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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die deutsche Diaspora im Vsten Europas.

Privilegien, wie vollkommener Religionsfreiheit, eigner Jurisdiktion, Befreiung
von Abgaben auf dreißig Jahre und vom Kriegsdienst auf ewige Zeit, sowie
durch Gewährung von Vorschüssen ermutigte. So entstanden 1764 am rechten
Ufer der Newa, östlich von Petersburg, und an der Jschora, westlich von
Zarskoje Scio, drei deutsche Kolonien, und im nächsten Jahre nicht weit vom
Städtchen Jamburg ebensoviele. Unter Alexander I. kam eine Anzahl andrer
hinzu, von denen Friedenthal und die Kronstädter Kolonie, 1805 gegründet, die
bedeutendsten sind. Unter Kaiser Nikolaus entstand bei Peterhof 1334 die
Alexandriner Ansiedlung, und 1843 wurde in derselben Gegend die Seameusche
begründet. So bestehen jetzt im Gouvernement Petersburg siebzehn deutsche
Niederlassungen, die sich auf die fünf Kirchspiele Zarskoje Scio, Neu-Sara-
towka, Strelna, Oranienbaum und Jamburg verteilen. Klima und Boden sind
hier dem Ackerbau wenig günstig, dennoch sind die Einwohner meist zu Wohl¬
stand gelangt, da sie deutschen Fleiß mitbrachten und die Nahe der Hauptstadt
ihnen einen guten Markt für die Verwertung ihrer landwirtschaftlichen Produkte
bot. Von diesen Kolonien aus wurden 1835 und 1836 in den benachbarten
Gouvernements Nowgorod und Olonetz die Ansiedlungen Nikolajewski und
Alexandrowski gegründet. Im erstgenannten Gouvernement wohnen jetzt 1300,
im andern ISO Deutsche. In den übrigen Gouvernements Nordrußlands giebt
es keine deutschen Kolonien, ausgenommen in Woronesch, wo seit 1765 die jetzt
1500 Einwohner zählende Niederlassung Riebersdorf besteht, doch haben sich in
den andern einzelne von unsern Landsleuten angesiedelt, z. B. in Pskow gegen
700, in Smolensk etwa 250, in Moskau sogar über 10 000, von denen 6718
auf die gleichnamige Stadt kommen. Im Gouvernement Wladimir gehört die
Mehrzahl der dort lebenden 300 Deutschen dem Beamten- und Handwerkerstande
an, andre sind als Direktoren und Werkführer der Fabriken dieser Gegend
angestellt.

Das einzige Gouvernement Mittelrußlcmds, welches deutsche Kolonien
aufweist, ist Tschernigow, wo seit 1766 vier protestantische und katholische an¬
gelegt worden sind, die zusammen etwa 1900 Insassen haben, aber größtenteils
russisizirt worden sind und sich in keinem besonders blühenden Zustande befinden.
Ganz im Norden dieses Bezirks liegt Neumeseritz mit 600 Deutschen, die in
der dortigen Tuchfabrik arbeiten. Im Gouvernement Poltawa, wo im ganzen
etwa 900 Deutsche leben sollen, haben dieselben sich vorzüglich in der Haupt¬
stadt, in Kremeutschug am Dujepr und in der 1801 gegründeten Kolonie
Kreschaten niedergelassen. Weit ansehnlicher ist die Zahl unsrer Landsleute im
Gouvernement Kiew, wo cirea 2400 wohnen und sich hauptsächlich mit der
Zuckerfabrikation, aber auch mit andern Industriezweigen und Handel be¬
schäftigen.

In Weißrußland besitzen nur Volhynien und Podolien deutsche Kolonien,
und wenn hier die Bodenkultur auf hoher Stufe steht, so ist das in erster


Die deutsche Diaspora im Vsten Europas.

Privilegien, wie vollkommener Religionsfreiheit, eigner Jurisdiktion, Befreiung
von Abgaben auf dreißig Jahre und vom Kriegsdienst auf ewige Zeit, sowie
durch Gewährung von Vorschüssen ermutigte. So entstanden 1764 am rechten
Ufer der Newa, östlich von Petersburg, und an der Jschora, westlich von
Zarskoje Scio, drei deutsche Kolonien, und im nächsten Jahre nicht weit vom
Städtchen Jamburg ebensoviele. Unter Alexander I. kam eine Anzahl andrer
hinzu, von denen Friedenthal und die Kronstädter Kolonie, 1805 gegründet, die
bedeutendsten sind. Unter Kaiser Nikolaus entstand bei Peterhof 1334 die
Alexandriner Ansiedlung, und 1843 wurde in derselben Gegend die Seameusche
begründet. So bestehen jetzt im Gouvernement Petersburg siebzehn deutsche
Niederlassungen, die sich auf die fünf Kirchspiele Zarskoje Scio, Neu-Sara-
towka, Strelna, Oranienbaum und Jamburg verteilen. Klima und Boden sind
hier dem Ackerbau wenig günstig, dennoch sind die Einwohner meist zu Wohl¬
stand gelangt, da sie deutschen Fleiß mitbrachten und die Nahe der Hauptstadt
ihnen einen guten Markt für die Verwertung ihrer landwirtschaftlichen Produkte
bot. Von diesen Kolonien aus wurden 1835 und 1836 in den benachbarten
Gouvernements Nowgorod und Olonetz die Ansiedlungen Nikolajewski und
Alexandrowski gegründet. Im erstgenannten Gouvernement wohnen jetzt 1300,
im andern ISO Deutsche. In den übrigen Gouvernements Nordrußlands giebt
es keine deutschen Kolonien, ausgenommen in Woronesch, wo seit 1765 die jetzt
1500 Einwohner zählende Niederlassung Riebersdorf besteht, doch haben sich in
den andern einzelne von unsern Landsleuten angesiedelt, z. B. in Pskow gegen
700, in Smolensk etwa 250, in Moskau sogar über 10 000, von denen 6718
auf die gleichnamige Stadt kommen. Im Gouvernement Wladimir gehört die
Mehrzahl der dort lebenden 300 Deutschen dem Beamten- und Handwerkerstande
an, andre sind als Direktoren und Werkführer der Fabriken dieser Gegend
angestellt.

Das einzige Gouvernement Mittelrußlcmds, welches deutsche Kolonien
aufweist, ist Tschernigow, wo seit 1766 vier protestantische und katholische an¬
gelegt worden sind, die zusammen etwa 1900 Insassen haben, aber größtenteils
russisizirt worden sind und sich in keinem besonders blühenden Zustande befinden.
Ganz im Norden dieses Bezirks liegt Neumeseritz mit 600 Deutschen, die in
der dortigen Tuchfabrik arbeiten. Im Gouvernement Poltawa, wo im ganzen
etwa 900 Deutsche leben sollen, haben dieselben sich vorzüglich in der Haupt¬
stadt, in Kremeutschug am Dujepr und in der 1801 gegründeten Kolonie
Kreschaten niedergelassen. Weit ansehnlicher ist die Zahl unsrer Landsleute im
Gouvernement Kiew, wo cirea 2400 wohnen und sich hauptsächlich mit der
Zuckerfabrikation, aber auch mit andern Industriezweigen und Handel be¬
schäftigen.

In Weißrußland besitzen nur Volhynien und Podolien deutsche Kolonien,
und wenn hier die Bodenkultur auf hoher Stufe steht, so ist das in erster


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[0362] Die deutsche Diaspora im Vsten Europas. Privilegien, wie vollkommener Religionsfreiheit, eigner Jurisdiktion, Befreiung von Abgaben auf dreißig Jahre und vom Kriegsdienst auf ewige Zeit, sowie durch Gewährung von Vorschüssen ermutigte. So entstanden 1764 am rechten Ufer der Newa, östlich von Petersburg, und an der Jschora, westlich von Zarskoje Scio, drei deutsche Kolonien, und im nächsten Jahre nicht weit vom Städtchen Jamburg ebensoviele. Unter Alexander I. kam eine Anzahl andrer hinzu, von denen Friedenthal und die Kronstädter Kolonie, 1805 gegründet, die bedeutendsten sind. Unter Kaiser Nikolaus entstand bei Peterhof 1334 die Alexandriner Ansiedlung, und 1843 wurde in derselben Gegend die Seameusche begründet. So bestehen jetzt im Gouvernement Petersburg siebzehn deutsche Niederlassungen, die sich auf die fünf Kirchspiele Zarskoje Scio, Neu-Sara- towka, Strelna, Oranienbaum und Jamburg verteilen. Klima und Boden sind hier dem Ackerbau wenig günstig, dennoch sind die Einwohner meist zu Wohl¬ stand gelangt, da sie deutschen Fleiß mitbrachten und die Nahe der Hauptstadt ihnen einen guten Markt für die Verwertung ihrer landwirtschaftlichen Produkte bot. Von diesen Kolonien aus wurden 1835 und 1836 in den benachbarten Gouvernements Nowgorod und Olonetz die Ansiedlungen Nikolajewski und Alexandrowski gegründet. Im erstgenannten Gouvernement wohnen jetzt 1300, im andern ISO Deutsche. In den übrigen Gouvernements Nordrußlands giebt es keine deutschen Kolonien, ausgenommen in Woronesch, wo seit 1765 die jetzt 1500 Einwohner zählende Niederlassung Riebersdorf besteht, doch haben sich in den andern einzelne von unsern Landsleuten angesiedelt, z. B. in Pskow gegen 700, in Smolensk etwa 250, in Moskau sogar über 10 000, von denen 6718 auf die gleichnamige Stadt kommen. Im Gouvernement Wladimir gehört die Mehrzahl der dort lebenden 300 Deutschen dem Beamten- und Handwerkerstande an, andre sind als Direktoren und Werkführer der Fabriken dieser Gegend angestellt. Das einzige Gouvernement Mittelrußlcmds, welches deutsche Kolonien aufweist, ist Tschernigow, wo seit 1766 vier protestantische und katholische an¬ gelegt worden sind, die zusammen etwa 1900 Insassen haben, aber größtenteils russisizirt worden sind und sich in keinem besonders blühenden Zustande befinden. Ganz im Norden dieses Bezirks liegt Neumeseritz mit 600 Deutschen, die in der dortigen Tuchfabrik arbeiten. Im Gouvernement Poltawa, wo im ganzen etwa 900 Deutsche leben sollen, haben dieselben sich vorzüglich in der Haupt¬ stadt, in Kremeutschug am Dujepr und in der 1801 gegründeten Kolonie Kreschaten niedergelassen. Weit ansehnlicher ist die Zahl unsrer Landsleute im Gouvernement Kiew, wo cirea 2400 wohnen und sich hauptsächlich mit der Zuckerfabrikation, aber auch mit andern Industriezweigen und Handel be¬ schäftigen. In Weißrußland besitzen nur Volhynien und Podolien deutsche Kolonien, und wenn hier die Bodenkultur auf hoher Stufe steht, so ist das in erster

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/362>, abgerufen am 21.06.2024.