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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das lverk Salzmanns.

die große Individualisirung, welche dort bis zum heutigen Tage geübt wird.
Sie geht soweit, daß je nach dem Wunsche der Eltern und den Fähigkeiten
der Zöglinge dem Einzelnen sein Kursus zurechtgemacht wird. Es kann ein
Knabe im Französischen in der ersten, im Lateinischen in der zweiten und in
Mathematik in der dritten Klasse sitzen. Diese Methode hat offenbar ihre Vor¬
züge vor der gebräuchlichen, nach welcher die Schüler klassenweise und ohne
Berücksichtigung der Individualität durch die Schule hindurchgetrieben werden,
ist aber nur unter ganz besonders günstigen Umständen, einer kleinen Zahl von
Schülern und einer großen von Lehrern durchführbar.

Die Salzmannschen Ideen sind mit großer Pietät bis in die Gegenwart
festgehalten und gepflegt worden, wenn auch Formen und Einzelheiten geändert
wurden. Der Religionsunterricht wurde, wie zu Salzmanns Zeiten, "auf breiter
Grundlage" gegeben; konfessionelle Unterschiede wurden nicht gemacht. Dieser
Unterricht lag prinzipiell in der Hand des Direktors. Juden wurden und
werden nicht aufgenommen, aber auch keine griechischen Katholiken, mit denen
man früher üble Erfahrungen gemacht hat. Aber wird es möglich, wird es
rätlich sein, diese Neutralität beizubehalten? Mit dem teleologischen Beweise
allein kann man heutzutage keine Religionen gründen oder halten.

Im Interesse der Abschließung von fremden Einflüssen wurden die Schüler
auf die Dauer ihres Aufenthaltes in Schnepfenthal vom elterlichen Hause ge¬
löst. Es gab keine Ferien. Aber wenn es bei der Schwierigkeit weiter Reisen
vor hundert Jahren natürlich war, seine Kinder auf Jahre ohne Unterbrechung
wegzugeben, ist es heute nicht grausam, bei der Leichtigkeit des Verkehrs den
Kindern den Besuch des Elternhauses zu verbieten? Kann denn auch das beste
Institut die Familie ersetzen?

Schnepfenthal ist eine Vorschule. Sie bereitet bis Untersekunda des
Gymnasiums vor, sie muß also mit ihren Zielen sich nach diesem Ziele richten.
Ihren ganz freien Standpunkt wird die Schule nur dann bewahren können,
wenn sie völlig unabhängige Schüler hat, Kinder, die kein Examen zu machen
brauchen, deren Existenz gesichert ist. Aber wird die Schule eine genügende
Anzahl von Zöglingen dieser Art erhalten, in eiuer Zeit, wo jeder gebildete
Mensch seine Examina gemacht haben muß?

Und endlich: Ist gegenwärtig noch für Privatschulen ein Bedürfnis vor¬
handen? Privatunternehmungen sind am Orte, wenn die öffentlichen Institute
den berechtigten Ansprüchen nicht entsprechen. Kann man dem öffentlichen
Schulwesen den Vorwurf machen, daß es ungenügend sei?

Das sind die Fragen, welche sich den Leitern der Anstalt beim Beginn des
zweiten Jahrhunderts des Bestehens von Schnepfenthal aufdrängen mußten,
und denen Dr. Ausfeld auch nicht ausgewichen ist. Die Festrede desselben ent¬
hielt einen Rückblick auf das vergangene Jahrhundert und ein Programm, welches
die Weiterentwicklung Schuepfenthals skizzirte. Ich führe aus dem zweiten Teile


Das lverk Salzmanns.

die große Individualisirung, welche dort bis zum heutigen Tage geübt wird.
Sie geht soweit, daß je nach dem Wunsche der Eltern und den Fähigkeiten
der Zöglinge dem Einzelnen sein Kursus zurechtgemacht wird. Es kann ein
Knabe im Französischen in der ersten, im Lateinischen in der zweiten und in
Mathematik in der dritten Klasse sitzen. Diese Methode hat offenbar ihre Vor¬
züge vor der gebräuchlichen, nach welcher die Schüler klassenweise und ohne
Berücksichtigung der Individualität durch die Schule hindurchgetrieben werden,
ist aber nur unter ganz besonders günstigen Umständen, einer kleinen Zahl von
Schülern und einer großen von Lehrern durchführbar.

Die Salzmannschen Ideen sind mit großer Pietät bis in die Gegenwart
festgehalten und gepflegt worden, wenn auch Formen und Einzelheiten geändert
wurden. Der Religionsunterricht wurde, wie zu Salzmanns Zeiten, „auf breiter
Grundlage" gegeben; konfessionelle Unterschiede wurden nicht gemacht. Dieser
Unterricht lag prinzipiell in der Hand des Direktors. Juden wurden und
werden nicht aufgenommen, aber auch keine griechischen Katholiken, mit denen
man früher üble Erfahrungen gemacht hat. Aber wird es möglich, wird es
rätlich sein, diese Neutralität beizubehalten? Mit dem teleologischen Beweise
allein kann man heutzutage keine Religionen gründen oder halten.

Im Interesse der Abschließung von fremden Einflüssen wurden die Schüler
auf die Dauer ihres Aufenthaltes in Schnepfenthal vom elterlichen Hause ge¬
löst. Es gab keine Ferien. Aber wenn es bei der Schwierigkeit weiter Reisen
vor hundert Jahren natürlich war, seine Kinder auf Jahre ohne Unterbrechung
wegzugeben, ist es heute nicht grausam, bei der Leichtigkeit des Verkehrs den
Kindern den Besuch des Elternhauses zu verbieten? Kann denn auch das beste
Institut die Familie ersetzen?

Schnepfenthal ist eine Vorschule. Sie bereitet bis Untersekunda des
Gymnasiums vor, sie muß also mit ihren Zielen sich nach diesem Ziele richten.
Ihren ganz freien Standpunkt wird die Schule nur dann bewahren können,
wenn sie völlig unabhängige Schüler hat, Kinder, die kein Examen zu machen
brauchen, deren Existenz gesichert ist. Aber wird die Schule eine genügende
Anzahl von Zöglingen dieser Art erhalten, in eiuer Zeit, wo jeder gebildete
Mensch seine Examina gemacht haben muß?

Und endlich: Ist gegenwärtig noch für Privatschulen ein Bedürfnis vor¬
handen? Privatunternehmungen sind am Orte, wenn die öffentlichen Institute
den berechtigten Ansprüchen nicht entsprechen. Kann man dem öffentlichen
Schulwesen den Vorwurf machen, daß es ungenügend sei?

Das sind die Fragen, welche sich den Leitern der Anstalt beim Beginn des
zweiten Jahrhunderts des Bestehens von Schnepfenthal aufdrängen mußten,
und denen Dr. Ausfeld auch nicht ausgewichen ist. Die Festrede desselben ent¬
hielt einen Rückblick auf das vergangene Jahrhundert und ein Programm, welches
die Weiterentwicklung Schuepfenthals skizzirte. Ich führe aus dem zweiten Teile


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[0420] Das lverk Salzmanns. die große Individualisirung, welche dort bis zum heutigen Tage geübt wird. Sie geht soweit, daß je nach dem Wunsche der Eltern und den Fähigkeiten der Zöglinge dem Einzelnen sein Kursus zurechtgemacht wird. Es kann ein Knabe im Französischen in der ersten, im Lateinischen in der zweiten und in Mathematik in der dritten Klasse sitzen. Diese Methode hat offenbar ihre Vor¬ züge vor der gebräuchlichen, nach welcher die Schüler klassenweise und ohne Berücksichtigung der Individualität durch die Schule hindurchgetrieben werden, ist aber nur unter ganz besonders günstigen Umständen, einer kleinen Zahl von Schülern und einer großen von Lehrern durchführbar. Die Salzmannschen Ideen sind mit großer Pietät bis in die Gegenwart festgehalten und gepflegt worden, wenn auch Formen und Einzelheiten geändert wurden. Der Religionsunterricht wurde, wie zu Salzmanns Zeiten, „auf breiter Grundlage" gegeben; konfessionelle Unterschiede wurden nicht gemacht. Dieser Unterricht lag prinzipiell in der Hand des Direktors. Juden wurden und werden nicht aufgenommen, aber auch keine griechischen Katholiken, mit denen man früher üble Erfahrungen gemacht hat. Aber wird es möglich, wird es rätlich sein, diese Neutralität beizubehalten? Mit dem teleologischen Beweise allein kann man heutzutage keine Religionen gründen oder halten. Im Interesse der Abschließung von fremden Einflüssen wurden die Schüler auf die Dauer ihres Aufenthaltes in Schnepfenthal vom elterlichen Hause ge¬ löst. Es gab keine Ferien. Aber wenn es bei der Schwierigkeit weiter Reisen vor hundert Jahren natürlich war, seine Kinder auf Jahre ohne Unterbrechung wegzugeben, ist es heute nicht grausam, bei der Leichtigkeit des Verkehrs den Kindern den Besuch des Elternhauses zu verbieten? Kann denn auch das beste Institut die Familie ersetzen? Schnepfenthal ist eine Vorschule. Sie bereitet bis Untersekunda des Gymnasiums vor, sie muß also mit ihren Zielen sich nach diesem Ziele richten. Ihren ganz freien Standpunkt wird die Schule nur dann bewahren können, wenn sie völlig unabhängige Schüler hat, Kinder, die kein Examen zu machen brauchen, deren Existenz gesichert ist. Aber wird die Schule eine genügende Anzahl von Zöglingen dieser Art erhalten, in eiuer Zeit, wo jeder gebildete Mensch seine Examina gemacht haben muß? Und endlich: Ist gegenwärtig noch für Privatschulen ein Bedürfnis vor¬ handen? Privatunternehmungen sind am Orte, wenn die öffentlichen Institute den berechtigten Ansprüchen nicht entsprechen. Kann man dem öffentlichen Schulwesen den Vorwurf machen, daß es ungenügend sei? Das sind die Fragen, welche sich den Leitern der Anstalt beim Beginn des zweiten Jahrhunderts des Bestehens von Schnepfenthal aufdrängen mußten, und denen Dr. Ausfeld auch nicht ausgewichen ist. Die Festrede desselben ent¬ hielt einen Rückblick auf das vergangene Jahrhundert und ein Programm, welches die Weiterentwicklung Schuepfenthals skizzirte. Ich führe aus dem zweiten Teile

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/420>, abgerufen am 22.06.2024.