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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Das Werk Salzmanns.

Salzmcmnschen Gottesverehrungen wie Lieder aus der grauen Vorzeit klingen.
Übrigens widerspricht es auch dem von Salzmann an andern Stellen so aus¬
drücklich betonten Grundsatze, vom Konkreter zum Abstrakten vorzuschreiten, wenn
er auf religiösem Gebiete mit Natural - Religion beginnt und später erst den
konfessionellen Unterricht folgen läßt.

Daß auch sonst Salzmann seiner Zeit manchen Tribut hat zahlen müssen,
wird auch von seineu Freunden anerkannt. Jene Zeit wird durch eine ge-
wisse naive Selbstüberschützung bezeichnet. "Denke! was du erdacht hast, das
ist das absolut wahre!" Einem gedankenlosen Schlendrian gegenüber ist diese
Aufforderung "Denke" gut, aber die guten, nüchternen Herren dachten zwar,
nur nicht immer allzutief. Es ist ja auch natürlich, daß neue Erfindungen über¬
schätzt werden. Die damaligen pädagogischen Methoden der Philanthropen und
andrer waren neue Erfindungen, und man überschätzte sie. Man glaubte in
den Charakteren der Kinder Wachs zu haben, aus dem man unter Garantie
des Erfolges alles mögliche machen könne. Es komme nnr darauf an, den
Zögling zu isoliren und vor übeln Einflüsse zu bewahren. Salzmann spricht
sich in einem Briefe an Campe hierüber folgendermaßen aus: "Exempel wirken
auf Kinder beinahe mehr als Unterricht. In unsrer gegenwärtigen Lage ist es
ohnmöglich, die Kinder vor allen bösen Exempeln zu verwahren. Diese richten
unvermerkt wieder zu gründe, was der redlichste Vater mit vieler Mühe ge¬
pflanzt hat. Wenn also Kinder recht gut werden sollen, so müssen sie in gänz¬
licher Entfernung von der gewöhnlichen menschlichen Gesellschaft in einem Kreise
von unverderbten Gespielen unter der Aufsicht moralisch guter Menschen erzogen
werden. Dies könnte mit der Zeit ein Mittel werden, die Erbsünde auszurotten."
Auf welch kurzsichtiger Verkennung der Kindcsnatur, ja selbst der Menschen¬
natur beruhen solche Ideen! Aber gerade dieser, übrigens Rousseausche Gedanke
hat Salzmann veranlaßt, sein Institut in einen stillen Waldwinkel zu verlegen
und währeud der Dauer der Erziehung die Verbindung des Zöglings mit seiner
Familie gänzlich zu unterbrechen.

Auch die mit soviel Überzeugung vorgetragenen medizinischen Ansichten
stehen auf recht schwachen Füßen. Salzmann befindet sich in Opposition mit
der damals üblichen Verhütungsmethode. Während diese mit Schlafmütze,
Pelzrock und gewalkten Strümpfen der Krankheit vorbeugen wollte, legt er
allen Wert auf die Abhärtung. Merkwürdig, daß gegenwärtig derselbe Streit
geführt wird: denn was will Jäger mit seiner Wvlltheorie anders, als was
vor hundert Jahren von Salzmann bekämpft wurde? Höchst wunderlich ist
Salzmanns Meinung über fremde Medikamente und noch wunderlicher der Vor¬
schlag, sich gegen Infektionskrankheiten, wie die Pocken, durch Abhärtung, häufiges
Betasten und Besuchen der Kranken zu schützen. Das Bestreben, den Erwerbssinn
geflissentlich zu wecken, mag in einer stagnirenden Zeit, wie der des vorigen Jahr¬
hunderts, am Orte gewesen sein, dürfte aber heute kaum als lobenswert erscheinen.


Das Werk Salzmanns.

Salzmcmnschen Gottesverehrungen wie Lieder aus der grauen Vorzeit klingen.
Übrigens widerspricht es auch dem von Salzmann an andern Stellen so aus¬
drücklich betonten Grundsatze, vom Konkreter zum Abstrakten vorzuschreiten, wenn
er auf religiösem Gebiete mit Natural - Religion beginnt und später erst den
konfessionellen Unterricht folgen läßt.

Daß auch sonst Salzmann seiner Zeit manchen Tribut hat zahlen müssen,
wird auch von seineu Freunden anerkannt. Jene Zeit wird durch eine ge-
wisse naive Selbstüberschützung bezeichnet. „Denke! was du erdacht hast, das
ist das absolut wahre!" Einem gedankenlosen Schlendrian gegenüber ist diese
Aufforderung „Denke" gut, aber die guten, nüchternen Herren dachten zwar,
nur nicht immer allzutief. Es ist ja auch natürlich, daß neue Erfindungen über¬
schätzt werden. Die damaligen pädagogischen Methoden der Philanthropen und
andrer waren neue Erfindungen, und man überschätzte sie. Man glaubte in
den Charakteren der Kinder Wachs zu haben, aus dem man unter Garantie
des Erfolges alles mögliche machen könne. Es komme nnr darauf an, den
Zögling zu isoliren und vor übeln Einflüsse zu bewahren. Salzmann spricht
sich in einem Briefe an Campe hierüber folgendermaßen aus: „Exempel wirken
auf Kinder beinahe mehr als Unterricht. In unsrer gegenwärtigen Lage ist es
ohnmöglich, die Kinder vor allen bösen Exempeln zu verwahren. Diese richten
unvermerkt wieder zu gründe, was der redlichste Vater mit vieler Mühe ge¬
pflanzt hat. Wenn also Kinder recht gut werden sollen, so müssen sie in gänz¬
licher Entfernung von der gewöhnlichen menschlichen Gesellschaft in einem Kreise
von unverderbten Gespielen unter der Aufsicht moralisch guter Menschen erzogen
werden. Dies könnte mit der Zeit ein Mittel werden, die Erbsünde auszurotten."
Auf welch kurzsichtiger Verkennung der Kindcsnatur, ja selbst der Menschen¬
natur beruhen solche Ideen! Aber gerade dieser, übrigens Rousseausche Gedanke
hat Salzmann veranlaßt, sein Institut in einen stillen Waldwinkel zu verlegen
und währeud der Dauer der Erziehung die Verbindung des Zöglings mit seiner
Familie gänzlich zu unterbrechen.

Auch die mit soviel Überzeugung vorgetragenen medizinischen Ansichten
stehen auf recht schwachen Füßen. Salzmann befindet sich in Opposition mit
der damals üblichen Verhütungsmethode. Während diese mit Schlafmütze,
Pelzrock und gewalkten Strümpfen der Krankheit vorbeugen wollte, legt er
allen Wert auf die Abhärtung. Merkwürdig, daß gegenwärtig derselbe Streit
geführt wird: denn was will Jäger mit seiner Wvlltheorie anders, als was
vor hundert Jahren von Salzmann bekämpft wurde? Höchst wunderlich ist
Salzmanns Meinung über fremde Medikamente und noch wunderlicher der Vor¬
schlag, sich gegen Infektionskrankheiten, wie die Pocken, durch Abhärtung, häufiges
Betasten und Besuchen der Kranken zu schützen. Das Bestreben, den Erwerbssinn
geflissentlich zu wecken, mag in einer stagnirenden Zeit, wie der des vorigen Jahr¬
hunderts, am Orte gewesen sein, dürfte aber heute kaum als lobenswert erscheinen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/418>, abgerufen am 22.06.2024.