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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

möge, bis der Landwirtschaft die ihr unbedingt notwendige Staatshilfe in aus¬
reichendem Maße zu teil werde.


I. G. weiß.

Das Ende einer weltgeschichtlichen Legende.

s ist seltsam, einen wie starken magischen Bann auf die mensch¬
liche Natur stets das Ungewöhnliche, Abenteuerliche und Rätsel¬
hafte geübt hat und wie häufig selbst scharfsinnige und kritisch
angelegte Geister diesem Zauber, den das Außerordentliche und
Romanhafte unwillkürlich libe, zu ihrem Schaden unterlegen sind,
wenn es schlauen Betrügern gelang, diese gemeinsame Schwäche des Menschen¬
geschlechtes auszubeuten. Die Cagliostro, Schrepfer, Se. Germain, die Abenteurer
und Gauner des vorigen Jahrhunderts, welche die Helden einer Menge galanter
Romane bilden, die falschen Prätendenten und die schwindelhafter Günstlinge,
von denen die Geschichte der menschlichen Thorheit berichtet -- wie hätten sie
ihr Handwerk für längere Zeit üben können, wenn ihnen nicht die bereite
Gläubigkeit vieler erfahrenen und mit gesellschaftlicher Autorität ausgestatteten
Leute zu Hilfe geeilt wäre.

Eines der merkwürdigsten Beispiele aus der neuesten Zeit für die wunder¬
bar berückende Gewalt des Abenteuerlichen bietet die an ungelösten Rätseln
reiche Geschichte der Prätendentschaft, welche der Spandauer Uhrmacher Nauu-
dorff auf den Thron von Frankreich geltend gemacht hat, unter dem Beistande
vieler erleuchteten, gebildeten und juristisch geschulten Bundesgenossen, die mit der
ganzen Kraft hoher sittlicher Überzeugung für das vermeintlich mit Füßen ge¬
tretene Recht eines vom Schicksal Verfolgten öffentlich und noch bis in die
letzten Jahre hinein in die Schranken getreten find. Es braucht zur bessern
Illustration dieses seltsamen Umstandes nur auf die überraschende Thatsache
hingewiesen werden, daß kein geringerer als Jules Favre dreißig Jahre laug
die Rechtsansprüche dieses angeblichen Thronanwärters verfochten hat, und daß
sogar die holländische Regierung der Familie die fürstlichen Ehren- und Hoheits¬
prädikate zuerkannt hat, obschon es heute bis zur zweifellosen Gewißheit fest¬
gestellt ist, daß jener Naundorff ein ungemein gewandter Betrüger gewesen und
daß der wahre Ludwig XVII. am 8. Juni 1795 im sogenannten Temple zu
Paris gestorben ist.

Für diejenigen, welche die von der französischen Akademie gekrönte Arbeit
des angesehenen Nrchivdirektors A. de Beauchesue: I^ouis XVII. Lu. ?is, son


Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende.

möge, bis der Landwirtschaft die ihr unbedingt notwendige Staatshilfe in aus¬
reichendem Maße zu teil werde.


I. G. weiß.

Das Ende einer weltgeschichtlichen Legende.

s ist seltsam, einen wie starken magischen Bann auf die mensch¬
liche Natur stets das Ungewöhnliche, Abenteuerliche und Rätsel¬
hafte geübt hat und wie häufig selbst scharfsinnige und kritisch
angelegte Geister diesem Zauber, den das Außerordentliche und
Romanhafte unwillkürlich libe, zu ihrem Schaden unterlegen sind,
wenn es schlauen Betrügern gelang, diese gemeinsame Schwäche des Menschen¬
geschlechtes auszubeuten. Die Cagliostro, Schrepfer, Se. Germain, die Abenteurer
und Gauner des vorigen Jahrhunderts, welche die Helden einer Menge galanter
Romane bilden, die falschen Prätendenten und die schwindelhafter Günstlinge,
von denen die Geschichte der menschlichen Thorheit berichtet — wie hätten sie
ihr Handwerk für längere Zeit üben können, wenn ihnen nicht die bereite
Gläubigkeit vieler erfahrenen und mit gesellschaftlicher Autorität ausgestatteten
Leute zu Hilfe geeilt wäre.

Eines der merkwürdigsten Beispiele aus der neuesten Zeit für die wunder¬
bar berückende Gewalt des Abenteuerlichen bietet die an ungelösten Rätseln
reiche Geschichte der Prätendentschaft, welche der Spandauer Uhrmacher Nauu-
dorff auf den Thron von Frankreich geltend gemacht hat, unter dem Beistande
vieler erleuchteten, gebildeten und juristisch geschulten Bundesgenossen, die mit der
ganzen Kraft hoher sittlicher Überzeugung für das vermeintlich mit Füßen ge¬
tretene Recht eines vom Schicksal Verfolgten öffentlich und noch bis in die
letzten Jahre hinein in die Schranken getreten find. Es braucht zur bessern
Illustration dieses seltsamen Umstandes nur auf die überraschende Thatsache
hingewiesen werden, daß kein geringerer als Jules Favre dreißig Jahre laug
die Rechtsansprüche dieses angeblichen Thronanwärters verfochten hat, und daß
sogar die holländische Regierung der Familie die fürstlichen Ehren- und Hoheits¬
prädikate zuerkannt hat, obschon es heute bis zur zweifellosen Gewißheit fest¬
gestellt ist, daß jener Naundorff ein ungemein gewandter Betrüger gewesen und
daß der wahre Ludwig XVII. am 8. Juni 1795 im sogenannten Temple zu
Paris gestorben ist.

Für diejenigen, welche die von der französischen Akademie gekrönte Arbeit
des angesehenen Nrchivdirektors A. de Beauchesue: I^ouis XVII. Lu. ?is, son


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[0518] Das Lüde einer weltgeschichtlichen Legende. möge, bis der Landwirtschaft die ihr unbedingt notwendige Staatshilfe in aus¬ reichendem Maße zu teil werde. I. G. weiß. [Abbildung] Das Ende einer weltgeschichtlichen Legende. s ist seltsam, einen wie starken magischen Bann auf die mensch¬ liche Natur stets das Ungewöhnliche, Abenteuerliche und Rätsel¬ hafte geübt hat und wie häufig selbst scharfsinnige und kritisch angelegte Geister diesem Zauber, den das Außerordentliche und Romanhafte unwillkürlich libe, zu ihrem Schaden unterlegen sind, wenn es schlauen Betrügern gelang, diese gemeinsame Schwäche des Menschen¬ geschlechtes auszubeuten. Die Cagliostro, Schrepfer, Se. Germain, die Abenteurer und Gauner des vorigen Jahrhunderts, welche die Helden einer Menge galanter Romane bilden, die falschen Prätendenten und die schwindelhafter Günstlinge, von denen die Geschichte der menschlichen Thorheit berichtet — wie hätten sie ihr Handwerk für längere Zeit üben können, wenn ihnen nicht die bereite Gläubigkeit vieler erfahrenen und mit gesellschaftlicher Autorität ausgestatteten Leute zu Hilfe geeilt wäre. Eines der merkwürdigsten Beispiele aus der neuesten Zeit für die wunder¬ bar berückende Gewalt des Abenteuerlichen bietet die an ungelösten Rätseln reiche Geschichte der Prätendentschaft, welche der Spandauer Uhrmacher Nauu- dorff auf den Thron von Frankreich geltend gemacht hat, unter dem Beistande vieler erleuchteten, gebildeten und juristisch geschulten Bundesgenossen, die mit der ganzen Kraft hoher sittlicher Überzeugung für das vermeintlich mit Füßen ge¬ tretene Recht eines vom Schicksal Verfolgten öffentlich und noch bis in die letzten Jahre hinein in die Schranken getreten find. Es braucht zur bessern Illustration dieses seltsamen Umstandes nur auf die überraschende Thatsache hingewiesen werden, daß kein geringerer als Jules Favre dreißig Jahre laug die Rechtsansprüche dieses angeblichen Thronanwärters verfochten hat, und daß sogar die holländische Regierung der Familie die fürstlichen Ehren- und Hoheits¬ prädikate zuerkannt hat, obschon es heute bis zur zweifellosen Gewißheit fest¬ gestellt ist, daß jener Naundorff ein ungemein gewandter Betrüger gewesen und daß der wahre Ludwig XVII. am 8. Juni 1795 im sogenannten Temple zu Paris gestorben ist. Für diejenigen, welche die von der französischen Akademie gekrönte Arbeit des angesehenen Nrchivdirektors A. de Beauchesue: I^ouis XVII. Lu. ?is, son

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/518>, abgerufen am 27.09.2024.