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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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David d'Angers,

wichtige Angelegenheit war, ging er nach London wegen Walter Scott, nach
Verum wegen seines Nebenbuhlers, des Bildhauers Rauch, nach Weimar Goethes
wegen und nach der Lombardei, "um des großen Nomaden (Byrons) auf dem
Wege zu seinem Tode habhaft zu werden," nach Athen endlich, "um die Bild¬
nisse von Coletti, Cauaris und Fabvier mitzubringen," "Ich habe stets meine
Galerie berühmter Zeitgenossen im Auge, schreibt er, ungeachtet der Verdrie߬
lichkeiten, die ich dabei durchzumachen habe. Um die Erlaubnis zu erhalten,
ein Porträt zu machen, müßte man sich so zu sagen auf die Knie vor einem
Menschen werfen, der danach brennt, eins zu haben. Ich bin erstaunt, daß
meine Schüchternheit verschwindet, sobald es sich um diese Dinge handelt. Ich
sehe nur noch das Werk und vergesse seinen Schöpfer, Ich werde nachsichtig
gegen dieses arme menschliche Gerippe, den Sklaven der geringsten Wechselfälle
der Atmosphäre und der Mückenstiche der Zivilisation. Ich sehe nur das Genie.
Vor ihm neige ich mich; denn es ist unsterblich. Das Gerippe wird bald für
immer verschwinden. Diese Herren würden nicht zu mir kommen; aber ich mache
mir nichts daraus. . . . Ein Bildhauer ist der registrirende Protokollführer für
die Nachwelt. Er ist die Zukunft. (Bei einer andern Gelegenheit sagte er:
Ich bin ein Geschichtschreiber, der die Aufgabe hat, die Physiognomien der
großen Männer der Nachwelt zu überliefern). Eines Tages gewährte mir der
Abbe de Pratt eine Sitzung in einem kleinen Empfangszimmer. Sein Diener
frifirte ihn. Ich sah in nur durch eine Wolke von Puder, unter der ich fast
erstickte. Gleichviel; mein Herz klopfte. Ich verließ ihn ganz mit Puder be¬
deckt; aber ich hatte sein Profil." Das Profil wurde schließlich seine Leiden¬
schaft. "Ich bin immer von einem Profil tief bewegt worden. Das Vorder¬
gesicht blickt uns an; das Profil steht mit andern Wesen in Verbindung. Es
entzieht sich uns und sieht uns nicht einmal. Das Vorderantlitz zeigt uns
mehrere Züge und ist schwerer zu ancilysiren. Das Profil ist die Einheit."

In jener Sammlung von Medaillons, welche sein Sohn in photographischen
Reproduktionen herausgegeben hat, befinden sich allein vierhundertuudsiebzig,
zum größten Teil im Profil wiedergegeben? Köpfe. Dazu kommt noch eine
große Anzahl von Portraitbüsten. Schon mit dieser einen Seite von Davids
Thätigkeit kann sich die Gesamtthätigkeit keines andern französischen Bildhauers
messen, und von ausivärtigen Bildhauern kann nur Rauch hinsichtlich der Pro¬
duktivität mit dem Franzosen verglichen werden. Es muß dabei betont werden,
daß David d'Angers diese Produktivität keineswegs auf Kosten der Durch¬
führung im einzelnen erzielte. Die Medaillons, welche er durchweg allein,
ohne Hilfe von Schülern, modellirte, sind vielmehr mit peinlicher Gewissen¬
haftigkeit bis ins geringste Detail durchgebildet, was ja allein seinem Zwecke
entsprechen konnte. Indem er immer eifriger bestrebt war, in seinen Porträts
die Rasseeigentümlichkeiten nicht bloß, sondern auch die geistigen Eigenschaften
der dargestellten Individuen durch die Betonung gewisser Teile des Schädels


David d'Angers,

wichtige Angelegenheit war, ging er nach London wegen Walter Scott, nach
Verum wegen seines Nebenbuhlers, des Bildhauers Rauch, nach Weimar Goethes
wegen und nach der Lombardei, „um des großen Nomaden (Byrons) auf dem
Wege zu seinem Tode habhaft zu werden," nach Athen endlich, „um die Bild¬
nisse von Coletti, Cauaris und Fabvier mitzubringen," „Ich habe stets meine
Galerie berühmter Zeitgenossen im Auge, schreibt er, ungeachtet der Verdrie߬
lichkeiten, die ich dabei durchzumachen habe. Um die Erlaubnis zu erhalten,
ein Porträt zu machen, müßte man sich so zu sagen auf die Knie vor einem
Menschen werfen, der danach brennt, eins zu haben. Ich bin erstaunt, daß
meine Schüchternheit verschwindet, sobald es sich um diese Dinge handelt. Ich
sehe nur noch das Werk und vergesse seinen Schöpfer, Ich werde nachsichtig
gegen dieses arme menschliche Gerippe, den Sklaven der geringsten Wechselfälle
der Atmosphäre und der Mückenstiche der Zivilisation. Ich sehe nur das Genie.
Vor ihm neige ich mich; denn es ist unsterblich. Das Gerippe wird bald für
immer verschwinden. Diese Herren würden nicht zu mir kommen; aber ich mache
mir nichts daraus. . . . Ein Bildhauer ist der registrirende Protokollführer für
die Nachwelt. Er ist die Zukunft. (Bei einer andern Gelegenheit sagte er:
Ich bin ein Geschichtschreiber, der die Aufgabe hat, die Physiognomien der
großen Männer der Nachwelt zu überliefern). Eines Tages gewährte mir der
Abbe de Pratt eine Sitzung in einem kleinen Empfangszimmer. Sein Diener
frifirte ihn. Ich sah in nur durch eine Wolke von Puder, unter der ich fast
erstickte. Gleichviel; mein Herz klopfte. Ich verließ ihn ganz mit Puder be¬
deckt; aber ich hatte sein Profil." Das Profil wurde schließlich seine Leiden¬
schaft. „Ich bin immer von einem Profil tief bewegt worden. Das Vorder¬
gesicht blickt uns an; das Profil steht mit andern Wesen in Verbindung. Es
entzieht sich uns und sieht uns nicht einmal. Das Vorderantlitz zeigt uns
mehrere Züge und ist schwerer zu ancilysiren. Das Profil ist die Einheit."

In jener Sammlung von Medaillons, welche sein Sohn in photographischen
Reproduktionen herausgegeben hat, befinden sich allein vierhundertuudsiebzig,
zum größten Teil im Profil wiedergegeben? Köpfe. Dazu kommt noch eine
große Anzahl von Portraitbüsten. Schon mit dieser einen Seite von Davids
Thätigkeit kann sich die Gesamtthätigkeit keines andern französischen Bildhauers
messen, und von ausivärtigen Bildhauern kann nur Rauch hinsichtlich der Pro¬
duktivität mit dem Franzosen verglichen werden. Es muß dabei betont werden,
daß David d'Angers diese Produktivität keineswegs auf Kosten der Durch¬
führung im einzelnen erzielte. Die Medaillons, welche er durchweg allein,
ohne Hilfe von Schülern, modellirte, sind vielmehr mit peinlicher Gewissen¬
haftigkeit bis ins geringste Detail durchgebildet, was ja allein seinem Zwecke
entsprechen konnte. Indem er immer eifriger bestrebt war, in seinen Porträts
die Rasseeigentümlichkeiten nicht bloß, sondern auch die geistigen Eigenschaften
der dargestellten Individuen durch die Betonung gewisser Teile des Schädels


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/390>, abgerufen am 21.06.2024.