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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Ende einer weltgeschichtlichen Legende.

den Prinzen zu sehen Gelegenheit hatte. Dieser junge Mensch, den die Polizei¬
agenten im Jahre 1817 ausfindig machten, bezeugte aufs bestimmteste, daß der
Knabe, der am 8. Juni in seiner Gegenwart mit dem Tode rang, identisch mit
jener Persönlichkeit gewesen sei, welche er früher stets bedient hatte und welche
zu wiederholten malen u. a. von Barras und bei persönlichen Besuchen andrer
maßgebenden Häupter der Revolution als der Prinz Louis anerkannt worden
war. Es kommt zu dieser Feststellung weiter noch die des Zivilkvmmissars
Dämone hinzu, der am 8. Juni die Wache im Temple hatte und über die von
ihm gemachten Wahrnehmungen einen umständlichen Bericht abgefaßt hat, welchen
er später, im Jahre 1817, der Polizeibehörde einreichte. Der Inhalt dieses, im
Nationalarchiv aufgefundenen Aktenstückes ist von so großer Bedeutung, daß es
gerechtfertigt erscheint, ans denselben genauer einzugehen.

Als Dämone, der royalistisch gesinnt war, im Tempel anlangte, fand er
den Knaben bereits in einem Zustande, der keine Hoffnung mehr übrig ließ.
Aber obgleich das lange Siechtum, welches schon zur Zeit Simons in Gestalt
von skrophulösen Symptomen sich erkennbar gemacht und an der Gesundheit
des kleinen Gefangenen genagt hatte, dem Gesichte und der ganzen Erscheinung
desselben den Stempel eines schweren Leidens aufgedrückt hatte, und trotz der
Veränderungen, welche die entsetzliche Behandlung, die monatelnngc Unsauber-
keit und der Aufenthalt in einem luft- und lichtkargen Kerker in Verbindung
mit den unausgesetzten Foltern des Gemüts in den Zügen des Prinzen hervor¬
gebracht hatte, so erkannte Dämone sogleich das Kind wieder, das er vor seiner
Gefangenschaft mit der Königin Hand in Hand in seinem kleinen Garten an
der Terrasse hatte spazieren gehen sehen. Es wurde ihm sofort klar, daß der
Zustand des Knaben ein äußerst bedenklicher sei, weshalb er nach Gomin, dem
zweiten Templewächter, der inzwischen nach dem Konvent geeilt war, um dem
betreffenden Ausschuß von der drohenden Gefahr Mitteilung zu machen, schickte
und ihn zurückrufen ließ. Unterdessen bemühte er sich, die Leiden des Kranken,
soweit es geschehen konnte, dnrch allerhand Dienstleistungen zu erleichtern, bei
denen ihm Lahne eifrig zur Hand ging. Seine Anstrengungen zur Hebung
der auf den niedrigsten Grad herabgesunkenen Lebenskräfte blieben jedoch er¬
folglos. Der Tod stand bereits am Siechbette des Kleinen und hatte seine
Hand nach der sichern Beute ausgestreckt. Den Kopf matt zur Seite geneigt,
murmelte das unglückliche Kind nur noch die Worte: "Bringet mich nur anders¬
wohin, wo ich nicht soviel leiden muß," ein Umstand, ans den aus besondern
Gründen später noch zurückzukommen sein wird. Da der Kranke, der sich vor
Entkräftung nicht mehr aufzurichten vermochte, bittend die Hände gegen den an
seinem Bette stehenden Lahne ausstreckte, so hob dieser ihn von seinem Lager
empor. Das sterbende Kind legte seine Hände um den Hals des ihm stets ein
wohlwollender Genosse und Schützer gewesenen Aufsehers, ließ das Köpfchen
auf dessen Schulter herabsinken, stieß einen tiefen Seufzer ans und hatte zu


Das Ende einer weltgeschichtlichen Legende.

den Prinzen zu sehen Gelegenheit hatte. Dieser junge Mensch, den die Polizei¬
agenten im Jahre 1817 ausfindig machten, bezeugte aufs bestimmteste, daß der
Knabe, der am 8. Juni in seiner Gegenwart mit dem Tode rang, identisch mit
jener Persönlichkeit gewesen sei, welche er früher stets bedient hatte und welche
zu wiederholten malen u. a. von Barras und bei persönlichen Besuchen andrer
maßgebenden Häupter der Revolution als der Prinz Louis anerkannt worden
war. Es kommt zu dieser Feststellung weiter noch die des Zivilkvmmissars
Dämone hinzu, der am 8. Juni die Wache im Temple hatte und über die von
ihm gemachten Wahrnehmungen einen umständlichen Bericht abgefaßt hat, welchen
er später, im Jahre 1817, der Polizeibehörde einreichte. Der Inhalt dieses, im
Nationalarchiv aufgefundenen Aktenstückes ist von so großer Bedeutung, daß es
gerechtfertigt erscheint, ans denselben genauer einzugehen.

Als Dämone, der royalistisch gesinnt war, im Tempel anlangte, fand er
den Knaben bereits in einem Zustande, der keine Hoffnung mehr übrig ließ.
Aber obgleich das lange Siechtum, welches schon zur Zeit Simons in Gestalt
von skrophulösen Symptomen sich erkennbar gemacht und an der Gesundheit
des kleinen Gefangenen genagt hatte, dem Gesichte und der ganzen Erscheinung
desselben den Stempel eines schweren Leidens aufgedrückt hatte, und trotz der
Veränderungen, welche die entsetzliche Behandlung, die monatelnngc Unsauber-
keit und der Aufenthalt in einem luft- und lichtkargen Kerker in Verbindung
mit den unausgesetzten Foltern des Gemüts in den Zügen des Prinzen hervor¬
gebracht hatte, so erkannte Dämone sogleich das Kind wieder, das er vor seiner
Gefangenschaft mit der Königin Hand in Hand in seinem kleinen Garten an
der Terrasse hatte spazieren gehen sehen. Es wurde ihm sofort klar, daß der
Zustand des Knaben ein äußerst bedenklicher sei, weshalb er nach Gomin, dem
zweiten Templewächter, der inzwischen nach dem Konvent geeilt war, um dem
betreffenden Ausschuß von der drohenden Gefahr Mitteilung zu machen, schickte
und ihn zurückrufen ließ. Unterdessen bemühte er sich, die Leiden des Kranken,
soweit es geschehen konnte, dnrch allerhand Dienstleistungen zu erleichtern, bei
denen ihm Lahne eifrig zur Hand ging. Seine Anstrengungen zur Hebung
der auf den niedrigsten Grad herabgesunkenen Lebenskräfte blieben jedoch er¬
folglos. Der Tod stand bereits am Siechbette des Kleinen und hatte seine
Hand nach der sichern Beute ausgestreckt. Den Kopf matt zur Seite geneigt,
murmelte das unglückliche Kind nur noch die Worte: „Bringet mich nur anders¬
wohin, wo ich nicht soviel leiden muß," ein Umstand, ans den aus besondern
Gründen später noch zurückzukommen sein wird. Da der Kranke, der sich vor
Entkräftung nicht mehr aufzurichten vermochte, bittend die Hände gegen den an
seinem Bette stehenden Lahne ausstreckte, so hob dieser ihn von seinem Lager
empor. Das sterbende Kind legte seine Hände um den Hals des ihm stets ein
wohlwollender Genosse und Schützer gewesenen Aufsehers, ließ das Köpfchen
auf dessen Schulter herabsinken, stieß einen tiefen Seufzer ans und hatte zu


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[0523] Das Ende einer weltgeschichtlichen Legende. den Prinzen zu sehen Gelegenheit hatte. Dieser junge Mensch, den die Polizei¬ agenten im Jahre 1817 ausfindig machten, bezeugte aufs bestimmteste, daß der Knabe, der am 8. Juni in seiner Gegenwart mit dem Tode rang, identisch mit jener Persönlichkeit gewesen sei, welche er früher stets bedient hatte und welche zu wiederholten malen u. a. von Barras und bei persönlichen Besuchen andrer maßgebenden Häupter der Revolution als der Prinz Louis anerkannt worden war. Es kommt zu dieser Feststellung weiter noch die des Zivilkvmmissars Dämone hinzu, der am 8. Juni die Wache im Temple hatte und über die von ihm gemachten Wahrnehmungen einen umständlichen Bericht abgefaßt hat, welchen er später, im Jahre 1817, der Polizeibehörde einreichte. Der Inhalt dieses, im Nationalarchiv aufgefundenen Aktenstückes ist von so großer Bedeutung, daß es gerechtfertigt erscheint, ans denselben genauer einzugehen. Als Dämone, der royalistisch gesinnt war, im Tempel anlangte, fand er den Knaben bereits in einem Zustande, der keine Hoffnung mehr übrig ließ. Aber obgleich das lange Siechtum, welches schon zur Zeit Simons in Gestalt von skrophulösen Symptomen sich erkennbar gemacht und an der Gesundheit des kleinen Gefangenen genagt hatte, dem Gesichte und der ganzen Erscheinung desselben den Stempel eines schweren Leidens aufgedrückt hatte, und trotz der Veränderungen, welche die entsetzliche Behandlung, die monatelnngc Unsauber- keit und der Aufenthalt in einem luft- und lichtkargen Kerker in Verbindung mit den unausgesetzten Foltern des Gemüts in den Zügen des Prinzen hervor¬ gebracht hatte, so erkannte Dämone sogleich das Kind wieder, das er vor seiner Gefangenschaft mit der Königin Hand in Hand in seinem kleinen Garten an der Terrasse hatte spazieren gehen sehen. Es wurde ihm sofort klar, daß der Zustand des Knaben ein äußerst bedenklicher sei, weshalb er nach Gomin, dem zweiten Templewächter, der inzwischen nach dem Konvent geeilt war, um dem betreffenden Ausschuß von der drohenden Gefahr Mitteilung zu machen, schickte und ihn zurückrufen ließ. Unterdessen bemühte er sich, die Leiden des Kranken, soweit es geschehen konnte, dnrch allerhand Dienstleistungen zu erleichtern, bei denen ihm Lahne eifrig zur Hand ging. Seine Anstrengungen zur Hebung der auf den niedrigsten Grad herabgesunkenen Lebenskräfte blieben jedoch er¬ folglos. Der Tod stand bereits am Siechbette des Kleinen und hatte seine Hand nach der sichern Beute ausgestreckt. Den Kopf matt zur Seite geneigt, murmelte das unglückliche Kind nur noch die Worte: „Bringet mich nur anders¬ wohin, wo ich nicht soviel leiden muß," ein Umstand, ans den aus besondern Gründen später noch zurückzukommen sein wird. Da der Kranke, der sich vor Entkräftung nicht mehr aufzurichten vermochte, bittend die Hände gegen den an seinem Bette stehenden Lahne ausstreckte, so hob dieser ihn von seinem Lager empor. Das sterbende Kind legte seine Hände um den Hals des ihm stets ein wohlwollender Genosse und Schützer gewesenen Aufsehers, ließ das Köpfchen auf dessen Schulter herabsinken, stieß einen tiefen Seufzer ans und hatte zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/523>, abgerufen am 27.06.2024.