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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Zur preußischen vormiindschaftsordmmg.

welche das inzwischen zur Rezeption gelangte römische Recht an die Vormünder
stellte und welche dem moralischen Bewußtsein der gebildeten Klassen entsprachen,
hätten sich ohne das energische Eingreifen der Obrigkeit mich kaum verwirklichen
lassen. Daher bestimmte die Reichspolizeiordnung von 1548, "daß ein jeglicher
Vormünder, er sei gleich in Testaments Weis' verordnet, oder durch das Recht
und den Richter gegeben, der Vormundschaft sich uicht unterziehen solle, die Ver¬
waltung sei ihm denn zuvor durch die Obrigkeit shier die politische Behörde^
dezerniret und befohlen." Seitdem war es in Deutschland allgemein Rechtens,
daß die Vormünder vom Staate allein bestellt wurden, als seine Beamten, und
unter seiner steten Aufsicht und Kontrole die Vormundschaft verwalteten und
bei allen wichtigeren Rechtshandlungen an die staatliche Genehmigung gebunden
waren. Auf diesem Boden stand auch noch das preußische Allgemeine Land-
recht, das die Rechte und Pflichten des Vormunds und des Vormundschafts¬
gerichts genau abgegrenzt und bis ius einzelne festgestellt hat. Erst der neuesten
Zeit war es vorbehalten, mit diesen Prinzipien zu brechen. Zum Teil unter
der Einwirkung des in der Rheinprovinz geltenden französischen Rechts, in
welchem sich die Familien-Autonomie der staatlichen Obervormundschaft gegen¬
über mehr als in Deutschland erhalten hatte, zum Teil unter dem Einflüsse
der nach Selbstverwaltung auf allen Gebieten strebenden Zeitrichtung, machte
sich in den letzten Jahrzehnten in Preußen eine starke Reaktion gegen das an¬
geblich zu weit getriebene staatliche Aufsichtsrecht geltend, welche immer dringender
größere Selbständigkeit der Vormünder bei der Vermögensverwaltung verlangte
und schließlich in der seit dem 1. Januar 1876 für das ganze Gebiet der
preußischen Monarchie geltenden Vormundschaftsordnung vom 5. Juli 1875
einen vollständigen Sieg davontrug. Diese Vormuudschaftsordnung hat den
Vormündern eine Selbständigkeit gegeben, welche dieselben seit dem frühen
Mittelalter in Deutschland nicht mehr besessen haben. Während der Staat jetzt
in den sozialpolitischen Gesetzen es unternimmt, in weiteren Umfange, als dies
jemals früher geschehen, für die Schwachen und Hilflosen der Gesellschaft zu
sorgen, hat er sich die seit Jahrhunderten geführten Zügel in der
Vormundschaftsverwaltung entgleiten lassen. Die Fürsorge für das
Alter durch Zwangsversicherung und die Fürsorge für die Jugend durch Erhal¬
tung ihres Vermögens sind aber homogene Kulturabgaben, von denen die letz¬
tere sogar die wichtigere ist, und doch hat der Staat gerade diese aufgegeben,
während er die Erfüllung der erster" anstrebt!

Bevor wir die Folgen dieses Schrittes erörtern, niüssen wir uns zunächst
fragen, ob die Reaktion gegen das Landrecht gerechtfertigt war, ob die Vor¬
schriften desselben wirklich, wie behauptet wurde, die Selbständigkeit des Vor¬
mundes soweit einschränkten, daß ihm ein ersprießliches Wirken im Interesse
des Mündels erschwert oder gar unmöglich gemacht wurde. Wir müssen
dies verneinen. Das Landrecht gab dem Vormunde freien Spielraum zur


Zur preußischen vormiindschaftsordmmg.

welche das inzwischen zur Rezeption gelangte römische Recht an die Vormünder
stellte und welche dem moralischen Bewußtsein der gebildeten Klassen entsprachen,
hätten sich ohne das energische Eingreifen der Obrigkeit mich kaum verwirklichen
lassen. Daher bestimmte die Reichspolizeiordnung von 1548, „daß ein jeglicher
Vormünder, er sei gleich in Testaments Weis' verordnet, oder durch das Recht
und den Richter gegeben, der Vormundschaft sich uicht unterziehen solle, die Ver¬
waltung sei ihm denn zuvor durch die Obrigkeit shier die politische Behörde^
dezerniret und befohlen." Seitdem war es in Deutschland allgemein Rechtens,
daß die Vormünder vom Staate allein bestellt wurden, als seine Beamten, und
unter seiner steten Aufsicht und Kontrole die Vormundschaft verwalteten und
bei allen wichtigeren Rechtshandlungen an die staatliche Genehmigung gebunden
waren. Auf diesem Boden stand auch noch das preußische Allgemeine Land-
recht, das die Rechte und Pflichten des Vormunds und des Vormundschafts¬
gerichts genau abgegrenzt und bis ius einzelne festgestellt hat. Erst der neuesten
Zeit war es vorbehalten, mit diesen Prinzipien zu brechen. Zum Teil unter
der Einwirkung des in der Rheinprovinz geltenden französischen Rechts, in
welchem sich die Familien-Autonomie der staatlichen Obervormundschaft gegen¬
über mehr als in Deutschland erhalten hatte, zum Teil unter dem Einflüsse
der nach Selbstverwaltung auf allen Gebieten strebenden Zeitrichtung, machte
sich in den letzten Jahrzehnten in Preußen eine starke Reaktion gegen das an¬
geblich zu weit getriebene staatliche Aufsichtsrecht geltend, welche immer dringender
größere Selbständigkeit der Vormünder bei der Vermögensverwaltung verlangte
und schließlich in der seit dem 1. Januar 1876 für das ganze Gebiet der
preußischen Monarchie geltenden Vormundschaftsordnung vom 5. Juli 1875
einen vollständigen Sieg davontrug. Diese Vormuudschaftsordnung hat den
Vormündern eine Selbständigkeit gegeben, welche dieselben seit dem frühen
Mittelalter in Deutschland nicht mehr besessen haben. Während der Staat jetzt
in den sozialpolitischen Gesetzen es unternimmt, in weiteren Umfange, als dies
jemals früher geschehen, für die Schwachen und Hilflosen der Gesellschaft zu
sorgen, hat er sich die seit Jahrhunderten geführten Zügel in der
Vormundschaftsverwaltung entgleiten lassen. Die Fürsorge für das
Alter durch Zwangsversicherung und die Fürsorge für die Jugend durch Erhal¬
tung ihres Vermögens sind aber homogene Kulturabgaben, von denen die letz¬
tere sogar die wichtigere ist, und doch hat der Staat gerade diese aufgegeben,
während er die Erfüllung der erster» anstrebt!

Bevor wir die Folgen dieses Schrittes erörtern, niüssen wir uns zunächst
fragen, ob die Reaktion gegen das Landrecht gerechtfertigt war, ob die Vor¬
schriften desselben wirklich, wie behauptet wurde, die Selbständigkeit des Vor¬
mundes soweit einschränkten, daß ihm ein ersprießliches Wirken im Interesse
des Mündels erschwert oder gar unmöglich gemacht wurde. Wir müssen
dies verneinen. Das Landrecht gab dem Vormunde freien Spielraum zur


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[0368] Zur preußischen vormiindschaftsordmmg. welche das inzwischen zur Rezeption gelangte römische Recht an die Vormünder stellte und welche dem moralischen Bewußtsein der gebildeten Klassen entsprachen, hätten sich ohne das energische Eingreifen der Obrigkeit mich kaum verwirklichen lassen. Daher bestimmte die Reichspolizeiordnung von 1548, „daß ein jeglicher Vormünder, er sei gleich in Testaments Weis' verordnet, oder durch das Recht und den Richter gegeben, der Vormundschaft sich uicht unterziehen solle, die Ver¬ waltung sei ihm denn zuvor durch die Obrigkeit shier die politische Behörde^ dezerniret und befohlen." Seitdem war es in Deutschland allgemein Rechtens, daß die Vormünder vom Staate allein bestellt wurden, als seine Beamten, und unter seiner steten Aufsicht und Kontrole die Vormundschaft verwalteten und bei allen wichtigeren Rechtshandlungen an die staatliche Genehmigung gebunden waren. Auf diesem Boden stand auch noch das preußische Allgemeine Land- recht, das die Rechte und Pflichten des Vormunds und des Vormundschafts¬ gerichts genau abgegrenzt und bis ius einzelne festgestellt hat. Erst der neuesten Zeit war es vorbehalten, mit diesen Prinzipien zu brechen. Zum Teil unter der Einwirkung des in der Rheinprovinz geltenden französischen Rechts, in welchem sich die Familien-Autonomie der staatlichen Obervormundschaft gegen¬ über mehr als in Deutschland erhalten hatte, zum Teil unter dem Einflüsse der nach Selbstverwaltung auf allen Gebieten strebenden Zeitrichtung, machte sich in den letzten Jahrzehnten in Preußen eine starke Reaktion gegen das an¬ geblich zu weit getriebene staatliche Aufsichtsrecht geltend, welche immer dringender größere Selbständigkeit der Vormünder bei der Vermögensverwaltung verlangte und schließlich in der seit dem 1. Januar 1876 für das ganze Gebiet der preußischen Monarchie geltenden Vormundschaftsordnung vom 5. Juli 1875 einen vollständigen Sieg davontrug. Diese Vormuudschaftsordnung hat den Vormündern eine Selbständigkeit gegeben, welche dieselben seit dem frühen Mittelalter in Deutschland nicht mehr besessen haben. Während der Staat jetzt in den sozialpolitischen Gesetzen es unternimmt, in weiteren Umfange, als dies jemals früher geschehen, für die Schwachen und Hilflosen der Gesellschaft zu sorgen, hat er sich die seit Jahrhunderten geführten Zügel in der Vormundschaftsverwaltung entgleiten lassen. Die Fürsorge für das Alter durch Zwangsversicherung und die Fürsorge für die Jugend durch Erhal¬ tung ihres Vermögens sind aber homogene Kulturabgaben, von denen die letz¬ tere sogar die wichtigere ist, und doch hat der Staat gerade diese aufgegeben, während er die Erfüllung der erster» anstrebt! Bevor wir die Folgen dieses Schrittes erörtern, niüssen wir uns zunächst fragen, ob die Reaktion gegen das Landrecht gerechtfertigt war, ob die Vor¬ schriften desselben wirklich, wie behauptet wurde, die Selbständigkeit des Vor¬ mundes soweit einschränkten, daß ihm ein ersprießliches Wirken im Interesse des Mündels erschwert oder gar unmöglich gemacht wurde. Wir müssen dies verneinen. Das Landrecht gab dem Vormunde freien Spielraum zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/368>, abgerufen am 21.06.2024.