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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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reien ließ man es nicht fehlen; das ganze Streben der Regierung ging dahin,
diese Deutschen zu rumänisiren. Als man zu diesem Zwecke die deutschen Schulen
derselben antasten wollte, erfolgten dagegen von Berlin her Vorstellungen, und
das half zwar einigermaßen, aber die Lage blieb trotzdem eine fo unerträgliche,
daß die Leute sich entschlossen, abermals zum Wauderstcibe zu greifen,"

Die ungeheure Mehrzahl der Deutschen im östlichen Europa lebt im
russischen Reiche. Wir berichten über dieselben etwas ausführlicher, da hierdurch
ergänzt wird, was Leroy-Beaulieu (vergl. Ur. 29 d. Bl.) über sie urteilt.
Die Ansiedlung derselben vollzog sich in zwei zeitlich weit auseinanderliegenden
Perioden. Der ersten gehören die sogenannten Ostseeprovinzen an, in der
zweiten entstanden jene zahlreichen deutschen Ansiedlungen, die sich in Gruppen
vom finnischen Golfe bis zum schwarzen Meere und zum Kaukasus, sowie bis
an den Ural erstrecken. Jene erschienen im Mittelalter, machten sich zu Herren
im Lande und bilden hier noch heute den bevorzugten Stand, dem viele
Würdenträger des Zarenreiches entstammen; die andern haben sich, erst in den
letzten Jahrhunderten eingewandert, nie über die bescheidne Sphäre erhoben,
die ihnen von Anfang an dargeboten war. Die Zahl der gegenwärtig im euro¬
päischen Rußland wohnhaften Deutschen beläuft sich auf rund eine Million,
und sie wächst fortwährend nicht bloß durch Überschuß der Geburten über die
Sterbefälle, sondern auch durch Zuwanderung. Von 1857 bis 1876 wanderten
1605559 Deutsche ein und 1048164 aus, sodciß 537395 im Lande verblieben,
und 1877 ließen sich 36650 Angehörige des deutschen Reiches und 23560
Österreicher, darunter gleichfalls viele Deutsche, im russischen Reiche dauernd
nieder. Am zahlreichsten wohnen die zu unsrer Nationalität gehörigen Unter¬
thanen des Kaisers Alexander in den Gouvernements Samara, Saratow,
Piotrkow, Warschau, Livland und Kalisch, sodann in Cherson, Kurland, Plozk,
Petersburg, Suwalki und Volhynien. In Finnland sind die früher dort ziemlich
stark vertretenen deutscheu Elemente bis auf einige hundert Köpfe im Schweden-
tum aufgegangen.

Was die Ostseeprovinzen betrifft, so verbreitet sich der Verfasser unsrer
Schrift sehr ausführlich über die Geschichte, -das Wesen und Leben und die
gegenwärtigen Verhältnisse der dortigen Deutschen, und das Bild ist im allge¬
meinen richtig gezeichnet, wenn es auch nicht viel mehr als die Außenseite
wiedergiebt. Jung unterscheidet überhaupt das staatsrechtliche Moment nicht
genügend von dem anthropologischen, also die aus den Staaten des deutschen
Bundes und des jetzigen Reiches eingewanderten Deutschen nicht hinreichend
von den baltischen, und diese nicht von den aus Deutschland berufenen Bauern¬
kolonien. Er nennt alles deutsch, was deutschen Blutes ist. Aber wer ist noch
deutsch, und wer ist es nicht mehr? Es giebt unzählige Abstufungen zwischen
den reinen Russen hier und den reinen Deutschen dort. Auch die Juden werden
oft zu den Deutschen gezählt, lediglich weil sie eine Art von Deutsch sprechen.


reien ließ man es nicht fehlen; das ganze Streben der Regierung ging dahin,
diese Deutschen zu rumänisiren. Als man zu diesem Zwecke die deutschen Schulen
derselben antasten wollte, erfolgten dagegen von Berlin her Vorstellungen, und
das half zwar einigermaßen, aber die Lage blieb trotzdem eine fo unerträgliche,
daß die Leute sich entschlossen, abermals zum Wauderstcibe zu greifen,"

Die ungeheure Mehrzahl der Deutschen im östlichen Europa lebt im
russischen Reiche. Wir berichten über dieselben etwas ausführlicher, da hierdurch
ergänzt wird, was Leroy-Beaulieu (vergl. Ur. 29 d. Bl.) über sie urteilt.
Die Ansiedlung derselben vollzog sich in zwei zeitlich weit auseinanderliegenden
Perioden. Der ersten gehören die sogenannten Ostseeprovinzen an, in der
zweiten entstanden jene zahlreichen deutschen Ansiedlungen, die sich in Gruppen
vom finnischen Golfe bis zum schwarzen Meere und zum Kaukasus, sowie bis
an den Ural erstrecken. Jene erschienen im Mittelalter, machten sich zu Herren
im Lande und bilden hier noch heute den bevorzugten Stand, dem viele
Würdenträger des Zarenreiches entstammen; die andern haben sich, erst in den
letzten Jahrhunderten eingewandert, nie über die bescheidne Sphäre erhoben,
die ihnen von Anfang an dargeboten war. Die Zahl der gegenwärtig im euro¬
päischen Rußland wohnhaften Deutschen beläuft sich auf rund eine Million,
und sie wächst fortwährend nicht bloß durch Überschuß der Geburten über die
Sterbefälle, sondern auch durch Zuwanderung. Von 1857 bis 1876 wanderten
1605559 Deutsche ein und 1048164 aus, sodciß 537395 im Lande verblieben,
und 1877 ließen sich 36650 Angehörige des deutschen Reiches und 23560
Österreicher, darunter gleichfalls viele Deutsche, im russischen Reiche dauernd
nieder. Am zahlreichsten wohnen die zu unsrer Nationalität gehörigen Unter¬
thanen des Kaisers Alexander in den Gouvernements Samara, Saratow,
Piotrkow, Warschau, Livland und Kalisch, sodann in Cherson, Kurland, Plozk,
Petersburg, Suwalki und Volhynien. In Finnland sind die früher dort ziemlich
stark vertretenen deutscheu Elemente bis auf einige hundert Köpfe im Schweden-
tum aufgegangen.

Was die Ostseeprovinzen betrifft, so verbreitet sich der Verfasser unsrer
Schrift sehr ausführlich über die Geschichte, -das Wesen und Leben und die
gegenwärtigen Verhältnisse der dortigen Deutschen, und das Bild ist im allge¬
meinen richtig gezeichnet, wenn es auch nicht viel mehr als die Außenseite
wiedergiebt. Jung unterscheidet überhaupt das staatsrechtliche Moment nicht
genügend von dem anthropologischen, also die aus den Staaten des deutschen
Bundes und des jetzigen Reiches eingewanderten Deutschen nicht hinreichend
von den baltischen, und diese nicht von den aus Deutschland berufenen Bauern¬
kolonien. Er nennt alles deutsch, was deutschen Blutes ist. Aber wer ist noch
deutsch, und wer ist es nicht mehr? Es giebt unzählige Abstufungen zwischen
den reinen Russen hier und den reinen Deutschen dort. Auch die Juden werden
oft zu den Deutschen gezählt, lediglich weil sie eine Art von Deutsch sprechen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/357>, abgerufen am 21.06.2024.