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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

vernante Frau von Mackau, begab. Gomin versichert, daß die Prinzessin, die
ihn an ihrer Seite im Wagen Platz nehmen ließ, ihm in wärmsten Worten
für die Rücksichten und Dienste gedankt habe, die er ihr und ihrem Bruder er¬
wiesen. Gomin erhielt später zur Belohnung seiner Treue die Stellung eines
Oberaufsehers über die Heizer im Tuilerienpalais.

Wie man weiß, wurde der Genosse Gomins, Laurent, dem das Amt eines
Gefängnisvvgts schon längst sehr unbehaglich gewesen war, auf sein Ansuchen
am 29. März 1795 von seinen Obliegenheiten entbunden und durch den Stuben¬
maler Lahne ersetzt. Letzterer, der früher in der königlichen Leibgarde gedient
und den Prinzen, als er etwa sechs Jahre alt war, häufig gesehen und ge¬
sprochen hatte, kannte dessen Züge sehr genau und war keinen Augenblick dar¬
über im Zweifel, daß sein Gefangener der Sohn Ludwigs XVI. sei. Andre
Gründe noch weit gewichtigerer Art unterstützten diese Überzeugung bis zur
unumstößlichen Gewißheit. Lahne unterhielt sich bisweilen mit dem Dauphin
und erinnerte ihn an verschiedene Vorgänge aus dem häuslichen Leben, die nur
ihm bekannt sein konnten. Der Knabe zeigte nicht mir, daß er mit den Einzel¬
heiten derselben vollkommen vertraut sei, sondern er ergänzte die Erinnerungen
auch noch durch Erwähnung andrer Begebenheiten aus seinen kindlichen Erleb¬
nissen, ein Umstand, der, wenn er von Lahne nicht erfunden war, von außer¬
ordentlicher Beweiskraft ist. Gegen die Annahme einer Täuschung durch Lahne
sprechen jedoch die übereinstimmenden Zeugnisse kompetenter Gewährsleute über
die Rechtschaffenheit und Zuverlässigkeit seines Charakters. Lahne nun hat in
nicht minder feierlicher Weise als die Vorgenannten bezeugt, daß der Dauphin
im Temple gestorben sei. In einer neben seinem großen Werke von Beauchesne
herausgegebenen Broschüre hat dieser gewissenhafte Forscher die Beurkundung
mitgeteilt, dnrch welche Lahne, als er von Beauchesne über den fraglichen Punkt
vernommen wurde, die Wahrhaftigkeit jener Angabe feierlich beteuert hat. "Ich
erkläre hiermit auf meine Ehre und vor Gott, daß der Sohn Ludwigs XVI.
in meinen Armen und im Turme des Temple gestorben ist. Nur Betrüger
können das Gegenteil behaupten. Ich hatte den unglücklichen Dauphin in den
Tuilerien oft gesehen und habe ihn in dem Turme des Temple ganz bestimmt
wiedererkannt. Paris, 21. Oktober 1837." So lautet die glaubwürdige, durch
nichts entkräftete Deposition Lasnes, die dieser auch bereits im Jahre 1817
vor der Polizeibehörde abgegeben hatte.

Es liegen außer diesen aber auch noch eine Reihe andrer Zeugnisse vor,
aus denen der Aufenthalt des Sohnes Ludwigs XVI. und sein Tod im Temple
mit absolut unanfechtbarer Sicherheit nachweisbar ist, wenn man selbst durch
die Angaben Lasnes noch nicht überzeugt sein sollte. Außer Lahne und Gomin
befand sich noch der bereits erwähnte Kirchendiener Caron im Temple, der schon
zu der Zeit, als der Schuster Simon den Knaben in seine verderbliche Erziehung
genommen hatte, dort dieses Amt versah und infolge dessen dreimal des Tages


Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

vernante Frau von Mackau, begab. Gomin versichert, daß die Prinzessin, die
ihn an ihrer Seite im Wagen Platz nehmen ließ, ihm in wärmsten Worten
für die Rücksichten und Dienste gedankt habe, die er ihr und ihrem Bruder er¬
wiesen. Gomin erhielt später zur Belohnung seiner Treue die Stellung eines
Oberaufsehers über die Heizer im Tuilerienpalais.

Wie man weiß, wurde der Genosse Gomins, Laurent, dem das Amt eines
Gefängnisvvgts schon längst sehr unbehaglich gewesen war, auf sein Ansuchen
am 29. März 1795 von seinen Obliegenheiten entbunden und durch den Stuben¬
maler Lahne ersetzt. Letzterer, der früher in der königlichen Leibgarde gedient
und den Prinzen, als er etwa sechs Jahre alt war, häufig gesehen und ge¬
sprochen hatte, kannte dessen Züge sehr genau und war keinen Augenblick dar¬
über im Zweifel, daß sein Gefangener der Sohn Ludwigs XVI. sei. Andre
Gründe noch weit gewichtigerer Art unterstützten diese Überzeugung bis zur
unumstößlichen Gewißheit. Lahne unterhielt sich bisweilen mit dem Dauphin
und erinnerte ihn an verschiedene Vorgänge aus dem häuslichen Leben, die nur
ihm bekannt sein konnten. Der Knabe zeigte nicht mir, daß er mit den Einzel¬
heiten derselben vollkommen vertraut sei, sondern er ergänzte die Erinnerungen
auch noch durch Erwähnung andrer Begebenheiten aus seinen kindlichen Erleb¬
nissen, ein Umstand, der, wenn er von Lahne nicht erfunden war, von außer¬
ordentlicher Beweiskraft ist. Gegen die Annahme einer Täuschung durch Lahne
sprechen jedoch die übereinstimmenden Zeugnisse kompetenter Gewährsleute über
die Rechtschaffenheit und Zuverlässigkeit seines Charakters. Lahne nun hat in
nicht minder feierlicher Weise als die Vorgenannten bezeugt, daß der Dauphin
im Temple gestorben sei. In einer neben seinem großen Werke von Beauchesne
herausgegebenen Broschüre hat dieser gewissenhafte Forscher die Beurkundung
mitgeteilt, dnrch welche Lahne, als er von Beauchesne über den fraglichen Punkt
vernommen wurde, die Wahrhaftigkeit jener Angabe feierlich beteuert hat. „Ich
erkläre hiermit auf meine Ehre und vor Gott, daß der Sohn Ludwigs XVI.
in meinen Armen und im Turme des Temple gestorben ist. Nur Betrüger
können das Gegenteil behaupten. Ich hatte den unglücklichen Dauphin in den
Tuilerien oft gesehen und habe ihn in dem Turme des Temple ganz bestimmt
wiedererkannt. Paris, 21. Oktober 1837." So lautet die glaubwürdige, durch
nichts entkräftete Deposition Lasnes, die dieser auch bereits im Jahre 1817
vor der Polizeibehörde abgegeben hatte.

Es liegen außer diesen aber auch noch eine Reihe andrer Zeugnisse vor,
aus denen der Aufenthalt des Sohnes Ludwigs XVI. und sein Tod im Temple
mit absolut unanfechtbarer Sicherheit nachweisbar ist, wenn man selbst durch
die Angaben Lasnes noch nicht überzeugt sein sollte. Außer Lahne und Gomin
befand sich noch der bereits erwähnte Kirchendiener Caron im Temple, der schon
zu der Zeit, als der Schuster Simon den Knaben in seine verderbliche Erziehung
genommen hatte, dort dieses Amt versah und infolge dessen dreimal des Tages


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[0522] Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende. vernante Frau von Mackau, begab. Gomin versichert, daß die Prinzessin, die ihn an ihrer Seite im Wagen Platz nehmen ließ, ihm in wärmsten Worten für die Rücksichten und Dienste gedankt habe, die er ihr und ihrem Bruder er¬ wiesen. Gomin erhielt später zur Belohnung seiner Treue die Stellung eines Oberaufsehers über die Heizer im Tuilerienpalais. Wie man weiß, wurde der Genosse Gomins, Laurent, dem das Amt eines Gefängnisvvgts schon längst sehr unbehaglich gewesen war, auf sein Ansuchen am 29. März 1795 von seinen Obliegenheiten entbunden und durch den Stuben¬ maler Lahne ersetzt. Letzterer, der früher in der königlichen Leibgarde gedient und den Prinzen, als er etwa sechs Jahre alt war, häufig gesehen und ge¬ sprochen hatte, kannte dessen Züge sehr genau und war keinen Augenblick dar¬ über im Zweifel, daß sein Gefangener der Sohn Ludwigs XVI. sei. Andre Gründe noch weit gewichtigerer Art unterstützten diese Überzeugung bis zur unumstößlichen Gewißheit. Lahne unterhielt sich bisweilen mit dem Dauphin und erinnerte ihn an verschiedene Vorgänge aus dem häuslichen Leben, die nur ihm bekannt sein konnten. Der Knabe zeigte nicht mir, daß er mit den Einzel¬ heiten derselben vollkommen vertraut sei, sondern er ergänzte die Erinnerungen auch noch durch Erwähnung andrer Begebenheiten aus seinen kindlichen Erleb¬ nissen, ein Umstand, der, wenn er von Lahne nicht erfunden war, von außer¬ ordentlicher Beweiskraft ist. Gegen die Annahme einer Täuschung durch Lahne sprechen jedoch die übereinstimmenden Zeugnisse kompetenter Gewährsleute über die Rechtschaffenheit und Zuverlässigkeit seines Charakters. Lahne nun hat in nicht minder feierlicher Weise als die Vorgenannten bezeugt, daß der Dauphin im Temple gestorben sei. In einer neben seinem großen Werke von Beauchesne herausgegebenen Broschüre hat dieser gewissenhafte Forscher die Beurkundung mitgeteilt, dnrch welche Lahne, als er von Beauchesne über den fraglichen Punkt vernommen wurde, die Wahrhaftigkeit jener Angabe feierlich beteuert hat. „Ich erkläre hiermit auf meine Ehre und vor Gott, daß der Sohn Ludwigs XVI. in meinen Armen und im Turme des Temple gestorben ist. Nur Betrüger können das Gegenteil behaupten. Ich hatte den unglücklichen Dauphin in den Tuilerien oft gesehen und habe ihn in dem Turme des Temple ganz bestimmt wiedererkannt. Paris, 21. Oktober 1837." So lautet die glaubwürdige, durch nichts entkräftete Deposition Lasnes, die dieser auch bereits im Jahre 1817 vor der Polizeibehörde abgegeben hatte. Es liegen außer diesen aber auch noch eine Reihe andrer Zeugnisse vor, aus denen der Aufenthalt des Sohnes Ludwigs XVI. und sein Tod im Temple mit absolut unanfechtbarer Sicherheit nachweisbar ist, wenn man selbst durch die Angaben Lasnes noch nicht überzeugt sein sollte. Außer Lahne und Gomin befand sich noch der bereits erwähnte Kirchendiener Caron im Temple, der schon zu der Zeit, als der Schuster Simon den Knaben in seine verderbliche Erziehung genommen hatte, dort dieses Amt versah und infolge dessen dreimal des Tages

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/522>, abgerufen am 27.09.2024.