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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die deutsche Diaspora im Vsten Europas.

Linie diesen Ansiedlern zu danken, die schon vor sechzehn Jahren in sechsund-
dreißig Niederlassungen zusammen ungefähr 5000 Seelen zählten. Seitdem
sind jedes Jahr neue Einwanderer hinzugetreten, und heute kann man hier
ziemlich weit reisen, ohne auf ein russisches Dorf zu stoßen. Das sechs Werst
von der Hauptstadt Schitomir gelegene Städtchen Pulisze wird überwiegend von
Deutschen Sulche etwa deutschredcuden Juden?^ bewohnt. Es erfreut sich eines
regen Handelsverkehrs, der durch Jahrmärkte gehoben wird, und bildet den
Anfangspunkt einer langen Reihe ausschließlich deutscher Bauerhöfe, die sich
wesentlich von den russischen unterscheiden. Die deutschen Kolonisten leben hier
nicht in geschlossenen Ortschaften, sondern ihre Besitzungen folgen einander in
langen Zwischenräumen, sodaß sich die nur von vierzig Familien bewohnte
Kolonie Pisarew über eine Meile weit hinstreckt. Die Häuser sind einfach, aber
dauerhaft und bequem gebaut, auch ragen zwischen ihnen bereits die Schorn¬
steine von Dampfmühlen und andern Fabrikanlagen empor.

In Podolien, einem Landstriche mit sehr fruchtbarem Boden, besteht im
Kreise Jmnpol die kleine deutsche Kolonie Krasnodolv, die meisten Deutschen
aber leben hier in dem nördlich von der Hauptstadt Kamjeniec Podolsk ge¬
legenen Städtchen Dunajewzki, wo sich deren unter 2530 Einwohnern 1018
befinden. ^Sollten das nicht wieder dentschrcdende Juden sein?^

Sehr viele und stark bevölkerte deutsche Kolonien treffen wir in Südru߬
land an. Die ersten derselben wurden im Gouvernement Jekaterinoslaw an¬
gelegt, und zwar durch Katharina II. Die ersten Ansiedler kamen vorzüglich
aus Würtemberg, Baden, dein Elsaß, der Pfalz, Hessen und Nassau, einzelne
Familien aus Sachsen, Westfalen, dem Vogtlande, aus Hamburg, aus der
Danziger Gegend, ans Mähren und aus der Schweiz. 1789 folgten diesen
228 westpreußische Mennonitenfamilien, die bei Alexandrowsk am Dujepr acht
Niederlassungen gründeten, und denen 1797 wieder 118 solche Familien nach¬
rückten. Hierzu kamen 1803 abermals 347, die am Nordostrande der Nogaischen
Steppe Land erhielten. Zu diesen ältern Ansiedlern gesellten sich in der Folge
noch andre, sodaß sich die Zahl der im südlichen Nußland wohnenden Menno¬
nitenfamilien bis 1843 auf 873, die der Individuen ans 6376 vermehrte. An
sie schlössen sich die Hutterschen Brüder an, eine aus Tirol stammende, zuerst
"ach Mähren, dann nach der Gegend bei Bukarest und zuletzt in die Pontische
Steppe ausgewanderte Sekte, die hier in fünf Kolonien in Gütergemeinschaft
^de. In den Kreisen Jekaterinoslaw und Alexandrowski existiren gegenwärtig
dreiundzwanzig reindeutschc Niederlassungen, von welchen achtzehn mennonitische
sind. Im Gouvernement Cherson liegt die jxtzt recht ansehnliche Kolonie Liebcn-
thal, mit der acht andre zu einem Kirchspiele vereinigt sind.

Die ersten Anfänge waren fast bei allen diesen Ansiedlungen trauriger
Art. Die russischen Behörden behandelten die Einwanderer trotz der kaiserlichen
Zusicherungen im landesüblichen barbarischen Stile. Dazu kamen Erdbeben, Pest,


Die deutsche Diaspora im Vsten Europas.

Linie diesen Ansiedlern zu danken, die schon vor sechzehn Jahren in sechsund-
dreißig Niederlassungen zusammen ungefähr 5000 Seelen zählten. Seitdem
sind jedes Jahr neue Einwanderer hinzugetreten, und heute kann man hier
ziemlich weit reisen, ohne auf ein russisches Dorf zu stoßen. Das sechs Werst
von der Hauptstadt Schitomir gelegene Städtchen Pulisze wird überwiegend von
Deutschen Sulche etwa deutschredcuden Juden?^ bewohnt. Es erfreut sich eines
regen Handelsverkehrs, der durch Jahrmärkte gehoben wird, und bildet den
Anfangspunkt einer langen Reihe ausschließlich deutscher Bauerhöfe, die sich
wesentlich von den russischen unterscheiden. Die deutschen Kolonisten leben hier
nicht in geschlossenen Ortschaften, sondern ihre Besitzungen folgen einander in
langen Zwischenräumen, sodaß sich die nur von vierzig Familien bewohnte
Kolonie Pisarew über eine Meile weit hinstreckt. Die Häuser sind einfach, aber
dauerhaft und bequem gebaut, auch ragen zwischen ihnen bereits die Schorn¬
steine von Dampfmühlen und andern Fabrikanlagen empor.

In Podolien, einem Landstriche mit sehr fruchtbarem Boden, besteht im
Kreise Jmnpol die kleine deutsche Kolonie Krasnodolv, die meisten Deutschen
aber leben hier in dem nördlich von der Hauptstadt Kamjeniec Podolsk ge¬
legenen Städtchen Dunajewzki, wo sich deren unter 2530 Einwohnern 1018
befinden. ^Sollten das nicht wieder dentschrcdende Juden sein?^

Sehr viele und stark bevölkerte deutsche Kolonien treffen wir in Südru߬
land an. Die ersten derselben wurden im Gouvernement Jekaterinoslaw an¬
gelegt, und zwar durch Katharina II. Die ersten Ansiedler kamen vorzüglich
aus Würtemberg, Baden, dein Elsaß, der Pfalz, Hessen und Nassau, einzelne
Familien aus Sachsen, Westfalen, dem Vogtlande, aus Hamburg, aus der
Danziger Gegend, ans Mähren und aus der Schweiz. 1789 folgten diesen
228 westpreußische Mennonitenfamilien, die bei Alexandrowsk am Dujepr acht
Niederlassungen gründeten, und denen 1797 wieder 118 solche Familien nach¬
rückten. Hierzu kamen 1803 abermals 347, die am Nordostrande der Nogaischen
Steppe Land erhielten. Zu diesen ältern Ansiedlern gesellten sich in der Folge
noch andre, sodaß sich die Zahl der im südlichen Nußland wohnenden Menno¬
nitenfamilien bis 1843 auf 873, die der Individuen ans 6376 vermehrte. An
sie schlössen sich die Hutterschen Brüder an, eine aus Tirol stammende, zuerst
»ach Mähren, dann nach der Gegend bei Bukarest und zuletzt in die Pontische
Steppe ausgewanderte Sekte, die hier in fünf Kolonien in Gütergemeinschaft
^de. In den Kreisen Jekaterinoslaw und Alexandrowski existiren gegenwärtig
dreiundzwanzig reindeutschc Niederlassungen, von welchen achtzehn mennonitische
sind. Im Gouvernement Cherson liegt die jxtzt recht ansehnliche Kolonie Liebcn-
thal, mit der acht andre zu einem Kirchspiele vereinigt sind.

Die ersten Anfänge waren fast bei allen diesen Ansiedlungen trauriger
Art. Die russischen Behörden behandelten die Einwanderer trotz der kaiserlichen
Zusicherungen im landesüblichen barbarischen Stile. Dazu kamen Erdbeben, Pest,


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[0363] Die deutsche Diaspora im Vsten Europas. Linie diesen Ansiedlern zu danken, die schon vor sechzehn Jahren in sechsund- dreißig Niederlassungen zusammen ungefähr 5000 Seelen zählten. Seitdem sind jedes Jahr neue Einwanderer hinzugetreten, und heute kann man hier ziemlich weit reisen, ohne auf ein russisches Dorf zu stoßen. Das sechs Werst von der Hauptstadt Schitomir gelegene Städtchen Pulisze wird überwiegend von Deutschen Sulche etwa deutschredcuden Juden?^ bewohnt. Es erfreut sich eines regen Handelsverkehrs, der durch Jahrmärkte gehoben wird, und bildet den Anfangspunkt einer langen Reihe ausschließlich deutscher Bauerhöfe, die sich wesentlich von den russischen unterscheiden. Die deutschen Kolonisten leben hier nicht in geschlossenen Ortschaften, sondern ihre Besitzungen folgen einander in langen Zwischenräumen, sodaß sich die nur von vierzig Familien bewohnte Kolonie Pisarew über eine Meile weit hinstreckt. Die Häuser sind einfach, aber dauerhaft und bequem gebaut, auch ragen zwischen ihnen bereits die Schorn¬ steine von Dampfmühlen und andern Fabrikanlagen empor. In Podolien, einem Landstriche mit sehr fruchtbarem Boden, besteht im Kreise Jmnpol die kleine deutsche Kolonie Krasnodolv, die meisten Deutschen aber leben hier in dem nördlich von der Hauptstadt Kamjeniec Podolsk ge¬ legenen Städtchen Dunajewzki, wo sich deren unter 2530 Einwohnern 1018 befinden. ^Sollten das nicht wieder dentschrcdende Juden sein?^ Sehr viele und stark bevölkerte deutsche Kolonien treffen wir in Südru߬ land an. Die ersten derselben wurden im Gouvernement Jekaterinoslaw an¬ gelegt, und zwar durch Katharina II. Die ersten Ansiedler kamen vorzüglich aus Würtemberg, Baden, dein Elsaß, der Pfalz, Hessen und Nassau, einzelne Familien aus Sachsen, Westfalen, dem Vogtlande, aus Hamburg, aus der Danziger Gegend, ans Mähren und aus der Schweiz. 1789 folgten diesen 228 westpreußische Mennonitenfamilien, die bei Alexandrowsk am Dujepr acht Niederlassungen gründeten, und denen 1797 wieder 118 solche Familien nach¬ rückten. Hierzu kamen 1803 abermals 347, die am Nordostrande der Nogaischen Steppe Land erhielten. Zu diesen ältern Ansiedlern gesellten sich in der Folge noch andre, sodaß sich die Zahl der im südlichen Nußland wohnenden Menno¬ nitenfamilien bis 1843 auf 873, die der Individuen ans 6376 vermehrte. An sie schlössen sich die Hutterschen Brüder an, eine aus Tirol stammende, zuerst »ach Mähren, dann nach der Gegend bei Bukarest und zuletzt in die Pontische Steppe ausgewanderte Sekte, die hier in fünf Kolonien in Gütergemeinschaft ^de. In den Kreisen Jekaterinoslaw und Alexandrowski existiren gegenwärtig dreiundzwanzig reindeutschc Niederlassungen, von welchen achtzehn mennonitische sind. Im Gouvernement Cherson liegt die jxtzt recht ansehnliche Kolonie Liebcn- thal, mit der acht andre zu einem Kirchspiele vereinigt sind. Die ersten Anfänge waren fast bei allen diesen Ansiedlungen trauriger Art. Die russischen Behörden behandelten die Einwanderer trotz der kaiserlichen Zusicherungen im landesüblichen barbarischen Stile. Dazu kamen Erdbeben, Pest,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/363>, abgerufen am 21.06.2024.