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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

frühere Oberküchenmeister der Tuilerien und später auch deS Temple, Meumer,
in der königlichen Hofküche Anstellung gefunden habe.

Außer dem Zeugnisse des Vorgenannten, das für die historische Beglau¬
bigung des Todes des Dauphin im Temple von höchstem Werte ist, hat mau
auch noch die Aussagen einer Reihe andrer Personen protokollirt, welche in der
Lage waren, zwei Thatsachen zu bestätigen. Die oberste Stelle in der Liste
derselben nimmt ein gewisser Gomin ein, der vom 9. November 1794 bis zum
Tode des Kronprinzen zusammen mit Laurent und später mit Lahne, welcher
der Nachfolger des letztern wurde, das Amt eines oberste,, Gefängnisaufsehers
versah. Es ist später festgestellt worden, daß die royalistische Partei im Kon¬
vent durch kluge Schachzüge die Wahl dieses ihr als rechtschaffen und gut
monarchisch gesinnten Gehilfen Lanrents durchzusetzen gewußt hatte, weil sie auf
seine Bundesgenossenschaft hofften, und vor allem, weil sie ihm zutraute, daß
er dem Knaben ein humaner Wächter sein werde. Gomin hatte den Prinzen
vor seiner Gefangenschaft nicht gekannt, war also auch nicht imstande, die Iden¬
tität des Gefangenen zu beurteilen. Sie wurde jedoch vierzehn Tage nach
seinem Amtsantritte, an: 23. November 1794, durch eine klassische Zeugin, die
Schwester des Prinzen, festgestellt. An jenem Tage fügte es nämlich ein
-- vielleicht vorher verabredeter -- Zufall, daß gerade in dem Augenblicke, in
welchem Gomin mit der Schwester des Kronprinzen, der Prinzessin Maria
Theresia, in das eine Treppe höher gelegene Gefängnis der letztern zu gehen
im Begriff stand, der Prinz in Begleitung Lanrents aus der Thür seines
Kerkers heraustrat, um sich zu seinem täglichen Spaziergange nach der Terrasse
des Gefängnisses zu begeben. Die Prinzessin erkannte von der Treppe aus
ihren Bruder aufs bestimmteste und warf demselben einen von schmerzlicher
Sehnsucht erfüllten Blick zu, der dem des Bruders begegnete. Mit diesem
stummen Austausch ihrer Empfindungen mußten sich die unglücklichen Königs¬
kinder begnügen, denn es war von dem Überwachungsausschuß das strengste
Verbot erlassen worden, die Geschwister miteinander in irgendwelchen Verkehr
treten zu lassen. Gomin hat aber durch diese flüchtige Begegnung die ihm
später auch durch die Prinzessin selbst bekräftigte Gewißheit erlangt, daß sein
Gefangener und der königliche Prinz in der That eine und dieselbe Person ge¬
wesen sind. Gomin, der erst im Jahre 1841 im Alter von achtzig Jahren
starb und damals, als er der Wächter der Kinder Ludwigs XVI. wurde, in
der Vollkraft seiner Jahre stand, wurde im Jahre 1817 von der französischen
Polizei als ein Mann im rüstigsten Alter angetroffen, der sich der Einzelheiten
jener drangvollen Zeit im Temple noch aufs genaueste erinnerte und der n. a.
erzählte, daß er von der französischen Regierung nach Freilassung der Prinzessin
Maria Theresia die von ihm erbetene Ermächtigung erhielt, die Prinzessin als
Negierungskommissar nach Wien zu geleiten, wohin sie sich in Gesellschaft des
Vorgenannten und einer Frau von souci, einer Tochter ihrer ehemaligen Gou-


Grcnzbvten III. 1884. 65
Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

frühere Oberküchenmeister der Tuilerien und später auch deS Temple, Meumer,
in der königlichen Hofküche Anstellung gefunden habe.

Außer dem Zeugnisse des Vorgenannten, das für die historische Beglau¬
bigung des Todes des Dauphin im Temple von höchstem Werte ist, hat mau
auch noch die Aussagen einer Reihe andrer Personen protokollirt, welche in der
Lage waren, zwei Thatsachen zu bestätigen. Die oberste Stelle in der Liste
derselben nimmt ein gewisser Gomin ein, der vom 9. November 1794 bis zum
Tode des Kronprinzen zusammen mit Laurent und später mit Lahne, welcher
der Nachfolger des letztern wurde, das Amt eines oberste,, Gefängnisaufsehers
versah. Es ist später festgestellt worden, daß die royalistische Partei im Kon¬
vent durch kluge Schachzüge die Wahl dieses ihr als rechtschaffen und gut
monarchisch gesinnten Gehilfen Lanrents durchzusetzen gewußt hatte, weil sie auf
seine Bundesgenossenschaft hofften, und vor allem, weil sie ihm zutraute, daß
er dem Knaben ein humaner Wächter sein werde. Gomin hatte den Prinzen
vor seiner Gefangenschaft nicht gekannt, war also auch nicht imstande, die Iden¬
tität des Gefangenen zu beurteilen. Sie wurde jedoch vierzehn Tage nach
seinem Amtsantritte, an: 23. November 1794, durch eine klassische Zeugin, die
Schwester des Prinzen, festgestellt. An jenem Tage fügte es nämlich ein
— vielleicht vorher verabredeter — Zufall, daß gerade in dem Augenblicke, in
welchem Gomin mit der Schwester des Kronprinzen, der Prinzessin Maria
Theresia, in das eine Treppe höher gelegene Gefängnis der letztern zu gehen
im Begriff stand, der Prinz in Begleitung Lanrents aus der Thür seines
Kerkers heraustrat, um sich zu seinem täglichen Spaziergange nach der Terrasse
des Gefängnisses zu begeben. Die Prinzessin erkannte von der Treppe aus
ihren Bruder aufs bestimmteste und warf demselben einen von schmerzlicher
Sehnsucht erfüllten Blick zu, der dem des Bruders begegnete. Mit diesem
stummen Austausch ihrer Empfindungen mußten sich die unglücklichen Königs¬
kinder begnügen, denn es war von dem Überwachungsausschuß das strengste
Verbot erlassen worden, die Geschwister miteinander in irgendwelchen Verkehr
treten zu lassen. Gomin hat aber durch diese flüchtige Begegnung die ihm
später auch durch die Prinzessin selbst bekräftigte Gewißheit erlangt, daß sein
Gefangener und der königliche Prinz in der That eine und dieselbe Person ge¬
wesen sind. Gomin, der erst im Jahre 1841 im Alter von achtzig Jahren
starb und damals, als er der Wächter der Kinder Ludwigs XVI. wurde, in
der Vollkraft seiner Jahre stand, wurde im Jahre 1817 von der französischen
Polizei als ein Mann im rüstigsten Alter angetroffen, der sich der Einzelheiten
jener drangvollen Zeit im Temple noch aufs genaueste erinnerte und der n. a.
erzählte, daß er von der französischen Regierung nach Freilassung der Prinzessin
Maria Theresia die von ihm erbetene Ermächtigung erhielt, die Prinzessin als
Negierungskommissar nach Wien zu geleiten, wohin sie sich in Gesellschaft des
Vorgenannten und einer Frau von souci, einer Tochter ihrer ehemaligen Gou-


Grcnzbvten III. 1884. 65
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[0521] Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende. frühere Oberküchenmeister der Tuilerien und später auch deS Temple, Meumer, in der königlichen Hofküche Anstellung gefunden habe. Außer dem Zeugnisse des Vorgenannten, das für die historische Beglau¬ bigung des Todes des Dauphin im Temple von höchstem Werte ist, hat mau auch noch die Aussagen einer Reihe andrer Personen protokollirt, welche in der Lage waren, zwei Thatsachen zu bestätigen. Die oberste Stelle in der Liste derselben nimmt ein gewisser Gomin ein, der vom 9. November 1794 bis zum Tode des Kronprinzen zusammen mit Laurent und später mit Lahne, welcher der Nachfolger des letztern wurde, das Amt eines oberste,, Gefängnisaufsehers versah. Es ist später festgestellt worden, daß die royalistische Partei im Kon¬ vent durch kluge Schachzüge die Wahl dieses ihr als rechtschaffen und gut monarchisch gesinnten Gehilfen Lanrents durchzusetzen gewußt hatte, weil sie auf seine Bundesgenossenschaft hofften, und vor allem, weil sie ihm zutraute, daß er dem Knaben ein humaner Wächter sein werde. Gomin hatte den Prinzen vor seiner Gefangenschaft nicht gekannt, war also auch nicht imstande, die Iden¬ tität des Gefangenen zu beurteilen. Sie wurde jedoch vierzehn Tage nach seinem Amtsantritte, an: 23. November 1794, durch eine klassische Zeugin, die Schwester des Prinzen, festgestellt. An jenem Tage fügte es nämlich ein — vielleicht vorher verabredeter — Zufall, daß gerade in dem Augenblicke, in welchem Gomin mit der Schwester des Kronprinzen, der Prinzessin Maria Theresia, in das eine Treppe höher gelegene Gefängnis der letztern zu gehen im Begriff stand, der Prinz in Begleitung Lanrents aus der Thür seines Kerkers heraustrat, um sich zu seinem täglichen Spaziergange nach der Terrasse des Gefängnisses zu begeben. Die Prinzessin erkannte von der Treppe aus ihren Bruder aufs bestimmteste und warf demselben einen von schmerzlicher Sehnsucht erfüllten Blick zu, der dem des Bruders begegnete. Mit diesem stummen Austausch ihrer Empfindungen mußten sich die unglücklichen Königs¬ kinder begnügen, denn es war von dem Überwachungsausschuß das strengste Verbot erlassen worden, die Geschwister miteinander in irgendwelchen Verkehr treten zu lassen. Gomin hat aber durch diese flüchtige Begegnung die ihm später auch durch die Prinzessin selbst bekräftigte Gewißheit erlangt, daß sein Gefangener und der königliche Prinz in der That eine und dieselbe Person ge¬ wesen sind. Gomin, der erst im Jahre 1841 im Alter von achtzig Jahren starb und damals, als er der Wächter der Kinder Ludwigs XVI. wurde, in der Vollkraft seiner Jahre stand, wurde im Jahre 1817 von der französischen Polizei als ein Mann im rüstigsten Alter angetroffen, der sich der Einzelheiten jener drangvollen Zeit im Temple noch aufs genaueste erinnerte und der n. a. erzählte, daß er von der französischen Regierung nach Freilassung der Prinzessin Maria Theresia die von ihm erbetene Ermächtigung erhielt, die Prinzessin als Negierungskommissar nach Wien zu geleiten, wohin sie sich in Gesellschaft des Vorgenannten und einer Frau von souci, einer Tochter ihrer ehemaligen Gou- Grcnzbvten III. 1884. 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/521>, abgerufen am 27.06.2024.