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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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polnische Offenherzigkeiten.

le Polen tragen keine Schuld daran, wenn noch irgendwo bei
ihren Grenznachbarn sich die sentimentale Auffassung der polnischen
Frage erhalten haben sollte. Eher dürfte man ihnen nachrühmen,
daß sie erheblich dazu beigetragen haben, die Deutschen zu Real¬
politikern zu machen. Alle Wurzel" der Sympathie mit jener
Nation mußten verdorren, sobald man mit ihr in unmittelbare Berührung ge¬
riet -- alle bis auf die eine, welche Bismarck einmal in so klassischer Weise
charakterisirte: "Da ist Lärm, da ist Aufstand, da ist Insurrektion, kurz und
gut, da wird eine Negierung angegriffen, das erregt unsre Sympathie!" Diese
Art von Wohlwollen wird ihnen wohl erhalten bleiben. Aber die so lange
Zeit mächtige Teilnahme an dem tragischen Geschick des Polenvolkes ist der
Erkenntnis gewichen, daß dies Volk sein Geschick nicht nur selbst verschuldet
hat, sondern es immer aufs neue heraufbeschwören würde; den Ausdruck "edle
Polen" wagt niemand mehr im Ernst zu gebrauchen, und wäre auch nur die
Erinnerung an Heine die Ursache; der ehrliche Freiheitsschwärmer schlägt die
Augen nieder, wenn er seine einstigen Lieblinge in Galizien wirtschaften steht,
und kein Mensch mit gesunden Sinnen läßt heute noch den Gedanken zu, daß
Österreich und Preußen Rußland zwingen sollten, Polen wiederherzustellen als
Schutzwall zwischen Europa und Asien.

Wer es mit den Polen gut meinte, pflegte für sie anzuführen, daß sie in
den letzten zwanzig Jahren Vernunft angenommen, sich darein gefunden hätten,
Russen, Preußen oder Österreicher zu sein und nur noch für die Erhaltung
ihrer Nationalität innerhalb solcher Begrenzung kämpften. Mit diesem Zu¬
stande scheinen aber die Herren nicht zufrieden zu sein. Sie wollen durchaus
auch die letzten Zweifler zu der Ansicht bekehren, daß wenigstens die Führer,


Grcnzbow, III. 1884. 68


polnische Offenherzigkeiten.

le Polen tragen keine Schuld daran, wenn noch irgendwo bei
ihren Grenznachbarn sich die sentimentale Auffassung der polnischen
Frage erhalten haben sollte. Eher dürfte man ihnen nachrühmen,
daß sie erheblich dazu beigetragen haben, die Deutschen zu Real¬
politikern zu machen. Alle Wurzel» der Sympathie mit jener
Nation mußten verdorren, sobald man mit ihr in unmittelbare Berührung ge¬
riet — alle bis auf die eine, welche Bismarck einmal in so klassischer Weise
charakterisirte: „Da ist Lärm, da ist Aufstand, da ist Insurrektion, kurz und
gut, da wird eine Negierung angegriffen, das erregt unsre Sympathie!" Diese
Art von Wohlwollen wird ihnen wohl erhalten bleiben. Aber die so lange
Zeit mächtige Teilnahme an dem tragischen Geschick des Polenvolkes ist der
Erkenntnis gewichen, daß dies Volk sein Geschick nicht nur selbst verschuldet
hat, sondern es immer aufs neue heraufbeschwören würde; den Ausdruck „edle
Polen" wagt niemand mehr im Ernst zu gebrauchen, und wäre auch nur die
Erinnerung an Heine die Ursache; der ehrliche Freiheitsschwärmer schlägt die
Augen nieder, wenn er seine einstigen Lieblinge in Galizien wirtschaften steht,
und kein Mensch mit gesunden Sinnen läßt heute noch den Gedanken zu, daß
Österreich und Preußen Rußland zwingen sollten, Polen wiederherzustellen als
Schutzwall zwischen Europa und Asien.

Wer es mit den Polen gut meinte, pflegte für sie anzuführen, daß sie in
den letzten zwanzig Jahren Vernunft angenommen, sich darein gefunden hätten,
Russen, Preußen oder Österreicher zu sein und nur noch für die Erhaltung
ihrer Nationalität innerhalb solcher Begrenzung kämpften. Mit diesem Zu¬
stande scheinen aber die Herren nicht zufrieden zu sein. Sie wollen durchaus
auch die letzten Zweifler zu der Ansicht bekehren, daß wenigstens die Führer,


Grcnzbow, III. 1884. 68
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[0545] [Abbildung] polnische Offenherzigkeiten. le Polen tragen keine Schuld daran, wenn noch irgendwo bei ihren Grenznachbarn sich die sentimentale Auffassung der polnischen Frage erhalten haben sollte. Eher dürfte man ihnen nachrühmen, daß sie erheblich dazu beigetragen haben, die Deutschen zu Real¬ politikern zu machen. Alle Wurzel» der Sympathie mit jener Nation mußten verdorren, sobald man mit ihr in unmittelbare Berührung ge¬ riet — alle bis auf die eine, welche Bismarck einmal in so klassischer Weise charakterisirte: „Da ist Lärm, da ist Aufstand, da ist Insurrektion, kurz und gut, da wird eine Negierung angegriffen, das erregt unsre Sympathie!" Diese Art von Wohlwollen wird ihnen wohl erhalten bleiben. Aber die so lange Zeit mächtige Teilnahme an dem tragischen Geschick des Polenvolkes ist der Erkenntnis gewichen, daß dies Volk sein Geschick nicht nur selbst verschuldet hat, sondern es immer aufs neue heraufbeschwören würde; den Ausdruck „edle Polen" wagt niemand mehr im Ernst zu gebrauchen, und wäre auch nur die Erinnerung an Heine die Ursache; der ehrliche Freiheitsschwärmer schlägt die Augen nieder, wenn er seine einstigen Lieblinge in Galizien wirtschaften steht, und kein Mensch mit gesunden Sinnen läßt heute noch den Gedanken zu, daß Österreich und Preußen Rußland zwingen sollten, Polen wiederherzustellen als Schutzwall zwischen Europa und Asien. Wer es mit den Polen gut meinte, pflegte für sie anzuführen, daß sie in den letzten zwanzig Jahren Vernunft angenommen, sich darein gefunden hätten, Russen, Preußen oder Österreicher zu sein und nur noch für die Erhaltung ihrer Nationalität innerhalb solcher Begrenzung kämpften. Mit diesem Zu¬ stande scheinen aber die Herren nicht zufrieden zu sein. Sie wollen durchaus auch die letzten Zweifler zu der Ansicht bekehren, daß wenigstens die Führer, Grcnzbow, III. 1884. 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/545>, abgerufen am 27.06.2024.