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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Kleine Goethiana.

Liebe, wo ist da Ersaz für? -- O wenn ich manchmal von Gedanken in Ge¬
danken sinke, freundliche Träume der Vergangenheit vor meine Seele bringe,
hoffnungsvolle Zukunft ahnde, und so in des Mondes Dämmerung, meinen
Garten auf und ab walte; dann mich's auf einmal ergreifst! ergreifst daß ich
allein bin; vergebens nach allen vier Winden meine Arme ausstrecke" oder im
dritten Akt: "Wie oft bin ich Thörinn auf und ab gelaufen, hier, und habe
geweint, geklagt" -- so sind damit deutlich die Situationen bezeichnet, aus
denen das Lied aufgefaßt sein will. Als ein Beweis dafür, daß die "Stella"
wenn auch nicht dieselbe, doch eine ähnliche Teilnahme erweckte wie der "Werther,"
ist das Gedicht nicht ohne Wert; es verhält sich zu den höhnischen Fort¬
setzungen, die das Schauspiel fand, ähnlich wie "Lotte bei Werthers Grabe"
zu den "Freuden des Jungen Werthers" und den "Leiden und Freuden Werthers
des Mannes." Wer mag der Verfasser sein?


Gin archäologisches Gutachten. ^300.

Im ersten Hefte des Jahrganges 1879 der Grenzboten habe ich nach¬
gewiesen, daß der unter Goethes Schriften zur Kunst stehende Aufsatz "Nachricht
von altdeutschen, in Leipzig entdeckten Kunstschätzen" nur zum kleinsten Teile
Goethes Eigentum ist, vielmehr von dem Leipziger Kaufmann I. G. Qucindt
herrührt und von Goethe für die Veröffentlichung im "Morgenblatt" (1815)
nur etwas redigirt worden ist. Für den Ausfall, den dieser Nachweis veranlaßt
hat, kann ich jetzt einen Ersatz bieten durch ein bisher unbekanntes archäologisches
Gutachten Goethes aus dem Jahre 1800.

Der kunstsinnige Leipziger Bankier Kammerrat Christian Gottlob Frege
(vgl. über ihn und seine geschäftlichen Beziehungen zu Goethe: W. v. Biedermann,
Goethe in Leipzig II, S. 157) besaß eine antike Statuette, über deren Wert
und Bedeutung er von sachkundiger Seite etwas Zuverlässiges zu erfahren
wünschte. Er schickte sie nach Weimar an Goethe und erhielt sie von diesem
nach einiger Zeit zurück (Juli 1800) mit einem Briefe, dem ein besonderer
kleiner Aufsatz über das Werk beigelegt war. Elf Jahre später, als der bekannte
Archäolog Böttiger in Leipzig zu Besuch war, ergriff Frege die Gelegenheit,
auch diesen um seine Meinung über die kleine Antike zu befragen, und Böttiger,
dem das Goethische Gutachten jedenfalls vorgelegt worden war, verfaßte eins
von ähnlicher Ausführlichkeit, das dem Goethischen mehrfach widersprach.

Im nachfolgenden teile ich alle drei Schriftstücke, Goethes Brief an Frege
und die beiden Aufsätze über die Statuette, wörtlich mit. Der Brief ist ganz
eigenhändig von Goethe auf einen halben Bogen in Quart geschrieben; die
Adresse fehlt. Von den beiden Gutachten ist das Goethische ebenfalls ganz
eigenhändig; das Böttigersche ist von Schreibcrhand geschrieben, Böttiger selbst


Kleine Goethiana.

Liebe, wo ist da Ersaz für? — O wenn ich manchmal von Gedanken in Ge¬
danken sinke, freundliche Träume der Vergangenheit vor meine Seele bringe,
hoffnungsvolle Zukunft ahnde, und so in des Mondes Dämmerung, meinen
Garten auf und ab walte; dann mich's auf einmal ergreifst! ergreifst daß ich
allein bin; vergebens nach allen vier Winden meine Arme ausstrecke" oder im
dritten Akt: „Wie oft bin ich Thörinn auf und ab gelaufen, hier, und habe
geweint, geklagt" — so sind damit deutlich die Situationen bezeichnet, aus
denen das Lied aufgefaßt sein will. Als ein Beweis dafür, daß die „Stella"
wenn auch nicht dieselbe, doch eine ähnliche Teilnahme erweckte wie der „Werther,"
ist das Gedicht nicht ohne Wert; es verhält sich zu den höhnischen Fort¬
setzungen, die das Schauspiel fand, ähnlich wie „Lotte bei Werthers Grabe"
zu den „Freuden des Jungen Werthers" und den „Leiden und Freuden Werthers
des Mannes." Wer mag der Verfasser sein?


Gin archäologisches Gutachten. ^300.

Im ersten Hefte des Jahrganges 1879 der Grenzboten habe ich nach¬
gewiesen, daß der unter Goethes Schriften zur Kunst stehende Aufsatz „Nachricht
von altdeutschen, in Leipzig entdeckten Kunstschätzen" nur zum kleinsten Teile
Goethes Eigentum ist, vielmehr von dem Leipziger Kaufmann I. G. Qucindt
herrührt und von Goethe für die Veröffentlichung im „Morgenblatt" (1815)
nur etwas redigirt worden ist. Für den Ausfall, den dieser Nachweis veranlaßt
hat, kann ich jetzt einen Ersatz bieten durch ein bisher unbekanntes archäologisches
Gutachten Goethes aus dem Jahre 1800.

Der kunstsinnige Leipziger Bankier Kammerrat Christian Gottlob Frege
(vgl. über ihn und seine geschäftlichen Beziehungen zu Goethe: W. v. Biedermann,
Goethe in Leipzig II, S. 157) besaß eine antike Statuette, über deren Wert
und Bedeutung er von sachkundiger Seite etwas Zuverlässiges zu erfahren
wünschte. Er schickte sie nach Weimar an Goethe und erhielt sie von diesem
nach einiger Zeit zurück (Juli 1800) mit einem Briefe, dem ein besonderer
kleiner Aufsatz über das Werk beigelegt war. Elf Jahre später, als der bekannte
Archäolog Böttiger in Leipzig zu Besuch war, ergriff Frege die Gelegenheit,
auch diesen um seine Meinung über die kleine Antike zu befragen, und Böttiger,
dem das Goethische Gutachten jedenfalls vorgelegt worden war, verfaßte eins
von ähnlicher Ausführlichkeit, das dem Goethischen mehrfach widersprach.

Im nachfolgenden teile ich alle drei Schriftstücke, Goethes Brief an Frege
und die beiden Aufsätze über die Statuette, wörtlich mit. Der Brief ist ganz
eigenhändig von Goethe auf einen halben Bogen in Quart geschrieben; die
Adresse fehlt. Von den beiden Gutachten ist das Goethische ebenfalls ganz
eigenhändig; das Böttigersche ist von Schreibcrhand geschrieben, Böttiger selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/472>, abgerufen am 27.06.2024.