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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

lichen siegreichen Schritt auf ein Gebiet, das er noch nicht betreten, immer noch
erwarten, und es ist wohl möglich, daß unser Opernrepertoire eines Tages durch
ein Werk von Brahms bereichert würde. Wir würden uns zunächst eine Schöpfung
von der vornehmen Größe der Cherubinischen "Medea" vorstellen. Eine prinzipielle
Abneigung gegen die musikalische Bühne hegt Brahms durchaus nicht: er ver¬
folgt im Gegenteil alle ihre neuen Erscheinungen, soweit sie Charakter zeigen,
mit der größten Teilnahme; seinem verstorbnen Freunde H. Götz war er bei der
Vollendung der "Francesca" hilfreich. Näherstehende schildern, bis zu welchem
Grade des Mitempfindens ihn namentlich die Meisteropern Mozarts begeistern.

Auf Brahms ruhen noch sehr viele Hoffnungen; augenblicklich liegt aber
die Pflicht ob, auf das, was er bereits erfüllt hat, noch einen zusammenfassenden
Blick zurückzuwerfen.

Es ist eine lange Reihe bedeutender und interessanter Werke, die wir haben
Revue Passiren lassen, kein einziges nichtig und flüchtig, viele aber, welche mit
dem Maßstab gemessen werden müssen, den uns die höchsten Leistungen der
ersten Meister an die Hand geben. Den Namen von Brahms im Hinblick auf
sein "Deutsches Requiem," auf seine O-moU-Symphonie in einem Atem mit
dem von Bach und Beethoven zu nennen, ist keine Übertreibung. Wenn mit
dieser Trias ein exklusiver Begriff verbunden wird, wenn diese geistreiche Re¬
verenz gegen die drei Einzigen bedeuten soll, daß über die Händel, Haydn,
Mozart und andre Meister zur Tagesordnung gegangen werden könne, so wird
über diese unkünstlerische Ungerechtigkeit niemand bedenklicher den Kopf schütteln
als Brahms selbst, dem die gesundeste Empfindung und ein sonnenklarer Ver¬
stand immer zu eigen gewesen sind.

Eine spezifische Musikbegabung von ungewöhnlicher Stärke tritt uns in
seinen ersten Werken entgegen. Dennoch darf man annehmen, daß er durch sie
allein hochbegabte Zeitgenossen wie Rubinstein nicht überholt haben würde.
Was den musikalischen Genius in Brahms so mächtig hob und höher trug,
waren Gaben der Persönlichkeit und des Charakters. Seine Entwicklung ist
ebenso bedeutend wie seine angeborne Begabung, und diese Entwicklung ist so gut
wie sein eignes Verdienst. Die Mutter Natur, stattete ihn mit einer starken
Phantasie aus und mit männlich kräftigem Wesen; sie gab ihm ungemessen große
und hohe Gedanken und einen Sinn von äußerster Zartheit dazu. Die Ver¬
mittlung der Extreme überließ sie ihm selbst, und er ruhte nicht, bis er sich die
ganze Skala menschlicher Empfindungen zu eigen gemacht hatte. Sein psychischer
Organismus erlangte mehr und mehr eine Vielseitigkeit und Reichhaltigkeit, wie
sie bei Künstlern äußerst selten getroffen wird, und eine Elastizität, die viel¬
leicht das charakteristische Merkmal seiner Individualität bildet.

Was Brahms' Musik äußerlich und technisch charakterisirt, ist ebenfalls
das gemeinsame Resultat von Begabung und Charakter, eines eminenten Kunst¬
verstandes und eines Kunststudiums, das ungewöhnlich umfassend und tief ge-


Johannes Brahms.

lichen siegreichen Schritt auf ein Gebiet, das er noch nicht betreten, immer noch
erwarten, und es ist wohl möglich, daß unser Opernrepertoire eines Tages durch
ein Werk von Brahms bereichert würde. Wir würden uns zunächst eine Schöpfung
von der vornehmen Größe der Cherubinischen „Medea" vorstellen. Eine prinzipielle
Abneigung gegen die musikalische Bühne hegt Brahms durchaus nicht: er ver¬
folgt im Gegenteil alle ihre neuen Erscheinungen, soweit sie Charakter zeigen,
mit der größten Teilnahme; seinem verstorbnen Freunde H. Götz war er bei der
Vollendung der „Francesca" hilfreich. Näherstehende schildern, bis zu welchem
Grade des Mitempfindens ihn namentlich die Meisteropern Mozarts begeistern.

Auf Brahms ruhen noch sehr viele Hoffnungen; augenblicklich liegt aber
die Pflicht ob, auf das, was er bereits erfüllt hat, noch einen zusammenfassenden
Blick zurückzuwerfen.

Es ist eine lange Reihe bedeutender und interessanter Werke, die wir haben
Revue Passiren lassen, kein einziges nichtig und flüchtig, viele aber, welche mit
dem Maßstab gemessen werden müssen, den uns die höchsten Leistungen der
ersten Meister an die Hand geben. Den Namen von Brahms im Hinblick auf
sein „Deutsches Requiem," auf seine O-moU-Symphonie in einem Atem mit
dem von Bach und Beethoven zu nennen, ist keine Übertreibung. Wenn mit
dieser Trias ein exklusiver Begriff verbunden wird, wenn diese geistreiche Re¬
verenz gegen die drei Einzigen bedeuten soll, daß über die Händel, Haydn,
Mozart und andre Meister zur Tagesordnung gegangen werden könne, so wird
über diese unkünstlerische Ungerechtigkeit niemand bedenklicher den Kopf schütteln
als Brahms selbst, dem die gesundeste Empfindung und ein sonnenklarer Ver¬
stand immer zu eigen gewesen sind.

Eine spezifische Musikbegabung von ungewöhnlicher Stärke tritt uns in
seinen ersten Werken entgegen. Dennoch darf man annehmen, daß er durch sie
allein hochbegabte Zeitgenossen wie Rubinstein nicht überholt haben würde.
Was den musikalischen Genius in Brahms so mächtig hob und höher trug,
waren Gaben der Persönlichkeit und des Charakters. Seine Entwicklung ist
ebenso bedeutend wie seine angeborne Begabung, und diese Entwicklung ist so gut
wie sein eignes Verdienst. Die Mutter Natur, stattete ihn mit einer starken
Phantasie aus und mit männlich kräftigem Wesen; sie gab ihm ungemessen große
und hohe Gedanken und einen Sinn von äußerster Zartheit dazu. Die Ver¬
mittlung der Extreme überließ sie ihm selbst, und er ruhte nicht, bis er sich die
ganze Skala menschlicher Empfindungen zu eigen gemacht hatte. Sein psychischer
Organismus erlangte mehr und mehr eine Vielseitigkeit und Reichhaltigkeit, wie
sie bei Künstlern äußerst selten getroffen wird, und eine Elastizität, die viel¬
leicht das charakteristische Merkmal seiner Individualität bildet.

Was Brahms' Musik äußerlich und technisch charakterisirt, ist ebenfalls
das gemeinsame Resultat von Begabung und Charakter, eines eminenten Kunst¬
verstandes und eines Kunststudiums, das ungewöhnlich umfassend und tief ge-


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[0333] Johannes Brahms. lichen siegreichen Schritt auf ein Gebiet, das er noch nicht betreten, immer noch erwarten, und es ist wohl möglich, daß unser Opernrepertoire eines Tages durch ein Werk von Brahms bereichert würde. Wir würden uns zunächst eine Schöpfung von der vornehmen Größe der Cherubinischen „Medea" vorstellen. Eine prinzipielle Abneigung gegen die musikalische Bühne hegt Brahms durchaus nicht: er ver¬ folgt im Gegenteil alle ihre neuen Erscheinungen, soweit sie Charakter zeigen, mit der größten Teilnahme; seinem verstorbnen Freunde H. Götz war er bei der Vollendung der „Francesca" hilfreich. Näherstehende schildern, bis zu welchem Grade des Mitempfindens ihn namentlich die Meisteropern Mozarts begeistern. Auf Brahms ruhen noch sehr viele Hoffnungen; augenblicklich liegt aber die Pflicht ob, auf das, was er bereits erfüllt hat, noch einen zusammenfassenden Blick zurückzuwerfen. Es ist eine lange Reihe bedeutender und interessanter Werke, die wir haben Revue Passiren lassen, kein einziges nichtig und flüchtig, viele aber, welche mit dem Maßstab gemessen werden müssen, den uns die höchsten Leistungen der ersten Meister an die Hand geben. Den Namen von Brahms im Hinblick auf sein „Deutsches Requiem," auf seine O-moU-Symphonie in einem Atem mit dem von Bach und Beethoven zu nennen, ist keine Übertreibung. Wenn mit dieser Trias ein exklusiver Begriff verbunden wird, wenn diese geistreiche Re¬ verenz gegen die drei Einzigen bedeuten soll, daß über die Händel, Haydn, Mozart und andre Meister zur Tagesordnung gegangen werden könne, so wird über diese unkünstlerische Ungerechtigkeit niemand bedenklicher den Kopf schütteln als Brahms selbst, dem die gesundeste Empfindung und ein sonnenklarer Ver¬ stand immer zu eigen gewesen sind. Eine spezifische Musikbegabung von ungewöhnlicher Stärke tritt uns in seinen ersten Werken entgegen. Dennoch darf man annehmen, daß er durch sie allein hochbegabte Zeitgenossen wie Rubinstein nicht überholt haben würde. Was den musikalischen Genius in Brahms so mächtig hob und höher trug, waren Gaben der Persönlichkeit und des Charakters. Seine Entwicklung ist ebenso bedeutend wie seine angeborne Begabung, und diese Entwicklung ist so gut wie sein eignes Verdienst. Die Mutter Natur, stattete ihn mit einer starken Phantasie aus und mit männlich kräftigem Wesen; sie gab ihm ungemessen große und hohe Gedanken und einen Sinn von äußerster Zartheit dazu. Die Ver¬ mittlung der Extreme überließ sie ihm selbst, und er ruhte nicht, bis er sich die ganze Skala menschlicher Empfindungen zu eigen gemacht hatte. Sein psychischer Organismus erlangte mehr und mehr eine Vielseitigkeit und Reichhaltigkeit, wie sie bei Künstlern äußerst selten getroffen wird, und eine Elastizität, die viel¬ leicht das charakteristische Merkmal seiner Individualität bildet. Was Brahms' Musik äußerlich und technisch charakterisirt, ist ebenfalls das gemeinsame Resultat von Begabung und Charakter, eines eminenten Kunst¬ verstandes und eines Kunststudiums, das ungewöhnlich umfassend und tief ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/333>, abgerufen am 22.06.2024.