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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die deutsche Diaspora im Gsten Europas.

Cholera, Viehseuchen, dürre Jahre und Verheerungen durch Heuschreckenschwärme.
Mehrmals mußte man die Niederlassungen anderswohin verlegen, weil das
Wasser der Steppenbrnnnen ungenießbar wurde oder ganz versiegte. Aber aus
allen diesen Kämpfen gingen diese fleißigen und zähen Deutschen zuletzt als
Sieger hervor. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft vermochten die verschuldeten
kleinen russischen Edelleute sich auf ihrem Grundbesitze nicht mehr zu behaupten,
und da nur die deutschen Nachbarn wohlhabend genug waren, um die betreffenden
Gitter zu kaufen, so gingen dieselben dutzendweise in deren Besitz über, ein
Prozeß, der sich bis 1871 fortsetzte. Der Verfasser giebt eine anschauliche
Schilderung dieser Kolonien. Wir müssen uns begnügen, die Äußerung des
russischen Generalstabsoffiziers Pawlowitsch zu zitiren, der von ihnen sagt: "Ihr
äußerer Anblick unterscheidet sich auffallend von dem aller übrigen Nieder¬
lassungen im Gouvernement, sie bilden gewissermaßen Oasen in der Wüste und
können mit Recht Musterwirtschaften genannt werden."

Bei weitem die bedeutendsten deutschen Kolonien in Rußland sind die an
der Wolga in den Gouvernements Samara und Saratow gelegenen, in welchen
in 170 ganz deutschen Ortschaften 251 749 Menschen wohnen. Die ersten Ein¬
wanderer trafen unter Katharina II. hier ein. Sie stammten aus den ver¬
schiedensten Gegenden Süd- und Norddeutschlands, aus der Schweiz, aus dem
Elsaß und Lothringen, einige auch aus Holland, und es waren nicht wenige
Glücksritter und Abenteurer unter ihnen. Dennoch wurden sie von der russi¬
schen Regierung in freigebigster Weise unterstützt, dieselbe gab für sie nach und
nach über fünf Millionen Rubel aus. Trotz dieser Vergünstigungen schien es
geraume Zeit, als ob die Ansiedler nicht gedeihen würden. Viele waren arbeits¬
scheu. Wiederholt wurden sie ferner durch Einfälle der benachbarten Kirgisen
heimgesucht, und so faßten viele den Entschluß, in die Heimat zurückzukehren.
Man rüstete sich zum Abzüge, und um das fernere Bleiben unmöglich zu machen,
zerstörte man sämtliche Vorräte und zertrümmerte in den Häusern Thüren und
Fenster. Der Plan nahm jedoch ein sehr unheilvolles Ende. "Die erste Schar
vom östlichen Ufer des Flusses, der "Wiesenseite," kam nur bis an die
"Mordiusel" unweit der Kolonie Katharinenstadt, Dort wurden sie von Russen
und Tataren überfallen und sämtlich erschlagen. Eine zweite Abteilung ge¬
langte bis Saratow, wo sie von Kosakenpikets empfangen und in die ver¬
wüsteten Dörfer zurückgetrieben wurden. Gezwungen, im Lande zu bleiben,
rafften die Kolonisten sich empor, und wer heute die schönen, reinlichen und
zum Teile stadtähnlichen Dörfer mit ihren betriebsamen und achtbaren Ein¬
wohnern betrachtet, sollte kaum meinen, daß er in ihnen die Abkömmlinge jener
trägen und verzagten Einwanderer vor sich habe, und daß der seitdem verflossene
Zeitraum so stattliche Früchte zu zeitigen imstande gewesen sei. Auch die Be¬
ziehungen zu den Nachbarvölkern haben sich freundlicher gestaltet. Zeiten wie
diejenigen, wo dem ersten Pastor zu Katharinenstadt von den Kirgisen die Zunge


Die deutsche Diaspora im Gsten Europas.

Cholera, Viehseuchen, dürre Jahre und Verheerungen durch Heuschreckenschwärme.
Mehrmals mußte man die Niederlassungen anderswohin verlegen, weil das
Wasser der Steppenbrnnnen ungenießbar wurde oder ganz versiegte. Aber aus
allen diesen Kämpfen gingen diese fleißigen und zähen Deutschen zuletzt als
Sieger hervor. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft vermochten die verschuldeten
kleinen russischen Edelleute sich auf ihrem Grundbesitze nicht mehr zu behaupten,
und da nur die deutschen Nachbarn wohlhabend genug waren, um die betreffenden
Gitter zu kaufen, so gingen dieselben dutzendweise in deren Besitz über, ein
Prozeß, der sich bis 1871 fortsetzte. Der Verfasser giebt eine anschauliche
Schilderung dieser Kolonien. Wir müssen uns begnügen, die Äußerung des
russischen Generalstabsoffiziers Pawlowitsch zu zitiren, der von ihnen sagt: „Ihr
äußerer Anblick unterscheidet sich auffallend von dem aller übrigen Nieder¬
lassungen im Gouvernement, sie bilden gewissermaßen Oasen in der Wüste und
können mit Recht Musterwirtschaften genannt werden."

Bei weitem die bedeutendsten deutschen Kolonien in Rußland sind die an
der Wolga in den Gouvernements Samara und Saratow gelegenen, in welchen
in 170 ganz deutschen Ortschaften 251 749 Menschen wohnen. Die ersten Ein¬
wanderer trafen unter Katharina II. hier ein. Sie stammten aus den ver¬
schiedensten Gegenden Süd- und Norddeutschlands, aus der Schweiz, aus dem
Elsaß und Lothringen, einige auch aus Holland, und es waren nicht wenige
Glücksritter und Abenteurer unter ihnen. Dennoch wurden sie von der russi¬
schen Regierung in freigebigster Weise unterstützt, dieselbe gab für sie nach und
nach über fünf Millionen Rubel aus. Trotz dieser Vergünstigungen schien es
geraume Zeit, als ob die Ansiedler nicht gedeihen würden. Viele waren arbeits¬
scheu. Wiederholt wurden sie ferner durch Einfälle der benachbarten Kirgisen
heimgesucht, und so faßten viele den Entschluß, in die Heimat zurückzukehren.
Man rüstete sich zum Abzüge, und um das fernere Bleiben unmöglich zu machen,
zerstörte man sämtliche Vorräte und zertrümmerte in den Häusern Thüren und
Fenster. Der Plan nahm jedoch ein sehr unheilvolles Ende. „Die erste Schar
vom östlichen Ufer des Flusses, der »Wiesenseite,« kam nur bis an die
»Mordiusel« unweit der Kolonie Katharinenstadt, Dort wurden sie von Russen
und Tataren überfallen und sämtlich erschlagen. Eine zweite Abteilung ge¬
langte bis Saratow, wo sie von Kosakenpikets empfangen und in die ver¬
wüsteten Dörfer zurückgetrieben wurden. Gezwungen, im Lande zu bleiben,
rafften die Kolonisten sich empor, und wer heute die schönen, reinlichen und
zum Teile stadtähnlichen Dörfer mit ihren betriebsamen und achtbaren Ein¬
wohnern betrachtet, sollte kaum meinen, daß er in ihnen die Abkömmlinge jener
trägen und verzagten Einwanderer vor sich habe, und daß der seitdem verflossene
Zeitraum so stattliche Früchte zu zeitigen imstande gewesen sei. Auch die Be¬
ziehungen zu den Nachbarvölkern haben sich freundlicher gestaltet. Zeiten wie
diejenigen, wo dem ersten Pastor zu Katharinenstadt von den Kirgisen die Zunge


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[0364] Die deutsche Diaspora im Gsten Europas. Cholera, Viehseuchen, dürre Jahre und Verheerungen durch Heuschreckenschwärme. Mehrmals mußte man die Niederlassungen anderswohin verlegen, weil das Wasser der Steppenbrnnnen ungenießbar wurde oder ganz versiegte. Aber aus allen diesen Kämpfen gingen diese fleißigen und zähen Deutschen zuletzt als Sieger hervor. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft vermochten die verschuldeten kleinen russischen Edelleute sich auf ihrem Grundbesitze nicht mehr zu behaupten, und da nur die deutschen Nachbarn wohlhabend genug waren, um die betreffenden Gitter zu kaufen, so gingen dieselben dutzendweise in deren Besitz über, ein Prozeß, der sich bis 1871 fortsetzte. Der Verfasser giebt eine anschauliche Schilderung dieser Kolonien. Wir müssen uns begnügen, die Äußerung des russischen Generalstabsoffiziers Pawlowitsch zu zitiren, der von ihnen sagt: „Ihr äußerer Anblick unterscheidet sich auffallend von dem aller übrigen Nieder¬ lassungen im Gouvernement, sie bilden gewissermaßen Oasen in der Wüste und können mit Recht Musterwirtschaften genannt werden." Bei weitem die bedeutendsten deutschen Kolonien in Rußland sind die an der Wolga in den Gouvernements Samara und Saratow gelegenen, in welchen in 170 ganz deutschen Ortschaften 251 749 Menschen wohnen. Die ersten Ein¬ wanderer trafen unter Katharina II. hier ein. Sie stammten aus den ver¬ schiedensten Gegenden Süd- und Norddeutschlands, aus der Schweiz, aus dem Elsaß und Lothringen, einige auch aus Holland, und es waren nicht wenige Glücksritter und Abenteurer unter ihnen. Dennoch wurden sie von der russi¬ schen Regierung in freigebigster Weise unterstützt, dieselbe gab für sie nach und nach über fünf Millionen Rubel aus. Trotz dieser Vergünstigungen schien es geraume Zeit, als ob die Ansiedler nicht gedeihen würden. Viele waren arbeits¬ scheu. Wiederholt wurden sie ferner durch Einfälle der benachbarten Kirgisen heimgesucht, und so faßten viele den Entschluß, in die Heimat zurückzukehren. Man rüstete sich zum Abzüge, und um das fernere Bleiben unmöglich zu machen, zerstörte man sämtliche Vorräte und zertrümmerte in den Häusern Thüren und Fenster. Der Plan nahm jedoch ein sehr unheilvolles Ende. „Die erste Schar vom östlichen Ufer des Flusses, der »Wiesenseite,« kam nur bis an die »Mordiusel« unweit der Kolonie Katharinenstadt, Dort wurden sie von Russen und Tataren überfallen und sämtlich erschlagen. Eine zweite Abteilung ge¬ langte bis Saratow, wo sie von Kosakenpikets empfangen und in die ver¬ wüsteten Dörfer zurückgetrieben wurden. Gezwungen, im Lande zu bleiben, rafften die Kolonisten sich empor, und wer heute die schönen, reinlichen und zum Teile stadtähnlichen Dörfer mit ihren betriebsamen und achtbaren Ein¬ wohnern betrachtet, sollte kaum meinen, daß er in ihnen die Abkömmlinge jener trägen und verzagten Einwanderer vor sich habe, und daß der seitdem verflossene Zeitraum so stattliche Früchte zu zeitigen imstande gewesen sei. Auch die Be¬ ziehungen zu den Nachbarvölkern haben sich freundlicher gestaltet. Zeiten wie diejenigen, wo dem ersten Pastor zu Katharinenstadt von den Kirgisen die Zunge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/364>, abgerufen am 21.06.2024.