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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Cornelius und das Weltgericht.

zur Erscheinung bringen konnte: der Fürst der Hölle mußte zugegen sein, er,
der das Gegenbild Christi ist und, wie dieser über die ganze Welt, so über
die Bösen zu Gericht sitzt und sie der ihnen gebührenden Stelle zuweist, wobei
Cornelius in seltsamer Weise den Damenfeder Minos und dessen Satan in
eine Person verschmolzen hat. Nach alter Tradition hätte der Satan seinen
Platz zur Seite auf einer Fortsetzung des Bildes mit selbständiger Lokalität
haben müssen; Cornelius hat diesen Platz nicht zur Verfügung und setzt den
gerichthaltenden Satan mitten zwischen die Auferstehenden und die zum Himmel
Aufstürmenden hinein und läßt sich auch dadurch nicht irre machen, daß der
Satan nun in denselben Nahmen, dieselbe Lokalität kommt, über welcher wir
Christus walten sehen. Die reale Wahrheit des Vorganges zugegeben -- und
die drastischen Szenen gerade dieser Seite führen mit Notwendigkeit zur Auf¬
stellung dieser dichterischen Forderung --, so ist dies ein schneidender Eingriff
in jede Möglichkeit und Denkbarkeit des Zusammenhanges. Der Satan gehört
nicht über, sondern unter die Erde; er gehört nicht in den Bereich des Waltens
des Erlösers, er muß von ihm getrennt im Reiche der Finsternis sein Wesen
treiben. Es wird aber auch der Zusammenhang des Geschehens selbst gestört.
Wo kommen die oberhalb des Satans kämpfenden, zum Himmel ciufstürmcnden
Auferstandenen her? Die Auferstehung geschieht auf der Erde; hier aber werden
sie von oben herab zum Gerichte des auf der Erde thronenden Satans geschleppt.
Oder hätte man nicht das Recht, so zu fragen? Aber wir stehen vor einem
Kunstwerke, das in der entschiedensten Weise den Anspruch darauf macht, ein
ästhetisches Werk zu sein, das nicht bloß in kindlichen Zügen uns einen Vorgang
andeuten, sondern diesen vor unsern Augen so erscheinen lassen will, daß die Form
der Erscheinung als solche, wenn nicht ausschließlich, so doch ganz wesentlich auf
uns wirkt, welches sich daher nicht bloß an die gläubige Seite, sondern auch,
und ganz besonders, an den formensuchenden Sinn des Auges, an die gestaltungs¬
frohe Phantasie, an das erregnngsbedürftige Herz richtet und deren Sprache
spricht. Diesen Widerspruch hat Cornelius, in dem Bestreben, alles zu geben,
was nach seiner Überzeugung zur Sache gehörte, nicht empfunden; die Beschauer
aber haben ihn empfunden und empfinden ihn immer wieder aufs neue. War
einmal die ästhetische Darstellungsweise gewählt -- und eine andre unsrer Kultur
zumuten zu Wollen, wäre ein Unding gewesen, zudem wollte Cornelius als
Künstler schaffen --, so mußte nicht nur der Grundcharakter gewahrt bleiben,
er mußte vor allen Dingen nicht innerhalb der als wirklich vorausgesetzten,
der Wahl des Künstlers freistehenden Erscheinungswelt die selbstgemachten Vor¬
aussetzungen umstoßen und so, innerhalb des selbstgewählten Gebietes, die
Wahrscheinlichkeit, das Lebenselement des ästhetischen Kunstwerkes, selbst ver¬
nichten. Das Wort: "Im ersten sind wir frei, im zweiten sind wir Knechte"
gilt recht eigentlich für den Künstler; wir gestatten ihm gern die Wahl seines
Gebietes und folgen ihm, allem Naturalismus zum Trotze, gern in erdichtete


Cornelius und das Weltgericht.

zur Erscheinung bringen konnte: der Fürst der Hölle mußte zugegen sein, er,
der das Gegenbild Christi ist und, wie dieser über die ganze Welt, so über
die Bösen zu Gericht sitzt und sie der ihnen gebührenden Stelle zuweist, wobei
Cornelius in seltsamer Weise den Damenfeder Minos und dessen Satan in
eine Person verschmolzen hat. Nach alter Tradition hätte der Satan seinen
Platz zur Seite auf einer Fortsetzung des Bildes mit selbständiger Lokalität
haben müssen; Cornelius hat diesen Platz nicht zur Verfügung und setzt den
gerichthaltenden Satan mitten zwischen die Auferstehenden und die zum Himmel
Aufstürmenden hinein und läßt sich auch dadurch nicht irre machen, daß der
Satan nun in denselben Nahmen, dieselbe Lokalität kommt, über welcher wir
Christus walten sehen. Die reale Wahrheit des Vorganges zugegeben — und
die drastischen Szenen gerade dieser Seite führen mit Notwendigkeit zur Auf¬
stellung dieser dichterischen Forderung —, so ist dies ein schneidender Eingriff
in jede Möglichkeit und Denkbarkeit des Zusammenhanges. Der Satan gehört
nicht über, sondern unter die Erde; er gehört nicht in den Bereich des Waltens
des Erlösers, er muß von ihm getrennt im Reiche der Finsternis sein Wesen
treiben. Es wird aber auch der Zusammenhang des Geschehens selbst gestört.
Wo kommen die oberhalb des Satans kämpfenden, zum Himmel ciufstürmcnden
Auferstandenen her? Die Auferstehung geschieht auf der Erde; hier aber werden
sie von oben herab zum Gerichte des auf der Erde thronenden Satans geschleppt.
Oder hätte man nicht das Recht, so zu fragen? Aber wir stehen vor einem
Kunstwerke, das in der entschiedensten Weise den Anspruch darauf macht, ein
ästhetisches Werk zu sein, das nicht bloß in kindlichen Zügen uns einen Vorgang
andeuten, sondern diesen vor unsern Augen so erscheinen lassen will, daß die Form
der Erscheinung als solche, wenn nicht ausschließlich, so doch ganz wesentlich auf
uns wirkt, welches sich daher nicht bloß an die gläubige Seite, sondern auch,
und ganz besonders, an den formensuchenden Sinn des Auges, an die gestaltungs¬
frohe Phantasie, an das erregnngsbedürftige Herz richtet und deren Sprache
spricht. Diesen Widerspruch hat Cornelius, in dem Bestreben, alles zu geben,
was nach seiner Überzeugung zur Sache gehörte, nicht empfunden; die Beschauer
aber haben ihn empfunden und empfinden ihn immer wieder aufs neue. War
einmal die ästhetische Darstellungsweise gewählt — und eine andre unsrer Kultur
zumuten zu Wollen, wäre ein Unding gewesen, zudem wollte Cornelius als
Künstler schaffen —, so mußte nicht nur der Grundcharakter gewahrt bleiben,
er mußte vor allen Dingen nicht innerhalb der als wirklich vorausgesetzten,
der Wahl des Künstlers freistehenden Erscheinungswelt die selbstgemachten Vor¬
aussetzungen umstoßen und so, innerhalb des selbstgewählten Gebietes, die
Wahrscheinlichkeit, das Lebenselement des ästhetischen Kunstwerkes, selbst ver¬
nichten. Das Wort: „Im ersten sind wir frei, im zweiten sind wir Knechte"
gilt recht eigentlich für den Künstler; wir gestatten ihm gern die Wahl seines
Gebietes und folgen ihm, allem Naturalismus zum Trotze, gern in erdichtete


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[0608] Cornelius und das Weltgericht. zur Erscheinung bringen konnte: der Fürst der Hölle mußte zugegen sein, er, der das Gegenbild Christi ist und, wie dieser über die ganze Welt, so über die Bösen zu Gericht sitzt und sie der ihnen gebührenden Stelle zuweist, wobei Cornelius in seltsamer Weise den Damenfeder Minos und dessen Satan in eine Person verschmolzen hat. Nach alter Tradition hätte der Satan seinen Platz zur Seite auf einer Fortsetzung des Bildes mit selbständiger Lokalität haben müssen; Cornelius hat diesen Platz nicht zur Verfügung und setzt den gerichthaltenden Satan mitten zwischen die Auferstehenden und die zum Himmel Aufstürmenden hinein und läßt sich auch dadurch nicht irre machen, daß der Satan nun in denselben Nahmen, dieselbe Lokalität kommt, über welcher wir Christus walten sehen. Die reale Wahrheit des Vorganges zugegeben — und die drastischen Szenen gerade dieser Seite führen mit Notwendigkeit zur Auf¬ stellung dieser dichterischen Forderung —, so ist dies ein schneidender Eingriff in jede Möglichkeit und Denkbarkeit des Zusammenhanges. Der Satan gehört nicht über, sondern unter die Erde; er gehört nicht in den Bereich des Waltens des Erlösers, er muß von ihm getrennt im Reiche der Finsternis sein Wesen treiben. Es wird aber auch der Zusammenhang des Geschehens selbst gestört. Wo kommen die oberhalb des Satans kämpfenden, zum Himmel ciufstürmcnden Auferstandenen her? Die Auferstehung geschieht auf der Erde; hier aber werden sie von oben herab zum Gerichte des auf der Erde thronenden Satans geschleppt. Oder hätte man nicht das Recht, so zu fragen? Aber wir stehen vor einem Kunstwerke, das in der entschiedensten Weise den Anspruch darauf macht, ein ästhetisches Werk zu sein, das nicht bloß in kindlichen Zügen uns einen Vorgang andeuten, sondern diesen vor unsern Augen so erscheinen lassen will, daß die Form der Erscheinung als solche, wenn nicht ausschließlich, so doch ganz wesentlich auf uns wirkt, welches sich daher nicht bloß an die gläubige Seite, sondern auch, und ganz besonders, an den formensuchenden Sinn des Auges, an die gestaltungs¬ frohe Phantasie, an das erregnngsbedürftige Herz richtet und deren Sprache spricht. Diesen Widerspruch hat Cornelius, in dem Bestreben, alles zu geben, was nach seiner Überzeugung zur Sache gehörte, nicht empfunden; die Beschauer aber haben ihn empfunden und empfinden ihn immer wieder aufs neue. War einmal die ästhetische Darstellungsweise gewählt — und eine andre unsrer Kultur zumuten zu Wollen, wäre ein Unding gewesen, zudem wollte Cornelius als Künstler schaffen —, so mußte nicht nur der Grundcharakter gewahrt bleiben, er mußte vor allen Dingen nicht innerhalb der als wirklich vorausgesetzten, der Wahl des Künstlers freistehenden Erscheinungswelt die selbstgemachten Vor¬ aussetzungen umstoßen und so, innerhalb des selbstgewählten Gebietes, die Wahrscheinlichkeit, das Lebenselement des ästhetischen Kunstwerkes, selbst ver¬ nichten. Das Wort: „Im ersten sind wir frei, im zweiten sind wir Knechte" gilt recht eigentlich für den Künstler; wir gestatten ihm gern die Wahl seines Gebietes und folgen ihm, allem Naturalismus zum Trotze, gern in erdichtete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/608>, abgerufen am 27.06.2024.