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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die deutsche Diaspora im Osten Europas.

Bei den Nüssen selbst gilt russisch und orthodox, Bekenner des Glaubens der
orientalischen Kirche sein für eins und dasselbe. Ein Protestant kann kein
Russe sein. So giebt es im Innern des Reiches nicht wenige Deutsche, die
kein Wort deutsch kennen und doch evangelisch kopulirt und beerdigt werden:c.,
kurz, es sind hier seltsam bunte Verhältnisse. Über die baltischen Dinge und
Zustände namentlich ließe sich Tieferes sagen, als das hier berichtete und ge¬
schilderte. Die Ostseeprovinzen sind ein höchst merkwürdiges Staatsgebilde,
das in dieser Art und Gestalt sonst nirgends zu finden ist; denn das Sachsen¬
land in Siebenbürgen, das mancher damit zu vergleichen geneigt sein kann, ist
etwas wesentlich andres. Jene bestehen schon seit sechs- bis siebenhundert
Jahren, sind also keine eigentliche Kolonie. Seit der Reformation bereits ge¬
hören sie nicht mehr zu Deutschland, mit dem sie auch früher, nach Art des
Mittelalters, wo jeder für sich lebte, nur locker verknüpft waren. Geistig da¬
gegen blieben sie im beständigen Zusammenhange mit der Nation, wurden gleich
nach Luthers Auftreten, schon in den ersten zwanzig Jahren, lutherisch, lebten
mit Leibnitz und Wolf, dann mit Schiller und Goethe, und entwickelten ihre
innern Einrichtungen nach dem Maße der politischen Idee in Deutschland,
hoben z. B. (eine Wirkung des Zeitalters der Aufklärung) die Leibeigenschaft
auf. Daneben sorgten sie angelegentlich und mit Erfolg für immer neuen
Zuzug aus Deutschland in Gestalt von Hofmeistern, Schullehrern, Predigern,
Fabrikvorstehern, Eisenbahnkondukteuren, Schafsboniteuren u. dergl.

Das deutsche Element in den Provinzen Kurland, Livland und Esthland
ist ungefähr 13V 000 Seelen stark und macht nur etwa 15 Prozent der Ge¬
samtbevölkerung aus. Dennoch ist es in seinen Zweigen, dem grundbesitzenden
Adel, den Pastoren und Lehrern des platten Landes und der städtischen Bürger¬
schaft, bisher die herrschende Macht gewesen, der sich die Ureinwohner und die
ein gewanderter Russen, Polen und Juden unbedingt unterordneten. Der Adel
dieser baltischen Lande hat sich trotz des vielfachen Wechsels in deren Geschicken
im ganzen sehr rein erhalten, da er bis in unsre Tage herein sich mit Festig¬
keit seines Rechtes bedient hat, selbst russische Fürsten vom "Jndigenat," d. h.
von der Korporation der Ritterschaft, auszuschließen. Einige deutsche Kaufleute
und Advokaten fanden Aufnahme in dieselbe, desgleichen wurden schwedische
Familien wie die Löwis, die Jgelström und die Wrangell inkorporirt, und die
Liven, Firth. Patkul, Uxkull und Koschknll stammen vermutlich von alten vor¬
nehmen lettischen und esthnischen Geschlechtern. Aber so rein sich die baltische
Ritterschaft vom Eindringen nichtdeutscher Elemente hielt, so bunt war sie immer
in bezug auf die deutsche Stammverschiedenheit zusammengesetzt. Fast alle deut¬
schen Landschaften sehen ihre vornehmen Geschlechter hier in dem einen und dem
andern Namen vertreten. Indes haben die meisten Familien in Westfalen, dann
in niedersächsischen Gegenden und in Pommern ihre Urheimat. Ebenso stammen
die Bürger aus allen Gauen unsers Vaterlandes, aber vorwiegend aus den


Die deutsche Diaspora im Osten Europas.

Bei den Nüssen selbst gilt russisch und orthodox, Bekenner des Glaubens der
orientalischen Kirche sein für eins und dasselbe. Ein Protestant kann kein
Russe sein. So giebt es im Innern des Reiches nicht wenige Deutsche, die
kein Wort deutsch kennen und doch evangelisch kopulirt und beerdigt werden:c.,
kurz, es sind hier seltsam bunte Verhältnisse. Über die baltischen Dinge und
Zustände namentlich ließe sich Tieferes sagen, als das hier berichtete und ge¬
schilderte. Die Ostseeprovinzen sind ein höchst merkwürdiges Staatsgebilde,
das in dieser Art und Gestalt sonst nirgends zu finden ist; denn das Sachsen¬
land in Siebenbürgen, das mancher damit zu vergleichen geneigt sein kann, ist
etwas wesentlich andres. Jene bestehen schon seit sechs- bis siebenhundert
Jahren, sind also keine eigentliche Kolonie. Seit der Reformation bereits ge¬
hören sie nicht mehr zu Deutschland, mit dem sie auch früher, nach Art des
Mittelalters, wo jeder für sich lebte, nur locker verknüpft waren. Geistig da¬
gegen blieben sie im beständigen Zusammenhange mit der Nation, wurden gleich
nach Luthers Auftreten, schon in den ersten zwanzig Jahren, lutherisch, lebten
mit Leibnitz und Wolf, dann mit Schiller und Goethe, und entwickelten ihre
innern Einrichtungen nach dem Maße der politischen Idee in Deutschland,
hoben z. B. (eine Wirkung des Zeitalters der Aufklärung) die Leibeigenschaft
auf. Daneben sorgten sie angelegentlich und mit Erfolg für immer neuen
Zuzug aus Deutschland in Gestalt von Hofmeistern, Schullehrern, Predigern,
Fabrikvorstehern, Eisenbahnkondukteuren, Schafsboniteuren u. dergl.

Das deutsche Element in den Provinzen Kurland, Livland und Esthland
ist ungefähr 13V 000 Seelen stark und macht nur etwa 15 Prozent der Ge¬
samtbevölkerung aus. Dennoch ist es in seinen Zweigen, dem grundbesitzenden
Adel, den Pastoren und Lehrern des platten Landes und der städtischen Bürger¬
schaft, bisher die herrschende Macht gewesen, der sich die Ureinwohner und die
ein gewanderter Russen, Polen und Juden unbedingt unterordneten. Der Adel
dieser baltischen Lande hat sich trotz des vielfachen Wechsels in deren Geschicken
im ganzen sehr rein erhalten, da er bis in unsre Tage herein sich mit Festig¬
keit seines Rechtes bedient hat, selbst russische Fürsten vom „Jndigenat," d. h.
von der Korporation der Ritterschaft, auszuschließen. Einige deutsche Kaufleute
und Advokaten fanden Aufnahme in dieselbe, desgleichen wurden schwedische
Familien wie die Löwis, die Jgelström und die Wrangell inkorporirt, und die
Liven, Firth. Patkul, Uxkull und Koschknll stammen vermutlich von alten vor¬
nehmen lettischen und esthnischen Geschlechtern. Aber so rein sich die baltische
Ritterschaft vom Eindringen nichtdeutscher Elemente hielt, so bunt war sie immer
in bezug auf die deutsche Stammverschiedenheit zusammengesetzt. Fast alle deut¬
schen Landschaften sehen ihre vornehmen Geschlechter hier in dem einen und dem
andern Namen vertreten. Indes haben die meisten Familien in Westfalen, dann
in niedersächsischen Gegenden und in Pommern ihre Urheimat. Ebenso stammen
die Bürger aus allen Gauen unsers Vaterlandes, aber vorwiegend aus den


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[0358] Die deutsche Diaspora im Osten Europas. Bei den Nüssen selbst gilt russisch und orthodox, Bekenner des Glaubens der orientalischen Kirche sein für eins und dasselbe. Ein Protestant kann kein Russe sein. So giebt es im Innern des Reiches nicht wenige Deutsche, die kein Wort deutsch kennen und doch evangelisch kopulirt und beerdigt werden:c., kurz, es sind hier seltsam bunte Verhältnisse. Über die baltischen Dinge und Zustände namentlich ließe sich Tieferes sagen, als das hier berichtete und ge¬ schilderte. Die Ostseeprovinzen sind ein höchst merkwürdiges Staatsgebilde, das in dieser Art und Gestalt sonst nirgends zu finden ist; denn das Sachsen¬ land in Siebenbürgen, das mancher damit zu vergleichen geneigt sein kann, ist etwas wesentlich andres. Jene bestehen schon seit sechs- bis siebenhundert Jahren, sind also keine eigentliche Kolonie. Seit der Reformation bereits ge¬ hören sie nicht mehr zu Deutschland, mit dem sie auch früher, nach Art des Mittelalters, wo jeder für sich lebte, nur locker verknüpft waren. Geistig da¬ gegen blieben sie im beständigen Zusammenhange mit der Nation, wurden gleich nach Luthers Auftreten, schon in den ersten zwanzig Jahren, lutherisch, lebten mit Leibnitz und Wolf, dann mit Schiller und Goethe, und entwickelten ihre innern Einrichtungen nach dem Maße der politischen Idee in Deutschland, hoben z. B. (eine Wirkung des Zeitalters der Aufklärung) die Leibeigenschaft auf. Daneben sorgten sie angelegentlich und mit Erfolg für immer neuen Zuzug aus Deutschland in Gestalt von Hofmeistern, Schullehrern, Predigern, Fabrikvorstehern, Eisenbahnkondukteuren, Schafsboniteuren u. dergl. Das deutsche Element in den Provinzen Kurland, Livland und Esthland ist ungefähr 13V 000 Seelen stark und macht nur etwa 15 Prozent der Ge¬ samtbevölkerung aus. Dennoch ist es in seinen Zweigen, dem grundbesitzenden Adel, den Pastoren und Lehrern des platten Landes und der städtischen Bürger¬ schaft, bisher die herrschende Macht gewesen, der sich die Ureinwohner und die ein gewanderter Russen, Polen und Juden unbedingt unterordneten. Der Adel dieser baltischen Lande hat sich trotz des vielfachen Wechsels in deren Geschicken im ganzen sehr rein erhalten, da er bis in unsre Tage herein sich mit Festig¬ keit seines Rechtes bedient hat, selbst russische Fürsten vom „Jndigenat," d. h. von der Korporation der Ritterschaft, auszuschließen. Einige deutsche Kaufleute und Advokaten fanden Aufnahme in dieselbe, desgleichen wurden schwedische Familien wie die Löwis, die Jgelström und die Wrangell inkorporirt, und die Liven, Firth. Patkul, Uxkull und Koschknll stammen vermutlich von alten vor¬ nehmen lettischen und esthnischen Geschlechtern. Aber so rein sich die baltische Ritterschaft vom Eindringen nichtdeutscher Elemente hielt, so bunt war sie immer in bezug auf die deutsche Stammverschiedenheit zusammengesetzt. Fast alle deut¬ schen Landschaften sehen ihre vornehmen Geschlechter hier in dem einen und dem andern Namen vertreten. Indes haben die meisten Familien in Westfalen, dann in niedersächsischen Gegenden und in Pommern ihre Urheimat. Ebenso stammen die Bürger aus allen Gauen unsers Vaterlandes, aber vorwiegend aus den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/358>, abgerufen am 21.06.2024.