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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Paul Lindaus Mayo.

Faktoren sind sorgfältig gegeneinander abgewogen, nichts Unvorhergesehenes stört
die Berechnung, und am Ende stimmt die Bilanz aufs Haar. Und nüchtern
wie die Zahlen eines Kontobuchs ist auch die Form, in welche Lindau seine
poetischen Schöpfungen kleidet. Sein Wörterverzeichnis ist überaus arm, so
arm, daß er es aus dem Vorrat der deutschen Sprache noch erheblich bereichern
könnte, ohne daß er zu neuen Wortbildungen seine Zuflucht zu nehmen brauchte.
So spricht er zweimal von "freiem Verzehr" im Sinne von "freier Zeche,"
wobei er sich vielleicht aus "Verkehr" berufen wird, welches in gleicher Weise
von "verkehren" abgeleitet worden ist. Dagegen läßt sich aber einwenden, daß
wir bereits ein gutes Wort "Zehrung" besitzen, also nicht die geringste Ver¬
anlassung zu einer Neubildung haben. Gleichwohl wäre es bei der immer mehr
wachsenden Verwahrlosung unsrer Sprache, zu welcher die fremden Elemente der
deutschen Journalistik das Wesentlichste beigetragen haben, durchaus nicht auf¬
fällig, wenn auch diese Lindausche Erfindung (oder sollte es ein süddeutscher
Provinzialismus sein?) allmählich in den Zeitungsjargon Eingang fände.

Lindaus Sprache hat keine Spur von poetischem Schmelz oder auch nur
von sinnlichem Glanz. Am Ende könnte der Novellist darauf verzichten, wenn
er die Kunst besäße, durch geistvolle psychologische Analysen den Leser zu fesseln.
Aber auch hier läßt ihn die Erfindung oder feine mangelhafte Beobachtungs¬
gabe im Stich. Die Charaktere, welche er uns vorführt, sind nichts weniger
als originell. Der europäische Offizier, die blasirte Amerikanerin, die aus
Langeweile ihr Herz entdeckt, und der zugeknöpfte Dankes sind stereotype Fi¬
guren, die in keinem amerikanischen Romane fehlen. Der Trapper Dules Bill,
welcher aus den Episodenfiguren etwas greifbarer hervortritt, zeigt die Bret
Hartesche Faktur zu deutlich, als daß man nach einem andern Ursprungszeugnis
zu suchen hätte. So hätten wir noch die Indianerin Mayo, die ganz den Ein¬
druck macht, als wäre sie nach einer Photographie gezeichnet. Wir wollen sie
jedoch gern als eine Originalschöpfnng Lindaus gelten lassen, weil sonst gar-
nichts übrig bliebe, was nicht mühsam fremden Mustern nachbuchstabirt wäre.


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Paul Lindaus Mayo.

Faktoren sind sorgfältig gegeneinander abgewogen, nichts Unvorhergesehenes stört
die Berechnung, und am Ende stimmt die Bilanz aufs Haar. Und nüchtern
wie die Zahlen eines Kontobuchs ist auch die Form, in welche Lindau seine
poetischen Schöpfungen kleidet. Sein Wörterverzeichnis ist überaus arm, so
arm, daß er es aus dem Vorrat der deutschen Sprache noch erheblich bereichern
könnte, ohne daß er zu neuen Wortbildungen seine Zuflucht zu nehmen brauchte.
So spricht er zweimal von „freiem Verzehr" im Sinne von „freier Zeche,"
wobei er sich vielleicht aus „Verkehr" berufen wird, welches in gleicher Weise
von „verkehren" abgeleitet worden ist. Dagegen läßt sich aber einwenden, daß
wir bereits ein gutes Wort „Zehrung" besitzen, also nicht die geringste Ver¬
anlassung zu einer Neubildung haben. Gleichwohl wäre es bei der immer mehr
wachsenden Verwahrlosung unsrer Sprache, zu welcher die fremden Elemente der
deutschen Journalistik das Wesentlichste beigetragen haben, durchaus nicht auf¬
fällig, wenn auch diese Lindausche Erfindung (oder sollte es ein süddeutscher
Provinzialismus sein?) allmählich in den Zeitungsjargon Eingang fände.

Lindaus Sprache hat keine Spur von poetischem Schmelz oder auch nur
von sinnlichem Glanz. Am Ende könnte der Novellist darauf verzichten, wenn
er die Kunst besäße, durch geistvolle psychologische Analysen den Leser zu fesseln.
Aber auch hier läßt ihn die Erfindung oder feine mangelhafte Beobachtungs¬
gabe im Stich. Die Charaktere, welche er uns vorführt, sind nichts weniger
als originell. Der europäische Offizier, die blasirte Amerikanerin, die aus
Langeweile ihr Herz entdeckt, und der zugeknöpfte Dankes sind stereotype Fi¬
guren, die in keinem amerikanischen Romane fehlen. Der Trapper Dules Bill,
welcher aus den Episodenfiguren etwas greifbarer hervortritt, zeigt die Bret
Hartesche Faktur zu deutlich, als daß man nach einem andern Ursprungszeugnis
zu suchen hätte. So hätten wir noch die Indianerin Mayo, die ganz den Ein¬
druck macht, als wäre sie nach einer Photographie gezeichnet. Wir wollen sie
jedoch gern als eine Originalschöpfnng Lindaus gelten lassen, weil sonst gar-
nichts übrig bliebe, was nicht mühsam fremden Mustern nachbuchstabirt wäre.


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[0342] Paul Lindaus Mayo. Faktoren sind sorgfältig gegeneinander abgewogen, nichts Unvorhergesehenes stört die Berechnung, und am Ende stimmt die Bilanz aufs Haar. Und nüchtern wie die Zahlen eines Kontobuchs ist auch die Form, in welche Lindau seine poetischen Schöpfungen kleidet. Sein Wörterverzeichnis ist überaus arm, so arm, daß er es aus dem Vorrat der deutschen Sprache noch erheblich bereichern könnte, ohne daß er zu neuen Wortbildungen seine Zuflucht zu nehmen brauchte. So spricht er zweimal von „freiem Verzehr" im Sinne von „freier Zeche," wobei er sich vielleicht aus „Verkehr" berufen wird, welches in gleicher Weise von „verkehren" abgeleitet worden ist. Dagegen läßt sich aber einwenden, daß wir bereits ein gutes Wort „Zehrung" besitzen, also nicht die geringste Ver¬ anlassung zu einer Neubildung haben. Gleichwohl wäre es bei der immer mehr wachsenden Verwahrlosung unsrer Sprache, zu welcher die fremden Elemente der deutschen Journalistik das Wesentlichste beigetragen haben, durchaus nicht auf¬ fällig, wenn auch diese Lindausche Erfindung (oder sollte es ein süddeutscher Provinzialismus sein?) allmählich in den Zeitungsjargon Eingang fände. Lindaus Sprache hat keine Spur von poetischem Schmelz oder auch nur von sinnlichem Glanz. Am Ende könnte der Novellist darauf verzichten, wenn er die Kunst besäße, durch geistvolle psychologische Analysen den Leser zu fesseln. Aber auch hier läßt ihn die Erfindung oder feine mangelhafte Beobachtungs¬ gabe im Stich. Die Charaktere, welche er uns vorführt, sind nichts weniger als originell. Der europäische Offizier, die blasirte Amerikanerin, die aus Langeweile ihr Herz entdeckt, und der zugeknöpfte Dankes sind stereotype Fi¬ guren, die in keinem amerikanischen Romane fehlen. Der Trapper Dules Bill, welcher aus den Episodenfiguren etwas greifbarer hervortritt, zeigt die Bret Hartesche Faktur zu deutlich, als daß man nach einem andern Ursprungszeugnis zu suchen hätte. So hätten wir noch die Indianerin Mayo, die ganz den Ein¬ druck macht, als wäre sie nach einer Photographie gezeichnet. Wir wollen sie jedoch gern als eine Originalschöpfnng Lindaus gelten lassen, weil sonst gar- nichts übrig bliebe, was nicht mühsam fremden Mustern nachbuchstabirt wäre. 5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/342>, abgerufen am 22.06.2024.