Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die deutsche Diaspora im Dsten Europas.

Bürger und "Brüder," von denen die letztern nur aktives Wahlrecht haben. Den
Schluß bildet die kleine oder Se. Johcmnisgilde, die Korporation der Handwerker.
Riga hat nach der letzten Zählung 168 344 Einwohner, von denen fast die Hälfte
Deutsche sind. Die Bauart in der Altstadt, wo diese vorzugsweise wohnen, ist
altertümlich, auf schmale, krumme Gassen sehen hohe Giebelhäuser herab, wogegen
die Moskaner Vorstadt, wo sich russische Altgläubige angesiedelt haben, breite,
gerade Straßen von unabsehbarer Länge und niedrige, weiß oder gelb an¬
gestrichene Holzhäuser mit grünen oder roten Dächern aufweist. Ähnlich wie
diese Vorstadt Rigas ist das nur wenige Meilen davon entfernte Mitau gebaut,
wo kein einziges Gebäude außer dem Schlosse den Stempel einer großen Ver¬
gangenheit trägt. Die Einwohner Milans, jetzt etwa 26 600, sind zwar
größtenteils Deutsche, aber es hat sich auch hier schon eine ansehnliche Zahl
von Russen eingefunden, und im Handel und Gewerbe herrscht das Judentum
vor. Die Zahl der deutschen Bürger nimmt ab, indem die Handwerker immer
häufiger nach Riga und Petersburg ziehen. Auch das Gymnasium, das einst
sehr angesehen war und wo selbst juristische und theologische Vorlesungen ge¬
halten wurden, ist herabgekommen, seit man einen Nationalrnssen an seine Spitze
gestellt hat. Derselbe trägt auch deutsche Literatur vor, und wie trefflich er
das besorgt, zeigt eine von Jung S. 172 mitgeteilte Anekdote. "Schiller, sagte
der würdige Mann, hatte keine Dekoration, Lomonosoff deren fünf, von denen
ich die eine auch besitze." Natürlich stand hiernach der deutsche Dichter fünf
Meter tiefer als der russische und einen tiefer als der Herr Direktor. Die
übrigen zahlreichen Städte Kurlands haben es infolge ihrer Überschwemmung mit
Juden zu einem selbständigen deutschen Bürgertum überhaupt nicht gebracht. Nur
Libau macht davon eine Ausnahme. Bis 1868 siechte es dahin und schien mit
der Zeit ganz eingehen zu wollen. Seitdem aber hat es sich, neubelebt durch
eine Eisenbahn, die es mit den westlichen Provinzen Rußlands verbindet, in
erfreulichster Weise gehoben, und seine vor zehn Jahren kaum 11000 Köpfe
zählende Bevölkerung belief sich Ende 1881 bereits auf 27 400 Seelen. Als
der eigentliche Hort des baltischen Deutschtums sollte uns Dorpat mit seinen
30 000 fast durchgehends deutschen Einwohnern und seiner Universität gelten.
Aber diese Hochschule wurde durch Zar Nikolai und dann, nach kurzer Erholung
unter dessen milderem und billiger denkendem Nachfolger, während der Ära
Jgnatieff rücksichtsloser Russifizirung unterworfen, wobei leider deutsche Pro¬
fessoren eifrig mitwirkten. "Im unwürdigen Hasten und Haschen nach russischer
Gunst, russischen Orden und russischem Range schwangen die sogenannten Ver¬
treter des deutschen Elements ihre feilen Waffen gegen die wirklichen Verfechter
desselben." Hoch im Norden steht auf der felsigen Küste des finnischen Meer¬
busens das alte von Dänen gegründete Neval, das zur Zeit noch ein entschieden
mittelalterliches Gepräge trägt. Der Kern der Bevölkerung, die 1832 nahezu
61 000 Seelen zählte, ist noch vollkommen deutsch, doch ist die Zahl der russischen


Die deutsche Diaspora im Dsten Europas.

Bürger und „Brüder," von denen die letztern nur aktives Wahlrecht haben. Den
Schluß bildet die kleine oder Se. Johcmnisgilde, die Korporation der Handwerker.
Riga hat nach der letzten Zählung 168 344 Einwohner, von denen fast die Hälfte
Deutsche sind. Die Bauart in der Altstadt, wo diese vorzugsweise wohnen, ist
altertümlich, auf schmale, krumme Gassen sehen hohe Giebelhäuser herab, wogegen
die Moskaner Vorstadt, wo sich russische Altgläubige angesiedelt haben, breite,
gerade Straßen von unabsehbarer Länge und niedrige, weiß oder gelb an¬
gestrichene Holzhäuser mit grünen oder roten Dächern aufweist. Ähnlich wie
diese Vorstadt Rigas ist das nur wenige Meilen davon entfernte Mitau gebaut,
wo kein einziges Gebäude außer dem Schlosse den Stempel einer großen Ver¬
gangenheit trägt. Die Einwohner Milans, jetzt etwa 26 600, sind zwar
größtenteils Deutsche, aber es hat sich auch hier schon eine ansehnliche Zahl
von Russen eingefunden, und im Handel und Gewerbe herrscht das Judentum
vor. Die Zahl der deutschen Bürger nimmt ab, indem die Handwerker immer
häufiger nach Riga und Petersburg ziehen. Auch das Gymnasium, das einst
sehr angesehen war und wo selbst juristische und theologische Vorlesungen ge¬
halten wurden, ist herabgekommen, seit man einen Nationalrnssen an seine Spitze
gestellt hat. Derselbe trägt auch deutsche Literatur vor, und wie trefflich er
das besorgt, zeigt eine von Jung S. 172 mitgeteilte Anekdote. „Schiller, sagte
der würdige Mann, hatte keine Dekoration, Lomonosoff deren fünf, von denen
ich die eine auch besitze." Natürlich stand hiernach der deutsche Dichter fünf
Meter tiefer als der russische und einen tiefer als der Herr Direktor. Die
übrigen zahlreichen Städte Kurlands haben es infolge ihrer Überschwemmung mit
Juden zu einem selbständigen deutschen Bürgertum überhaupt nicht gebracht. Nur
Libau macht davon eine Ausnahme. Bis 1868 siechte es dahin und schien mit
der Zeit ganz eingehen zu wollen. Seitdem aber hat es sich, neubelebt durch
eine Eisenbahn, die es mit den westlichen Provinzen Rußlands verbindet, in
erfreulichster Weise gehoben, und seine vor zehn Jahren kaum 11000 Köpfe
zählende Bevölkerung belief sich Ende 1881 bereits auf 27 400 Seelen. Als
der eigentliche Hort des baltischen Deutschtums sollte uns Dorpat mit seinen
30 000 fast durchgehends deutschen Einwohnern und seiner Universität gelten.
Aber diese Hochschule wurde durch Zar Nikolai und dann, nach kurzer Erholung
unter dessen milderem und billiger denkendem Nachfolger, während der Ära
Jgnatieff rücksichtsloser Russifizirung unterworfen, wobei leider deutsche Pro¬
fessoren eifrig mitwirkten. „Im unwürdigen Hasten und Haschen nach russischer
Gunst, russischen Orden und russischem Range schwangen die sogenannten Ver¬
treter des deutschen Elements ihre feilen Waffen gegen die wirklichen Verfechter
desselben." Hoch im Norden steht auf der felsigen Küste des finnischen Meer¬
busens das alte von Dänen gegründete Neval, das zur Zeit noch ein entschieden
mittelalterliches Gepräge trägt. Der Kern der Bevölkerung, die 1832 nahezu
61 000 Seelen zählte, ist noch vollkommen deutsch, doch ist die Zahl der russischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0360" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156631"/>
          <fw type="header" place="top"> Die deutsche Diaspora im Dsten Europas.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1556" prev="#ID_1555" next="#ID_1557"> Bürger und &#x201E;Brüder," von denen die letztern nur aktives Wahlrecht haben. Den<lb/>
Schluß bildet die kleine oder Se. Johcmnisgilde, die Korporation der Handwerker.<lb/>
Riga hat nach der letzten Zählung 168 344 Einwohner, von denen fast die Hälfte<lb/>
Deutsche sind. Die Bauart in der Altstadt, wo diese vorzugsweise wohnen, ist<lb/>
altertümlich, auf schmale, krumme Gassen sehen hohe Giebelhäuser herab, wogegen<lb/>
die Moskaner Vorstadt, wo sich russische Altgläubige angesiedelt haben, breite,<lb/>
gerade Straßen von unabsehbarer Länge und niedrige, weiß oder gelb an¬<lb/>
gestrichene Holzhäuser mit grünen oder roten Dächern aufweist. Ähnlich wie<lb/>
diese Vorstadt Rigas ist das nur wenige Meilen davon entfernte Mitau gebaut,<lb/>
wo kein einziges Gebäude außer dem Schlosse den Stempel einer großen Ver¬<lb/>
gangenheit trägt. Die Einwohner Milans, jetzt etwa 26 600, sind zwar<lb/>
größtenteils Deutsche, aber es hat sich auch hier schon eine ansehnliche Zahl<lb/>
von Russen eingefunden, und im Handel und Gewerbe herrscht das Judentum<lb/>
vor. Die Zahl der deutschen Bürger nimmt ab, indem die Handwerker immer<lb/>
häufiger nach Riga und Petersburg ziehen. Auch das Gymnasium, das einst<lb/>
sehr angesehen war und wo selbst juristische und theologische Vorlesungen ge¬<lb/>
halten wurden, ist herabgekommen, seit man einen Nationalrnssen an seine Spitze<lb/>
gestellt hat. Derselbe trägt auch deutsche Literatur vor, und wie trefflich er<lb/>
das besorgt, zeigt eine von Jung S. 172 mitgeteilte Anekdote. &#x201E;Schiller, sagte<lb/>
der würdige Mann, hatte keine Dekoration, Lomonosoff deren fünf, von denen<lb/>
ich die eine auch besitze." Natürlich stand hiernach der deutsche Dichter fünf<lb/>
Meter tiefer als der russische und einen tiefer als der Herr Direktor. Die<lb/>
übrigen zahlreichen Städte Kurlands haben es infolge ihrer Überschwemmung mit<lb/>
Juden zu einem selbständigen deutschen Bürgertum überhaupt nicht gebracht. Nur<lb/>
Libau macht davon eine Ausnahme. Bis 1868 siechte es dahin und schien mit<lb/>
der Zeit ganz eingehen zu wollen. Seitdem aber hat es sich, neubelebt durch<lb/>
eine Eisenbahn, die es mit den westlichen Provinzen Rußlands verbindet, in<lb/>
erfreulichster Weise gehoben, und seine vor zehn Jahren kaum 11000 Köpfe<lb/>
zählende Bevölkerung belief sich Ende 1881 bereits auf 27 400 Seelen. Als<lb/>
der eigentliche Hort des baltischen Deutschtums sollte uns Dorpat mit seinen<lb/>
30 000 fast durchgehends deutschen Einwohnern und seiner Universität gelten.<lb/>
Aber diese Hochschule wurde durch Zar Nikolai und dann, nach kurzer Erholung<lb/>
unter dessen milderem und billiger denkendem Nachfolger, während der Ära<lb/>
Jgnatieff rücksichtsloser Russifizirung unterworfen, wobei leider deutsche Pro¬<lb/>
fessoren eifrig mitwirkten. &#x201E;Im unwürdigen Hasten und Haschen nach russischer<lb/>
Gunst, russischen Orden und russischem Range schwangen die sogenannten Ver¬<lb/>
treter des deutschen Elements ihre feilen Waffen gegen die wirklichen Verfechter<lb/>
desselben." Hoch im Norden steht auf der felsigen Küste des finnischen Meer¬<lb/>
busens das alte von Dänen gegründete Neval, das zur Zeit noch ein entschieden<lb/>
mittelalterliches Gepräge trägt. Der Kern der Bevölkerung, die 1832 nahezu<lb/>
61 000 Seelen zählte, ist noch vollkommen deutsch, doch ist die Zahl der russischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0360] Die deutsche Diaspora im Dsten Europas. Bürger und „Brüder," von denen die letztern nur aktives Wahlrecht haben. Den Schluß bildet die kleine oder Se. Johcmnisgilde, die Korporation der Handwerker. Riga hat nach der letzten Zählung 168 344 Einwohner, von denen fast die Hälfte Deutsche sind. Die Bauart in der Altstadt, wo diese vorzugsweise wohnen, ist altertümlich, auf schmale, krumme Gassen sehen hohe Giebelhäuser herab, wogegen die Moskaner Vorstadt, wo sich russische Altgläubige angesiedelt haben, breite, gerade Straßen von unabsehbarer Länge und niedrige, weiß oder gelb an¬ gestrichene Holzhäuser mit grünen oder roten Dächern aufweist. Ähnlich wie diese Vorstadt Rigas ist das nur wenige Meilen davon entfernte Mitau gebaut, wo kein einziges Gebäude außer dem Schlosse den Stempel einer großen Ver¬ gangenheit trägt. Die Einwohner Milans, jetzt etwa 26 600, sind zwar größtenteils Deutsche, aber es hat sich auch hier schon eine ansehnliche Zahl von Russen eingefunden, und im Handel und Gewerbe herrscht das Judentum vor. Die Zahl der deutschen Bürger nimmt ab, indem die Handwerker immer häufiger nach Riga und Petersburg ziehen. Auch das Gymnasium, das einst sehr angesehen war und wo selbst juristische und theologische Vorlesungen ge¬ halten wurden, ist herabgekommen, seit man einen Nationalrnssen an seine Spitze gestellt hat. Derselbe trägt auch deutsche Literatur vor, und wie trefflich er das besorgt, zeigt eine von Jung S. 172 mitgeteilte Anekdote. „Schiller, sagte der würdige Mann, hatte keine Dekoration, Lomonosoff deren fünf, von denen ich die eine auch besitze." Natürlich stand hiernach der deutsche Dichter fünf Meter tiefer als der russische und einen tiefer als der Herr Direktor. Die übrigen zahlreichen Städte Kurlands haben es infolge ihrer Überschwemmung mit Juden zu einem selbständigen deutschen Bürgertum überhaupt nicht gebracht. Nur Libau macht davon eine Ausnahme. Bis 1868 siechte es dahin und schien mit der Zeit ganz eingehen zu wollen. Seitdem aber hat es sich, neubelebt durch eine Eisenbahn, die es mit den westlichen Provinzen Rußlands verbindet, in erfreulichster Weise gehoben, und seine vor zehn Jahren kaum 11000 Köpfe zählende Bevölkerung belief sich Ende 1881 bereits auf 27 400 Seelen. Als der eigentliche Hort des baltischen Deutschtums sollte uns Dorpat mit seinen 30 000 fast durchgehends deutschen Einwohnern und seiner Universität gelten. Aber diese Hochschule wurde durch Zar Nikolai und dann, nach kurzer Erholung unter dessen milderem und billiger denkendem Nachfolger, während der Ära Jgnatieff rücksichtsloser Russifizirung unterworfen, wobei leider deutsche Pro¬ fessoren eifrig mitwirkten. „Im unwürdigen Hasten und Haschen nach russischer Gunst, russischen Orden und russischem Range schwangen die sogenannten Ver¬ treter des deutschen Elements ihre feilen Waffen gegen die wirklichen Verfechter desselben." Hoch im Norden steht auf der felsigen Küste des finnischen Meer¬ busens das alte von Dänen gegründete Neval, das zur Zeit noch ein entschieden mittelalterliches Gepräge trägt. Der Kern der Bevölkerung, die 1832 nahezu 61 000 Seelen zählte, ist noch vollkommen deutsch, doch ist die Zahl der russischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/360
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/360>, abgerufen am 21.06.2024.