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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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David d'Angers.

und des Gesichts auch äußerlich zur Anschauung zu bringen, traf er mit den
Lehren und Hypothesen der Physiognomiker und Phrenologen zusammen. La-
vater, Gall und Spurzheim wurden seine Leitsterne, und an der Hand dieser
Führer geriet er bald auf einen abschüssigen Weg, der ihn zu mannichfachen
Übertreibungen verleitete. Das für uns Deutsche interessanteste Beispiel dieser
übertriebenen Sucht nach Betonung derjenigen Organe, welche zum Ausdruck
geistiger Funktionen dienen sollen, ist die kolossale Marmorbüste Goethes in
der Bibliothek zu Weimar. David war im Angust 1829 nach Weimar ge¬
kommen, wo er ein Medaillon Goethes und seinen Kopf modellirte, um den¬
selben später in Paris in Marmor auszuführen. Der französische Bildhauer
machte auf Goethe einen so bedeutenden Eindruck, daß dieser ihm beim Abschied
sagte: "Wir müssen uns wiedersehen." Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Als David im Jahre 1834 Deutschland zum zweitenmcile besuchte, war Goethe
nicht mehr. Aber die vollendete Büste sah der Dichter noch. Am 13. August
1831 schrieb Goethe an Zelter, daß dieselbe in Weimar angelangt wäre.
In dem Begleitbrief hatte David gesagt: "Es war mir das unverdiente Glück
aufbewahrt, die Züge des Größten, Erhabensten nachzubilden. Ich bringe
Ihnen diese schwache Nachbildung Ihrer Züge dar, nicht als ein Ihrer wür¬
diges Geschenk, sondern als den Ausdruck eines Herzens, das besser sühlt als
es ausdrücken kann. Sie sind die große Dichtcrgestalt unsrer Epoche; sie ist
Ihnen eine Bildsäule schuldig; aber ich habe gewagt, nur ein Bruchstück der¬
selben zu bilden; ein Genius, der Ihrer würdiger ist, wird sie vollenden."
Der Kopf endet nämlich nicht in einen regelmäßigen Büstenfuß, sondern der
Hals ist schroff abgebrochen, sodaß David wohl von dem "Fragment einer
Statue" reden konnte. Unter allen Porträts des Dichters, welche wir von
der Hand von Zeitgenossen besitzen, ist die Arbeit des Franzosen unzweifelhaft
die geistvollste, aber auch die bizarrste. Der ironische Zug um die Lippen ist
übermäßig betont, und die starke Wölbung der Stirn geht vollends ins ma߬
lose über. Man glaubt nicht einen geistig vor vielen Tausenden bevorzugten
Menschen vor sich zu haben, sondern jene abnorme Schädelbildung, welche die
vulgäre Sprache als "Wasserkopf" bezeichnet. Die Franzosen haben übrigens
an diesen Übertreibungen keinen Anstoß genommen. Wenigstens schreibt Charles
Blanc im Angesicht des Medaillons: "Sein wunderbarer Schädel, sein träu¬
merisches verschleiertes Auge, der zusammengekniffene Mund, dessen Unterlippe
emporgezogen ist, das zitternde und atmende Fleisch sind ebensoviele lebendige
und beredte Merkmale der universellen Anlage des Dichters, seiner Fähigkeit,
das Leben nach allen Richtungen zu erweitern, seiner Neigung zur Ironie und
seiner Kraft. Diese auf der Welt vielleicht einzige Stirn ist zugleich senkrecht
aufsteigend und abgeplattet; sie beginnt mit der Nachdenklichkeit und endigt in
der Begeisterung. Es ist die Stirn eines lyrisch angelegten Philosophen, eines
Voltaire, welcher neben der Gabe des Spottes auch Gedankentiefe besitzt. Die


David d'Angers.

und des Gesichts auch äußerlich zur Anschauung zu bringen, traf er mit den
Lehren und Hypothesen der Physiognomiker und Phrenologen zusammen. La-
vater, Gall und Spurzheim wurden seine Leitsterne, und an der Hand dieser
Führer geriet er bald auf einen abschüssigen Weg, der ihn zu mannichfachen
Übertreibungen verleitete. Das für uns Deutsche interessanteste Beispiel dieser
übertriebenen Sucht nach Betonung derjenigen Organe, welche zum Ausdruck
geistiger Funktionen dienen sollen, ist die kolossale Marmorbüste Goethes in
der Bibliothek zu Weimar. David war im Angust 1829 nach Weimar ge¬
kommen, wo er ein Medaillon Goethes und seinen Kopf modellirte, um den¬
selben später in Paris in Marmor auszuführen. Der französische Bildhauer
machte auf Goethe einen so bedeutenden Eindruck, daß dieser ihm beim Abschied
sagte: „Wir müssen uns wiedersehen." Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Als David im Jahre 1834 Deutschland zum zweitenmcile besuchte, war Goethe
nicht mehr. Aber die vollendete Büste sah der Dichter noch. Am 13. August
1831 schrieb Goethe an Zelter, daß dieselbe in Weimar angelangt wäre.
In dem Begleitbrief hatte David gesagt: „Es war mir das unverdiente Glück
aufbewahrt, die Züge des Größten, Erhabensten nachzubilden. Ich bringe
Ihnen diese schwache Nachbildung Ihrer Züge dar, nicht als ein Ihrer wür¬
diges Geschenk, sondern als den Ausdruck eines Herzens, das besser sühlt als
es ausdrücken kann. Sie sind die große Dichtcrgestalt unsrer Epoche; sie ist
Ihnen eine Bildsäule schuldig; aber ich habe gewagt, nur ein Bruchstück der¬
selben zu bilden; ein Genius, der Ihrer würdiger ist, wird sie vollenden."
Der Kopf endet nämlich nicht in einen regelmäßigen Büstenfuß, sondern der
Hals ist schroff abgebrochen, sodaß David wohl von dem „Fragment einer
Statue" reden konnte. Unter allen Porträts des Dichters, welche wir von
der Hand von Zeitgenossen besitzen, ist die Arbeit des Franzosen unzweifelhaft
die geistvollste, aber auch die bizarrste. Der ironische Zug um die Lippen ist
übermäßig betont, und die starke Wölbung der Stirn geht vollends ins ma߬
lose über. Man glaubt nicht einen geistig vor vielen Tausenden bevorzugten
Menschen vor sich zu haben, sondern jene abnorme Schädelbildung, welche die
vulgäre Sprache als „Wasserkopf" bezeichnet. Die Franzosen haben übrigens
an diesen Übertreibungen keinen Anstoß genommen. Wenigstens schreibt Charles
Blanc im Angesicht des Medaillons: „Sein wunderbarer Schädel, sein träu¬
merisches verschleiertes Auge, der zusammengekniffene Mund, dessen Unterlippe
emporgezogen ist, das zitternde und atmende Fleisch sind ebensoviele lebendige
und beredte Merkmale der universellen Anlage des Dichters, seiner Fähigkeit,
das Leben nach allen Richtungen zu erweitern, seiner Neigung zur Ironie und
seiner Kraft. Diese auf der Welt vielleicht einzige Stirn ist zugleich senkrecht
aufsteigend und abgeplattet; sie beginnt mit der Nachdenklichkeit und endigt in
der Begeisterung. Es ist die Stirn eines lyrisch angelegten Philosophen, eines
Voltaire, welcher neben der Gabe des Spottes auch Gedankentiefe besitzt. Die


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[0391] David d'Angers. und des Gesichts auch äußerlich zur Anschauung zu bringen, traf er mit den Lehren und Hypothesen der Physiognomiker und Phrenologen zusammen. La- vater, Gall und Spurzheim wurden seine Leitsterne, und an der Hand dieser Führer geriet er bald auf einen abschüssigen Weg, der ihn zu mannichfachen Übertreibungen verleitete. Das für uns Deutsche interessanteste Beispiel dieser übertriebenen Sucht nach Betonung derjenigen Organe, welche zum Ausdruck geistiger Funktionen dienen sollen, ist die kolossale Marmorbüste Goethes in der Bibliothek zu Weimar. David war im Angust 1829 nach Weimar ge¬ kommen, wo er ein Medaillon Goethes und seinen Kopf modellirte, um den¬ selben später in Paris in Marmor auszuführen. Der französische Bildhauer machte auf Goethe einen so bedeutenden Eindruck, daß dieser ihm beim Abschied sagte: „Wir müssen uns wiedersehen." Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Als David im Jahre 1834 Deutschland zum zweitenmcile besuchte, war Goethe nicht mehr. Aber die vollendete Büste sah der Dichter noch. Am 13. August 1831 schrieb Goethe an Zelter, daß dieselbe in Weimar angelangt wäre. In dem Begleitbrief hatte David gesagt: „Es war mir das unverdiente Glück aufbewahrt, die Züge des Größten, Erhabensten nachzubilden. Ich bringe Ihnen diese schwache Nachbildung Ihrer Züge dar, nicht als ein Ihrer wür¬ diges Geschenk, sondern als den Ausdruck eines Herzens, das besser sühlt als es ausdrücken kann. Sie sind die große Dichtcrgestalt unsrer Epoche; sie ist Ihnen eine Bildsäule schuldig; aber ich habe gewagt, nur ein Bruchstück der¬ selben zu bilden; ein Genius, der Ihrer würdiger ist, wird sie vollenden." Der Kopf endet nämlich nicht in einen regelmäßigen Büstenfuß, sondern der Hals ist schroff abgebrochen, sodaß David wohl von dem „Fragment einer Statue" reden konnte. Unter allen Porträts des Dichters, welche wir von der Hand von Zeitgenossen besitzen, ist die Arbeit des Franzosen unzweifelhaft die geistvollste, aber auch die bizarrste. Der ironische Zug um die Lippen ist übermäßig betont, und die starke Wölbung der Stirn geht vollends ins ma߬ lose über. Man glaubt nicht einen geistig vor vielen Tausenden bevorzugten Menschen vor sich zu haben, sondern jene abnorme Schädelbildung, welche die vulgäre Sprache als „Wasserkopf" bezeichnet. Die Franzosen haben übrigens an diesen Übertreibungen keinen Anstoß genommen. Wenigstens schreibt Charles Blanc im Angesicht des Medaillons: „Sein wunderbarer Schädel, sein träu¬ merisches verschleiertes Auge, der zusammengekniffene Mund, dessen Unterlippe emporgezogen ist, das zitternde und atmende Fleisch sind ebensoviele lebendige und beredte Merkmale der universellen Anlage des Dichters, seiner Fähigkeit, das Leben nach allen Richtungen zu erweitern, seiner Neigung zur Ironie und seiner Kraft. Diese auf der Welt vielleicht einzige Stirn ist zugleich senkrecht aufsteigend und abgeplattet; sie beginnt mit der Nachdenklichkeit und endigt in der Begeisterung. Es ist die Stirn eines lyrisch angelegten Philosophen, eines Voltaire, welcher neben der Gabe des Spottes auch Gedankentiefe besitzt. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/391>, abgerufen am 21.06.2024.