Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
DieAdeutsche Diaspora im Osten Europas.

Kaufleute und Arbeiter im Zunehmen, und wenn für das benachbarte Katharinen-
thal die Badesaison kommt, nimmt die Stadt ganz den Charakter eines vornehmen
russischen Badeortes an. Die Verfassung Revals ähnelt der von Riga, nur ist
in ihr das aristokratische Element stärker ausgebildet, und unter den Beamten
haben einige ganz absonderliche Titel: der dem Bürgermeister am nächsten stehende
nennt sich "der Gefolgte am Worte," die Vorsteher des "Befrachtuugsgerechts"
heißen "Pfund- und Bollwerksherren," die des Weltgerichts "Weitgehende
Pfennigswalt- und Brotschneideherren" u. s, f.

Wird, so fragt der Verfasser am Schlüsse seiner Schilderung der Ostsee¬
provinzen, das baltische Deutschtum stark genug sein, den Angriffen, welche das
Slaventum auf seine Existenz macht, auf die Dauer zu widerstehen? Und er
antwortet: Peter der Große und Katharina, denen Rußland seine politische
Bedeutung in Europa zumeist verdankt, wußten den Besitz solcher Provinzen
wie Kur-, Liv- und Esthland mit ihrer Kultur und ihrem Zusammenhange mit
dem germanischen Geistesleben zu schätzen, und ihre Nachfolger dachten ebenso.
Von Zeit zu Zeit freilich wurde versucht, den deutschen Provinzen einen russischen
Charakter aufzudrücken. Das wird sich nicht im Handumdrehen bewerkstellige!?
lassen. "Sollte aber wirklich einmal das Endziel panslavistischer Agitatoren
erreicht und dieser ganze Höhenzug aristokratischer Bildung nivellirt werden, so
wird die Empfindung des dadurch herbeigeführten Verlustes nirgends lebhafter
sein als bei der russischen Regierung, welche an den baltischen Deutschen stets
die treuesten Unterthanen gehabt und von denselben gerade dann die größten
Vorteile gehabt hat, wenn die Rechte und Eigentümlichkeiten des Landes am
sorgfältigsten gewahrt wurden, das Peter mit Stolz seine deutsche Provinz
nannte."

Ingermanland ist stärker russisizirt als die drei genannten Provinzen des
Zarenreichs, doch kann es mit dem deutschen Teile seiner Bevölkerung als ein
Mittelglied zwischen diesen und dem echt russischen Nachbargouvernement
Nowgorod gelten. Die Stadt Narwa, dicht an der Grenze Esthlands, trägt
eine vorwiegend deutsche Physiognomie, namentlich in ihrem alten, auf
dem linken Ufer der Narowa gelegnen Teile, wo fast nur Deutsche wohnen,
aber nur mühsam wehrt dieses übriggebliebene Patriziergeschlecht sich gegen den
mächtigen slavischen Andrang von Osten her.

Peter der Große hatte in den Ostseeprovinzen erkannt, was deutsche Kultur
aus ehemals unwirtlichen Gegenden zu machen gewußt hatte. Er begann somit
die Ansiedlung von Deutschen in und um Petersburg, wo jetzt ungefähr 60 000
Deutsche wohnen, die sich meist in Wassili Ostrow, im Norden der Newainsel,
befinden. Mehr geschah unter der Kaiserin Katharina II., die gleich im ersten
Jahre ihrer Regierung alle Ausländer mit Ausschluß der Juden einlud, sich in
ihrem Reiche niederzulassen, und schon im zweiten eine besondre Behörde zur
Beförderung der Einwanderung einsetzte, die sie dnrch Zusicherung wichtiger


Grenzboten III. 1884. 4S
DieAdeutsche Diaspora im Osten Europas.

Kaufleute und Arbeiter im Zunehmen, und wenn für das benachbarte Katharinen-
thal die Badesaison kommt, nimmt die Stadt ganz den Charakter eines vornehmen
russischen Badeortes an. Die Verfassung Revals ähnelt der von Riga, nur ist
in ihr das aristokratische Element stärker ausgebildet, und unter den Beamten
haben einige ganz absonderliche Titel: der dem Bürgermeister am nächsten stehende
nennt sich „der Gefolgte am Worte," die Vorsteher des „Befrachtuugsgerechts"
heißen „Pfund- und Bollwerksherren," die des Weltgerichts „Weitgehende
Pfennigswalt- und Brotschneideherren" u. s, f.

Wird, so fragt der Verfasser am Schlüsse seiner Schilderung der Ostsee¬
provinzen, das baltische Deutschtum stark genug sein, den Angriffen, welche das
Slaventum auf seine Existenz macht, auf die Dauer zu widerstehen? Und er
antwortet: Peter der Große und Katharina, denen Rußland seine politische
Bedeutung in Europa zumeist verdankt, wußten den Besitz solcher Provinzen
wie Kur-, Liv- und Esthland mit ihrer Kultur und ihrem Zusammenhange mit
dem germanischen Geistesleben zu schätzen, und ihre Nachfolger dachten ebenso.
Von Zeit zu Zeit freilich wurde versucht, den deutschen Provinzen einen russischen
Charakter aufzudrücken. Das wird sich nicht im Handumdrehen bewerkstellige!?
lassen. „Sollte aber wirklich einmal das Endziel panslavistischer Agitatoren
erreicht und dieser ganze Höhenzug aristokratischer Bildung nivellirt werden, so
wird die Empfindung des dadurch herbeigeführten Verlustes nirgends lebhafter
sein als bei der russischen Regierung, welche an den baltischen Deutschen stets
die treuesten Unterthanen gehabt und von denselben gerade dann die größten
Vorteile gehabt hat, wenn die Rechte und Eigentümlichkeiten des Landes am
sorgfältigsten gewahrt wurden, das Peter mit Stolz seine deutsche Provinz
nannte."

Ingermanland ist stärker russisizirt als die drei genannten Provinzen des
Zarenreichs, doch kann es mit dem deutschen Teile seiner Bevölkerung als ein
Mittelglied zwischen diesen und dem echt russischen Nachbargouvernement
Nowgorod gelten. Die Stadt Narwa, dicht an der Grenze Esthlands, trägt
eine vorwiegend deutsche Physiognomie, namentlich in ihrem alten, auf
dem linken Ufer der Narowa gelegnen Teile, wo fast nur Deutsche wohnen,
aber nur mühsam wehrt dieses übriggebliebene Patriziergeschlecht sich gegen den
mächtigen slavischen Andrang von Osten her.

Peter der Große hatte in den Ostseeprovinzen erkannt, was deutsche Kultur
aus ehemals unwirtlichen Gegenden zu machen gewußt hatte. Er begann somit
die Ansiedlung von Deutschen in und um Petersburg, wo jetzt ungefähr 60 000
Deutsche wohnen, die sich meist in Wassili Ostrow, im Norden der Newainsel,
befinden. Mehr geschah unter der Kaiserin Katharina II., die gleich im ersten
Jahre ihrer Regierung alle Ausländer mit Ausschluß der Juden einlud, sich in
ihrem Reiche niederzulassen, und schon im zweiten eine besondre Behörde zur
Beförderung der Einwanderung einsetzte, die sie dnrch Zusicherung wichtiger


Grenzboten III. 1884. 4S
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0361" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156632"/>
          <fw type="header" place="top"> DieAdeutsche Diaspora im Osten Europas.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1557" prev="#ID_1556"> Kaufleute und Arbeiter im Zunehmen, und wenn für das benachbarte Katharinen-<lb/>
thal die Badesaison kommt, nimmt die Stadt ganz den Charakter eines vornehmen<lb/>
russischen Badeortes an. Die Verfassung Revals ähnelt der von Riga, nur ist<lb/>
in ihr das aristokratische Element stärker ausgebildet, und unter den Beamten<lb/>
haben einige ganz absonderliche Titel: der dem Bürgermeister am nächsten stehende<lb/>
nennt sich &#x201E;der Gefolgte am Worte," die Vorsteher des &#x201E;Befrachtuugsgerechts"<lb/>
heißen &#x201E;Pfund- und Bollwerksherren," die des Weltgerichts &#x201E;Weitgehende<lb/>
Pfennigswalt- und Brotschneideherren" u. s, f.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1558"> Wird, so fragt der Verfasser am Schlüsse seiner Schilderung der Ostsee¬<lb/>
provinzen, das baltische Deutschtum stark genug sein, den Angriffen, welche das<lb/>
Slaventum auf seine Existenz macht, auf die Dauer zu widerstehen? Und er<lb/>
antwortet: Peter der Große und Katharina, denen Rußland seine politische<lb/>
Bedeutung in Europa zumeist verdankt, wußten den Besitz solcher Provinzen<lb/>
wie Kur-, Liv- und Esthland mit ihrer Kultur und ihrem Zusammenhange mit<lb/>
dem germanischen Geistesleben zu schätzen, und ihre Nachfolger dachten ebenso.<lb/>
Von Zeit zu Zeit freilich wurde versucht, den deutschen Provinzen einen russischen<lb/>
Charakter aufzudrücken. Das wird sich nicht im Handumdrehen bewerkstellige!?<lb/>
lassen. &#x201E;Sollte aber wirklich einmal das Endziel panslavistischer Agitatoren<lb/>
erreicht und dieser ganze Höhenzug aristokratischer Bildung nivellirt werden, so<lb/>
wird die Empfindung des dadurch herbeigeführten Verlustes nirgends lebhafter<lb/>
sein als bei der russischen Regierung, welche an den baltischen Deutschen stets<lb/>
die treuesten Unterthanen gehabt und von denselben gerade dann die größten<lb/>
Vorteile gehabt hat, wenn die Rechte und Eigentümlichkeiten des Landes am<lb/>
sorgfältigsten gewahrt wurden, das Peter mit Stolz seine deutsche Provinz<lb/>
nannte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1559"> Ingermanland ist stärker russisizirt als die drei genannten Provinzen des<lb/>
Zarenreichs, doch kann es mit dem deutschen Teile seiner Bevölkerung als ein<lb/>
Mittelglied zwischen diesen und dem echt russischen Nachbargouvernement<lb/>
Nowgorod gelten. Die Stadt Narwa, dicht an der Grenze Esthlands, trägt<lb/>
eine vorwiegend deutsche Physiognomie, namentlich in ihrem alten, auf<lb/>
dem linken Ufer der Narowa gelegnen Teile, wo fast nur Deutsche wohnen,<lb/>
aber nur mühsam wehrt dieses übriggebliebene Patriziergeschlecht sich gegen den<lb/>
mächtigen slavischen Andrang von Osten her.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1560" next="#ID_1561"> Peter der Große hatte in den Ostseeprovinzen erkannt, was deutsche Kultur<lb/>
aus ehemals unwirtlichen Gegenden zu machen gewußt hatte. Er begann somit<lb/>
die Ansiedlung von Deutschen in und um Petersburg, wo jetzt ungefähr 60 000<lb/>
Deutsche wohnen, die sich meist in Wassili Ostrow, im Norden der Newainsel,<lb/>
befinden. Mehr geschah unter der Kaiserin Katharina II., die gleich im ersten<lb/>
Jahre ihrer Regierung alle Ausländer mit Ausschluß der Juden einlud, sich in<lb/>
ihrem Reiche niederzulassen, und schon im zweiten eine besondre Behörde zur<lb/>
Beförderung der Einwanderung einsetzte, die sie dnrch Zusicherung wichtiger</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1884. 4S</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0361] DieAdeutsche Diaspora im Osten Europas. Kaufleute und Arbeiter im Zunehmen, und wenn für das benachbarte Katharinen- thal die Badesaison kommt, nimmt die Stadt ganz den Charakter eines vornehmen russischen Badeortes an. Die Verfassung Revals ähnelt der von Riga, nur ist in ihr das aristokratische Element stärker ausgebildet, und unter den Beamten haben einige ganz absonderliche Titel: der dem Bürgermeister am nächsten stehende nennt sich „der Gefolgte am Worte," die Vorsteher des „Befrachtuugsgerechts" heißen „Pfund- und Bollwerksherren," die des Weltgerichts „Weitgehende Pfennigswalt- und Brotschneideherren" u. s, f. Wird, so fragt der Verfasser am Schlüsse seiner Schilderung der Ostsee¬ provinzen, das baltische Deutschtum stark genug sein, den Angriffen, welche das Slaventum auf seine Existenz macht, auf die Dauer zu widerstehen? Und er antwortet: Peter der Große und Katharina, denen Rußland seine politische Bedeutung in Europa zumeist verdankt, wußten den Besitz solcher Provinzen wie Kur-, Liv- und Esthland mit ihrer Kultur und ihrem Zusammenhange mit dem germanischen Geistesleben zu schätzen, und ihre Nachfolger dachten ebenso. Von Zeit zu Zeit freilich wurde versucht, den deutschen Provinzen einen russischen Charakter aufzudrücken. Das wird sich nicht im Handumdrehen bewerkstellige!? lassen. „Sollte aber wirklich einmal das Endziel panslavistischer Agitatoren erreicht und dieser ganze Höhenzug aristokratischer Bildung nivellirt werden, so wird die Empfindung des dadurch herbeigeführten Verlustes nirgends lebhafter sein als bei der russischen Regierung, welche an den baltischen Deutschen stets die treuesten Unterthanen gehabt und von denselben gerade dann die größten Vorteile gehabt hat, wenn die Rechte und Eigentümlichkeiten des Landes am sorgfältigsten gewahrt wurden, das Peter mit Stolz seine deutsche Provinz nannte." Ingermanland ist stärker russisizirt als die drei genannten Provinzen des Zarenreichs, doch kann es mit dem deutschen Teile seiner Bevölkerung als ein Mittelglied zwischen diesen und dem echt russischen Nachbargouvernement Nowgorod gelten. Die Stadt Narwa, dicht an der Grenze Esthlands, trägt eine vorwiegend deutsche Physiognomie, namentlich in ihrem alten, auf dem linken Ufer der Narowa gelegnen Teile, wo fast nur Deutsche wohnen, aber nur mühsam wehrt dieses übriggebliebene Patriziergeschlecht sich gegen den mächtigen slavischen Andrang von Osten her. Peter der Große hatte in den Ostseeprovinzen erkannt, was deutsche Kultur aus ehemals unwirtlichen Gegenden zu machen gewußt hatte. Er begann somit die Ansiedlung von Deutschen in und um Petersburg, wo jetzt ungefähr 60 000 Deutsche wohnen, die sich meist in Wassili Ostrow, im Norden der Newainsel, befinden. Mehr geschah unter der Kaiserin Katharina II., die gleich im ersten Jahre ihrer Regierung alle Ausländer mit Ausschluß der Juden einlud, sich in ihrem Reiche niederzulassen, und schon im zweiten eine besondre Behörde zur Beförderung der Einwanderung einsetzte, die sie dnrch Zusicherung wichtiger Grenzboten III. 1884. 4S

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/361
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/361>, abgerufen am 21.06.2024.