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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Cornelius und das Weltgericht.

worden, daß er einen andern Boden suchte, auf welchem er festere Wurzeln
schlagen könnte.

Der Grund liegt keineswegs in erster Linie in der ungenügenden Farben-
Wirkung, welche mit dem wachsenden Interesse für die Farbe und ihr Recht in
der Malerei nicht im Einklang stand. Er liegt auch nicht darin, daß der
Gegenstand veraltet wäre und uns in religiösem Sinne kein Interesse mehr
abzugewinnen vermöchte. Der Grund liegt vielmehr darin, daß Cornelius für
die Kunst eine Stellung in Anspruch nahm, welche sie in unsrer Kultur nicht
mehr beanspruchen kann, und daß er, indem er mit genialer Rücksichtslosigkeit
die Konsequenzen aus seiner Voraussetzung zog, sich mit der modernen Auf¬
fassung der Kunst in einen verhängnisvollen Widerspruch setzte, welchen alle
Bewunderung für die Lauterkeit seiner Tendenz und die Großartigkeit seiner
Durchführung nicht beseitigen kann.

Es erscheint uns modernen Menschen ganz selbstverständlich, daß die Kunst
da sei, um eine ästhetische Wirkung auszuüben; wir sind daher gewöhnt, dem
Kunsterzengnis mit dem Urteil schön oder nichtschön entgegenzutreten. Und
doch ist dies ein Standpunkt, welcher nur einer bestimmten Kulturstufe ent¬
spricht; wird er auf eine andre unterschiedslos angewendet, so ergiebt sich ein
Widerspruch zwischen dem Ziele der Kunst und dem Ausgangspunkte der Kritik.
Wie man in der Kunstgeschichte schon längst anerkannt hat, daß die bildlichen
Erzeugnisse ausgedehnter altertümlicher Kunstepochen in der That als nichts
andres zu betrachten sind, denn als eine allgemein verständliche Bilderschrift,
in welcher erst ganz allmählich neben das Ziel, Deutlichkeit und Vollständigkeit
zu erreichen, das andre Ziel tritt, dies zugleich so zu erstreben, daß eine schöne
Wirkung erzielt werde, so wird sich auch die Ästhetik des bequemen Verfahrens
entledigen müssen, welches die Entstehung der Kunstthätigkeit in unmittelbare,
kausale Abhängigkeit von dem Idealen, dem Schönen setzt oder sie geradezu
als die Verkörperung der "Idee," als den Inbegriff der Schönheit betrachtet.
Auch die Ästhetik muß aus ihrer etwas schwindligen Höhe der Deduktion und
Konstruktion herabsteigen und suchen, sich mit den Thatsachen der geschichtlichen
Entwicklung in Einklang zu setzen. Da wird sich denn herausstellen, daß bei
dem, was wir mit vollem Rechte als Kunsterzeugnisse in Anspruch nehmen,
trotz des von Anfang an vollgiltig vorhandnen Kunstcharakters, keineswegs auch
von Anfang an eine ästhetische Absicht vorgewaltet hat, daß vielmehr eine solche
erst eingetreten ist, nachdem eine lange Übung der Kunstthätigkeit die Empfäng¬
lichkeit für das Urteil erst hervorgerufen und sehr allmählich gezeitigt hatte.
Die Empfindung "schön" ist erst eine Folge der Kunstthätigkeit, nicht aber deren
ursprüngliche Veranlasserin. Erst nachdem sie als eine selbständige Empfindung
zum Bewußtsein gekommen ist, kann sie das Ziel einer Kunstdarstellung und
damit deren Veranlasserin werden. Eine Betrachtung der kunstgeschichtlichen
Entwicklung lehrt deutlich, wie auch das Kunsterzeugnis als Werkzeug irgend-


Cornelius und das Weltgericht.

worden, daß er einen andern Boden suchte, auf welchem er festere Wurzeln
schlagen könnte.

Der Grund liegt keineswegs in erster Linie in der ungenügenden Farben-
Wirkung, welche mit dem wachsenden Interesse für die Farbe und ihr Recht in
der Malerei nicht im Einklang stand. Er liegt auch nicht darin, daß der
Gegenstand veraltet wäre und uns in religiösem Sinne kein Interesse mehr
abzugewinnen vermöchte. Der Grund liegt vielmehr darin, daß Cornelius für
die Kunst eine Stellung in Anspruch nahm, welche sie in unsrer Kultur nicht
mehr beanspruchen kann, und daß er, indem er mit genialer Rücksichtslosigkeit
die Konsequenzen aus seiner Voraussetzung zog, sich mit der modernen Auf¬
fassung der Kunst in einen verhängnisvollen Widerspruch setzte, welchen alle
Bewunderung für die Lauterkeit seiner Tendenz und die Großartigkeit seiner
Durchführung nicht beseitigen kann.

Es erscheint uns modernen Menschen ganz selbstverständlich, daß die Kunst
da sei, um eine ästhetische Wirkung auszuüben; wir sind daher gewöhnt, dem
Kunsterzengnis mit dem Urteil schön oder nichtschön entgegenzutreten. Und
doch ist dies ein Standpunkt, welcher nur einer bestimmten Kulturstufe ent¬
spricht; wird er auf eine andre unterschiedslos angewendet, so ergiebt sich ein
Widerspruch zwischen dem Ziele der Kunst und dem Ausgangspunkte der Kritik.
Wie man in der Kunstgeschichte schon längst anerkannt hat, daß die bildlichen
Erzeugnisse ausgedehnter altertümlicher Kunstepochen in der That als nichts
andres zu betrachten sind, denn als eine allgemein verständliche Bilderschrift,
in welcher erst ganz allmählich neben das Ziel, Deutlichkeit und Vollständigkeit
zu erreichen, das andre Ziel tritt, dies zugleich so zu erstreben, daß eine schöne
Wirkung erzielt werde, so wird sich auch die Ästhetik des bequemen Verfahrens
entledigen müssen, welches die Entstehung der Kunstthätigkeit in unmittelbare,
kausale Abhängigkeit von dem Idealen, dem Schönen setzt oder sie geradezu
als die Verkörperung der „Idee," als den Inbegriff der Schönheit betrachtet.
Auch die Ästhetik muß aus ihrer etwas schwindligen Höhe der Deduktion und
Konstruktion herabsteigen und suchen, sich mit den Thatsachen der geschichtlichen
Entwicklung in Einklang zu setzen. Da wird sich denn herausstellen, daß bei
dem, was wir mit vollem Rechte als Kunsterzeugnisse in Anspruch nehmen,
trotz des von Anfang an vollgiltig vorhandnen Kunstcharakters, keineswegs auch
von Anfang an eine ästhetische Absicht vorgewaltet hat, daß vielmehr eine solche
erst eingetreten ist, nachdem eine lange Übung der Kunstthätigkeit die Empfäng¬
lichkeit für das Urteil erst hervorgerufen und sehr allmählich gezeitigt hatte.
Die Empfindung „schön" ist erst eine Folge der Kunstthätigkeit, nicht aber deren
ursprüngliche Veranlasserin. Erst nachdem sie als eine selbständige Empfindung
zum Bewußtsein gekommen ist, kann sie das Ziel einer Kunstdarstellung und
damit deren Veranlasserin werden. Eine Betrachtung der kunstgeschichtlichen
Entwicklung lehrt deutlich, wie auch das Kunsterzeugnis als Werkzeug irgend-


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[0533] Cornelius und das Weltgericht. worden, daß er einen andern Boden suchte, auf welchem er festere Wurzeln schlagen könnte. Der Grund liegt keineswegs in erster Linie in der ungenügenden Farben- Wirkung, welche mit dem wachsenden Interesse für die Farbe und ihr Recht in der Malerei nicht im Einklang stand. Er liegt auch nicht darin, daß der Gegenstand veraltet wäre und uns in religiösem Sinne kein Interesse mehr abzugewinnen vermöchte. Der Grund liegt vielmehr darin, daß Cornelius für die Kunst eine Stellung in Anspruch nahm, welche sie in unsrer Kultur nicht mehr beanspruchen kann, und daß er, indem er mit genialer Rücksichtslosigkeit die Konsequenzen aus seiner Voraussetzung zog, sich mit der modernen Auf¬ fassung der Kunst in einen verhängnisvollen Widerspruch setzte, welchen alle Bewunderung für die Lauterkeit seiner Tendenz und die Großartigkeit seiner Durchführung nicht beseitigen kann. Es erscheint uns modernen Menschen ganz selbstverständlich, daß die Kunst da sei, um eine ästhetische Wirkung auszuüben; wir sind daher gewöhnt, dem Kunsterzengnis mit dem Urteil schön oder nichtschön entgegenzutreten. Und doch ist dies ein Standpunkt, welcher nur einer bestimmten Kulturstufe ent¬ spricht; wird er auf eine andre unterschiedslos angewendet, so ergiebt sich ein Widerspruch zwischen dem Ziele der Kunst und dem Ausgangspunkte der Kritik. Wie man in der Kunstgeschichte schon längst anerkannt hat, daß die bildlichen Erzeugnisse ausgedehnter altertümlicher Kunstepochen in der That als nichts andres zu betrachten sind, denn als eine allgemein verständliche Bilderschrift, in welcher erst ganz allmählich neben das Ziel, Deutlichkeit und Vollständigkeit zu erreichen, das andre Ziel tritt, dies zugleich so zu erstreben, daß eine schöne Wirkung erzielt werde, so wird sich auch die Ästhetik des bequemen Verfahrens entledigen müssen, welches die Entstehung der Kunstthätigkeit in unmittelbare, kausale Abhängigkeit von dem Idealen, dem Schönen setzt oder sie geradezu als die Verkörperung der „Idee," als den Inbegriff der Schönheit betrachtet. Auch die Ästhetik muß aus ihrer etwas schwindligen Höhe der Deduktion und Konstruktion herabsteigen und suchen, sich mit den Thatsachen der geschichtlichen Entwicklung in Einklang zu setzen. Da wird sich denn herausstellen, daß bei dem, was wir mit vollem Rechte als Kunsterzeugnisse in Anspruch nehmen, trotz des von Anfang an vollgiltig vorhandnen Kunstcharakters, keineswegs auch von Anfang an eine ästhetische Absicht vorgewaltet hat, daß vielmehr eine solche erst eingetreten ist, nachdem eine lange Übung der Kunstthätigkeit die Empfäng¬ lichkeit für das Urteil erst hervorgerufen und sehr allmählich gezeitigt hatte. Die Empfindung „schön" ist erst eine Folge der Kunstthätigkeit, nicht aber deren ursprüngliche Veranlasserin. Erst nachdem sie als eine selbständige Empfindung zum Bewußtsein gekommen ist, kann sie das Ziel einer Kunstdarstellung und damit deren Veranlasserin werden. Eine Betrachtung der kunstgeschichtlichen Entwicklung lehrt deutlich, wie auch das Kunsterzeugnis als Werkzeug irgend-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/533>, abgerufen am 27.09.2024.