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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die deutsche Diaspora im Osten Europas.

nördlichen. Die Kaufleute sind nieist Abkömmlinge von Lübecker, Hamburger
und Danziger Handelsherren, namentlich die, welche Seehandel betreiben, während
die kleinern Geschäfte vielfältig auch in den Händen von Russen und Juden
sind. Von den Handwerken ist die Verfertigung von feinern Artikel ganz auf
die Deutschen beschränkt, nur bei den gewöhnlichern Arbeiten der Tischler, Schuh¬
macher und Schneider konkurriren verdeutschte Letten und Eschen, die sich in
früherer Zeit von der Leibeigenschaft zu befreien und sich einige Bildung, sowie
einen deutschen Familiennamen zu verschaffen wußten. Solche Leute, die man
"Halbdeutsche," in Mitau auch "Morgenländer" nennt, giebt es in den größern
Städten ziemlich viele, und aus ihrer Klasse rekrutiren sich hier die Hafen¬
arbeiter, Packer, Masten- und Flachsbraker, die "Bauernhändler" und Krämer.
Sie schließen sich damit an die reindeutsche Klasse der Handwerker und Wirte
an, von denen viele von den baltischen Grund- und Handelsherren ins Land
gerufen wurden, weil die eingebornen Bauern nicht imstande waren, die Bedürf¬
nisse ihrer Gebieter zu befriedigen. Dies sind die "Klemdeutschen," die mit
den "Halbdeutschen" auch wohl den gemeinschaftlichen Namen der "deutschen
Leute" führen. Dem Adel zunächst standen von Anfang an die "Litteraten";
denn wenn das Land auch von Kaufleuten und Schiffern (1159) entdeckt und
besiedelt worden war, so traten doch bald Ritter und Geistliche als Herren des
gesamten Grundbesitzes außerhalb der Städte in die Stellung der leitenden
Faktoren. Durch die Reformation verlor die Kirche allerdings ihre Macht, und
der neue Predigerstand wurde vielfach von den adelichen Grundeigentümern ab¬
hängig. Dennoch nahmen die Geistlichen mit den Advokaten, den Ärzten und
Professoren immer noch eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaft ein und
erfreuten sich der Befreiung von Kopfsteuer und Militärdienst. Und alle diese
Litteraten waren bis vor kurzem durchgehends Deutsche; erst in der allerjüngsten
Zeit hat die russiche Negierung Slaven in diesen Stand hineingebracht, in
welchem die baltischen Deutschen die Hauptstütze ihrer Nationalität und Bildung
erblicken.

Die Ostseeprovinzen besitzen mir vier größere Städte: Riga, Reval,
Mitau und Dorpat, deren Gesamtbevölkerung.sich 1867 aus 67 400 Deutschen,
30 000 Russen, 28 300 Letten und 18 200 Esthen zusammensetzte. Riga ist
die älteste, reichste und politisch noch am unabhängigsten gestellte unter ihnen.
Es besitzt ein großes, weit über die Vorstädte hinausgehendes Territorium, mit
welchem die Stadt die erste Grundeigcntttmerin Livlands ist, und es ist in bezug
auf Gerichtsbarkeit und kirchliche Angelegenheiten unbeeinflußt von der Ritter¬
schaft, gewissermaßen ein besondrer Staat neben dem livländischen Landcsftaate.
Die Bürgerschaft teilt sich, wie im Mittelalter, in die "Stände der Stadt," an
deren Spitze der wortführende Bürgermeister, dessen "Kollege" und der "Ober-
kastenhcrr" stehen. Den zweiten Stand, die "große Gilde," die aus Kaufleuten
und Litteraten besteht, leitet der "Dekmann," und ihre Mitglieder zerfallen in


Die deutsche Diaspora im Osten Europas.

nördlichen. Die Kaufleute sind nieist Abkömmlinge von Lübecker, Hamburger
und Danziger Handelsherren, namentlich die, welche Seehandel betreiben, während
die kleinern Geschäfte vielfältig auch in den Händen von Russen und Juden
sind. Von den Handwerken ist die Verfertigung von feinern Artikel ganz auf
die Deutschen beschränkt, nur bei den gewöhnlichern Arbeiten der Tischler, Schuh¬
macher und Schneider konkurriren verdeutschte Letten und Eschen, die sich in
früherer Zeit von der Leibeigenschaft zu befreien und sich einige Bildung, sowie
einen deutschen Familiennamen zu verschaffen wußten. Solche Leute, die man
„Halbdeutsche," in Mitau auch „Morgenländer" nennt, giebt es in den größern
Städten ziemlich viele, und aus ihrer Klasse rekrutiren sich hier die Hafen¬
arbeiter, Packer, Masten- und Flachsbraker, die „Bauernhändler" und Krämer.
Sie schließen sich damit an die reindeutsche Klasse der Handwerker und Wirte
an, von denen viele von den baltischen Grund- und Handelsherren ins Land
gerufen wurden, weil die eingebornen Bauern nicht imstande waren, die Bedürf¬
nisse ihrer Gebieter zu befriedigen. Dies sind die „Klemdeutschen," die mit
den „Halbdeutschen" auch wohl den gemeinschaftlichen Namen der „deutschen
Leute" führen. Dem Adel zunächst standen von Anfang an die „Litteraten";
denn wenn das Land auch von Kaufleuten und Schiffern (1159) entdeckt und
besiedelt worden war, so traten doch bald Ritter und Geistliche als Herren des
gesamten Grundbesitzes außerhalb der Städte in die Stellung der leitenden
Faktoren. Durch die Reformation verlor die Kirche allerdings ihre Macht, und
der neue Predigerstand wurde vielfach von den adelichen Grundeigentümern ab¬
hängig. Dennoch nahmen die Geistlichen mit den Advokaten, den Ärzten und
Professoren immer noch eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaft ein und
erfreuten sich der Befreiung von Kopfsteuer und Militärdienst. Und alle diese
Litteraten waren bis vor kurzem durchgehends Deutsche; erst in der allerjüngsten
Zeit hat die russiche Negierung Slaven in diesen Stand hineingebracht, in
welchem die baltischen Deutschen die Hauptstütze ihrer Nationalität und Bildung
erblicken.

Die Ostseeprovinzen besitzen mir vier größere Städte: Riga, Reval,
Mitau und Dorpat, deren Gesamtbevölkerung.sich 1867 aus 67 400 Deutschen,
30 000 Russen, 28 300 Letten und 18 200 Esthen zusammensetzte. Riga ist
die älteste, reichste und politisch noch am unabhängigsten gestellte unter ihnen.
Es besitzt ein großes, weit über die Vorstädte hinausgehendes Territorium, mit
welchem die Stadt die erste Grundeigcntttmerin Livlands ist, und es ist in bezug
auf Gerichtsbarkeit und kirchliche Angelegenheiten unbeeinflußt von der Ritter¬
schaft, gewissermaßen ein besondrer Staat neben dem livländischen Landcsftaate.
Die Bürgerschaft teilt sich, wie im Mittelalter, in die „Stände der Stadt," an
deren Spitze der wortführende Bürgermeister, dessen „Kollege" und der „Ober-
kastenhcrr" stehen. Den zweiten Stand, die „große Gilde," die aus Kaufleuten
und Litteraten besteht, leitet der „Dekmann," und ihre Mitglieder zerfallen in


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[0359] Die deutsche Diaspora im Osten Europas. nördlichen. Die Kaufleute sind nieist Abkömmlinge von Lübecker, Hamburger und Danziger Handelsherren, namentlich die, welche Seehandel betreiben, während die kleinern Geschäfte vielfältig auch in den Händen von Russen und Juden sind. Von den Handwerken ist die Verfertigung von feinern Artikel ganz auf die Deutschen beschränkt, nur bei den gewöhnlichern Arbeiten der Tischler, Schuh¬ macher und Schneider konkurriren verdeutschte Letten und Eschen, die sich in früherer Zeit von der Leibeigenschaft zu befreien und sich einige Bildung, sowie einen deutschen Familiennamen zu verschaffen wußten. Solche Leute, die man „Halbdeutsche," in Mitau auch „Morgenländer" nennt, giebt es in den größern Städten ziemlich viele, und aus ihrer Klasse rekrutiren sich hier die Hafen¬ arbeiter, Packer, Masten- und Flachsbraker, die „Bauernhändler" und Krämer. Sie schließen sich damit an die reindeutsche Klasse der Handwerker und Wirte an, von denen viele von den baltischen Grund- und Handelsherren ins Land gerufen wurden, weil die eingebornen Bauern nicht imstande waren, die Bedürf¬ nisse ihrer Gebieter zu befriedigen. Dies sind die „Klemdeutschen," die mit den „Halbdeutschen" auch wohl den gemeinschaftlichen Namen der „deutschen Leute" führen. Dem Adel zunächst standen von Anfang an die „Litteraten"; denn wenn das Land auch von Kaufleuten und Schiffern (1159) entdeckt und besiedelt worden war, so traten doch bald Ritter und Geistliche als Herren des gesamten Grundbesitzes außerhalb der Städte in die Stellung der leitenden Faktoren. Durch die Reformation verlor die Kirche allerdings ihre Macht, und der neue Predigerstand wurde vielfach von den adelichen Grundeigentümern ab¬ hängig. Dennoch nahmen die Geistlichen mit den Advokaten, den Ärzten und Professoren immer noch eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaft ein und erfreuten sich der Befreiung von Kopfsteuer und Militärdienst. Und alle diese Litteraten waren bis vor kurzem durchgehends Deutsche; erst in der allerjüngsten Zeit hat die russiche Negierung Slaven in diesen Stand hineingebracht, in welchem die baltischen Deutschen die Hauptstütze ihrer Nationalität und Bildung erblicken. Die Ostseeprovinzen besitzen mir vier größere Städte: Riga, Reval, Mitau und Dorpat, deren Gesamtbevölkerung.sich 1867 aus 67 400 Deutschen, 30 000 Russen, 28 300 Letten und 18 200 Esthen zusammensetzte. Riga ist die älteste, reichste und politisch noch am unabhängigsten gestellte unter ihnen. Es besitzt ein großes, weit über die Vorstädte hinausgehendes Territorium, mit welchem die Stadt die erste Grundeigcntttmerin Livlands ist, und es ist in bezug auf Gerichtsbarkeit und kirchliche Angelegenheiten unbeeinflußt von der Ritter¬ schaft, gewissermaßen ein besondrer Staat neben dem livländischen Landcsftaate. Die Bürgerschaft teilt sich, wie im Mittelalter, in die „Stände der Stadt," an deren Spitze der wortführende Bürgermeister, dessen „Kollege" und der „Ober- kastenhcrr" stehen. Den zweiten Stand, die „große Gilde," die aus Kaufleuten und Litteraten besteht, leitet der „Dekmann," und ihre Mitglieder zerfallen in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/359>, abgerufen am 21.06.2024.