anschauungsweise durchaus nicht mit Notwendigkeit, und wenn sie gleich auf
naturwissenschaftlichem Gebiete selbst unabsehbare Vorzüge bot, so war durch
nichts ursprünglich die Veranlassung geboten, sie auf andre Gebiete des Lebens
zu übertragen. Dem Mechanismus sind die Dinge nicht Individuen, sondern
Zahlen und Kraftwerte, und daß der öffentliche Geist sich nicht gegen die Über¬
tragung dieser geistlosesten und oberflächlichsten aller Betrachtungsweisen gesträubt
hat, beweist am besten, wie wenig die Menschen noch gewohnt sind, in Gegen¬
ständen außer ihnen Objekte voll Besonderheit und unantastbarer Innerlichkeit,
also Individuen, zu sehen. Hat sich doch die mechanische Vorstellungsweise auch
tief in die Fragen des Gemüts eingefressen, alle Zartheit der Empfindung
ködert und den gesamten Inhalt des Lebens aufs schnödeste verflachend.
Die Alten haben sogar die unbewußt verlaufenden Naturvorgänge durch Ein¬
führung menschlich-göttlichen Seelenlebens vertieft und individualisirt, in Najaden,
Dryaden, Liebesgöttern. Die Modernen verfahren umgekehrt; sie finden ihre


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[0184] Dichtung und Gegenwart. tief genug und sind nicht konsequent genug durchdacht, um auf die sittliche Regelung des Lebens einen Einfluß zu üben. Der Rest klammert sich, mit seinen, innern Leben es ernstlich nehmend und an der sittlichen Autonomie des Menschen verzagend, fest an die überlieferte kirchliche Dogmatik. Nur ein ganz kleiner Teil sucht mit eigenem Denken an ein letztes metaphysisches Prinzip ethische Gesetze anzuknüpfen und eine wirklich individuelle Lösung der modernen religiösen Fragen herbeizuführen. Ein festes sittliches Zentrum, aus dem die Handlungen quellen, haben eben nur die beiden letzten, und nichts ist auffäl¬ liger, als das Zurückbleiben und die Fruchtlosigkeit in der Bearbeitung dieser religiös-sittlichen Gebiete, während auf allen andern eine Hochflut geistiger Thätigkeit — freilich vielfach auch mehr stagnirt als wirkt. Und nun ein Individuum ohne bewußte Klarstellung und Festhaltung dieses Kerns alles Menschlichen! Was den Kurzsichtigen unter uns einen hoch¬ entwickelten Individualismus vortäuscht, ist die Abneigung des modernen Men¬ schen, sich irgendeiner Autorität zu fügen, die er sich nicht selbst geschaffen hat. Es ist freilich unleugbar, daß trotz aller besprochenen Hemmnisse die Ausbil¬ dung des persönlichen Elements gegen die meisten der früheren Epochen fort¬ geschritten ist. Recht und Gesetz, wie Gebrauch und Sitte erkennen den Wert der Persönlichkeit an; das Prinzip ist auf die Fahne des Jahrhunderts ge¬ schrieben und das Bewußtsein seiner Individualität trägt jeder mit sich herum. Nur daß die Wirklichkeit diesem Bewußtsein nicht enspricht, und daß vor der Hand dasselbe, oft genug am unrechten Orte und in der falschen Weise auf¬ tretend, viele der wunderlichsten Krankheitserscheinungen der Zeit verursacht. Wer sich selbst wirklich und mit Grund als Individuum fühlt, pflegt auch andre — Personen und Dinge — daraufhin anzusehen. Bei uns aber arbeitet die herrschende mechanische Weltanschauung dem gerade entgegen. Die Be¬ herrschung des modernen Geistes durch die Naturwissenschaften involoirte diese Anschauungsweise durchaus nicht mit Notwendigkeit, und wenn sie gleich auf naturwissenschaftlichem Gebiete selbst unabsehbare Vorzüge bot, so war durch nichts ursprünglich die Veranlassung geboten, sie auf andre Gebiete des Lebens zu übertragen. Dem Mechanismus sind die Dinge nicht Individuen, sondern Zahlen und Kraftwerte, und daß der öffentliche Geist sich nicht gegen die Über¬ tragung dieser geistlosesten und oberflächlichsten aller Betrachtungsweisen gesträubt hat, beweist am besten, wie wenig die Menschen noch gewohnt sind, in Gegen¬ ständen außer ihnen Objekte voll Besonderheit und unantastbarer Innerlichkeit, also Individuen, zu sehen. Hat sich doch die mechanische Vorstellungsweise auch tief in die Fragen des Gemüts eingefressen, alle Zartheit der Empfindung ködert und den gesamten Inhalt des Lebens aufs schnödeste verflachend. Die Alten haben sogar die unbewußt verlaufenden Naturvorgänge durch Ein¬ führung menschlich-göttlichen Seelenlebens vertieft und individualisirt, in Najaden, Dryaden, Liebesgöttern. Die Modernen verfahren umgekehrt; sie finden ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/184>, abgerufen am 29.12.2024.