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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

nannt werden muß. Seit Händel war vielleicht nie wieder ein Tonsetzer in
dem Grade aller Stile Meister wie Brahms. Eine Zeit lang beliebte man in
ihm einen Schüler Schumanns zu sehen, dann wieder einen Beethovenianer,
einen Bachianer; andre entdeckten immer neue Spuren, sogar die Ähnlichkeit
mit Bellini hat nicht gefehlt. In Wahrheit hat Brahms die Gegenwart und
die Vergangenheit forschend durchgearbeitet, die großen und die kleinen Vertreter
seiner Kunst belauscht und sich häuslich umgethan in den einfachen Wohnungen
des Volksliedes so gut wie in den stolzesten Prachtbauten der hohen Kunst. Was
er wesentlich fand, das machte er sich zu eigen, und that dies mit einer Gründ¬
lichkeit, Innerlichkeit, die über die kleinliche Koketterie des Eklektikers hoch er¬
haben ist. Durch seine energischen und weitangelegten Studien gewann Brahms
eine Freiheit und eine Vielseitigkeit der Kompositionstechnik, eine theoretische
Basis von einer Breite, die selbst dann die größte Beachtung finden würde,
wenn eine weniger bedeutende geistige Potenz hinter ihr stünde.

Derjenige Teil des musikalischen Formgebietes, welchem Brahms seinen
Stempel am tiefsten eingedrückt hat, ist die Harmonik. Hier hat er neue Mittel
geschaffen und alte wieder zu Ehren gebracht, die seit den Zeiten Bachs beiseite
gestellt waren. Unser Harmoniewesen drohte in Ärmlichkeit zu fallen, an die
Stelle des Charakters trat die Konvenienz, trotz Enharmonik und Chromatik
wurden die Schranken immer enger, und nur Tonsetzer von besonderm Genie und
besondrer Bildung durchbrachen sie an glücklichen Tagen. Den wenigen Glcich-
strebenden und den Übelstand Durchschauenden weit voran, hat Brahms zumeist
dazu beigetragen, daß die Harmonie wieder Kraft und Leben gewinnt. Er hat
den Begriff der Tonart erweitert, die Cadenz aus dem tötenden Einerlei von
Tonica und Dominant befreit und der Modulation eine Menge neuer orga¬
nischer Typen gewonnen, die bis jetzt noch nicht einmal theoretisch gebucht sind.
Die Harmonik namentlich giebt den Werken von Brahms ihr eigentümliches
Kolorit, aus ihr entspringen die warmen, beweglichen und charaktervoller Farben,
welche seine Tongemülde von andern aus weiter Distance unterscheiden. In
seinen mittlern Perioden namentlich kehrt Brahms gern zu bestimmten harmo¬
nischen Lieblingswendungen zurück, die inzwischen bereits zum Gemeingut aller
geworden sind.

Als Melodiker gehört Brahms unter die originellsten und genialsten Er¬
finder. Seine Melodien sind im Bau von der größten Mannichfaltigkeit. Be¬
sonders reich ist er an lang hinströmenden, aus dem Vollen geschöpften Gesängen,
zurückhaltend mit Tonfiguren von übergreifend sinnlichem Charakter. Die
harmonisch schmucklose, nur auf sich selbst gestellte Weise ist ihm ebenso ge¬
läufig, wie die kunstvoll mit dem Akkordleben verwachsene. Die letztere trägt
seine Signatur besonders deutlich, häufig verwebt er in sie kühn und ursprüng¬
lich die selteneren Intervalle. In der Rhythmik ist Brahms außerordentlich
reich an Formen und bedient sich der einfachsten und der komplizirtesten mit


Johannes Brahms.

nannt werden muß. Seit Händel war vielleicht nie wieder ein Tonsetzer in
dem Grade aller Stile Meister wie Brahms. Eine Zeit lang beliebte man in
ihm einen Schüler Schumanns zu sehen, dann wieder einen Beethovenianer,
einen Bachianer; andre entdeckten immer neue Spuren, sogar die Ähnlichkeit
mit Bellini hat nicht gefehlt. In Wahrheit hat Brahms die Gegenwart und
die Vergangenheit forschend durchgearbeitet, die großen und die kleinen Vertreter
seiner Kunst belauscht und sich häuslich umgethan in den einfachen Wohnungen
des Volksliedes so gut wie in den stolzesten Prachtbauten der hohen Kunst. Was
er wesentlich fand, das machte er sich zu eigen, und that dies mit einer Gründ¬
lichkeit, Innerlichkeit, die über die kleinliche Koketterie des Eklektikers hoch er¬
haben ist. Durch seine energischen und weitangelegten Studien gewann Brahms
eine Freiheit und eine Vielseitigkeit der Kompositionstechnik, eine theoretische
Basis von einer Breite, die selbst dann die größte Beachtung finden würde,
wenn eine weniger bedeutende geistige Potenz hinter ihr stünde.

Derjenige Teil des musikalischen Formgebietes, welchem Brahms seinen
Stempel am tiefsten eingedrückt hat, ist die Harmonik. Hier hat er neue Mittel
geschaffen und alte wieder zu Ehren gebracht, die seit den Zeiten Bachs beiseite
gestellt waren. Unser Harmoniewesen drohte in Ärmlichkeit zu fallen, an die
Stelle des Charakters trat die Konvenienz, trotz Enharmonik und Chromatik
wurden die Schranken immer enger, und nur Tonsetzer von besonderm Genie und
besondrer Bildung durchbrachen sie an glücklichen Tagen. Den wenigen Glcich-
strebenden und den Übelstand Durchschauenden weit voran, hat Brahms zumeist
dazu beigetragen, daß die Harmonie wieder Kraft und Leben gewinnt. Er hat
den Begriff der Tonart erweitert, die Cadenz aus dem tötenden Einerlei von
Tonica und Dominant befreit und der Modulation eine Menge neuer orga¬
nischer Typen gewonnen, die bis jetzt noch nicht einmal theoretisch gebucht sind.
Die Harmonik namentlich giebt den Werken von Brahms ihr eigentümliches
Kolorit, aus ihr entspringen die warmen, beweglichen und charaktervoller Farben,
welche seine Tongemülde von andern aus weiter Distance unterscheiden. In
seinen mittlern Perioden namentlich kehrt Brahms gern zu bestimmten harmo¬
nischen Lieblingswendungen zurück, die inzwischen bereits zum Gemeingut aller
geworden sind.

Als Melodiker gehört Brahms unter die originellsten und genialsten Er¬
finder. Seine Melodien sind im Bau von der größten Mannichfaltigkeit. Be¬
sonders reich ist er an lang hinströmenden, aus dem Vollen geschöpften Gesängen,
zurückhaltend mit Tonfiguren von übergreifend sinnlichem Charakter. Die
harmonisch schmucklose, nur auf sich selbst gestellte Weise ist ihm ebenso ge¬
läufig, wie die kunstvoll mit dem Akkordleben verwachsene. Die letztere trägt
seine Signatur besonders deutlich, häufig verwebt er in sie kühn und ursprüng¬
lich die selteneren Intervalle. In der Rhythmik ist Brahms außerordentlich
reich an Formen und bedient sich der einfachsten und der komplizirtesten mit


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[0334] Johannes Brahms. nannt werden muß. Seit Händel war vielleicht nie wieder ein Tonsetzer in dem Grade aller Stile Meister wie Brahms. Eine Zeit lang beliebte man in ihm einen Schüler Schumanns zu sehen, dann wieder einen Beethovenianer, einen Bachianer; andre entdeckten immer neue Spuren, sogar die Ähnlichkeit mit Bellini hat nicht gefehlt. In Wahrheit hat Brahms die Gegenwart und die Vergangenheit forschend durchgearbeitet, die großen und die kleinen Vertreter seiner Kunst belauscht und sich häuslich umgethan in den einfachen Wohnungen des Volksliedes so gut wie in den stolzesten Prachtbauten der hohen Kunst. Was er wesentlich fand, das machte er sich zu eigen, und that dies mit einer Gründ¬ lichkeit, Innerlichkeit, die über die kleinliche Koketterie des Eklektikers hoch er¬ haben ist. Durch seine energischen und weitangelegten Studien gewann Brahms eine Freiheit und eine Vielseitigkeit der Kompositionstechnik, eine theoretische Basis von einer Breite, die selbst dann die größte Beachtung finden würde, wenn eine weniger bedeutende geistige Potenz hinter ihr stünde. Derjenige Teil des musikalischen Formgebietes, welchem Brahms seinen Stempel am tiefsten eingedrückt hat, ist die Harmonik. Hier hat er neue Mittel geschaffen und alte wieder zu Ehren gebracht, die seit den Zeiten Bachs beiseite gestellt waren. Unser Harmoniewesen drohte in Ärmlichkeit zu fallen, an die Stelle des Charakters trat die Konvenienz, trotz Enharmonik und Chromatik wurden die Schranken immer enger, und nur Tonsetzer von besonderm Genie und besondrer Bildung durchbrachen sie an glücklichen Tagen. Den wenigen Glcich- strebenden und den Übelstand Durchschauenden weit voran, hat Brahms zumeist dazu beigetragen, daß die Harmonie wieder Kraft und Leben gewinnt. Er hat den Begriff der Tonart erweitert, die Cadenz aus dem tötenden Einerlei von Tonica und Dominant befreit und der Modulation eine Menge neuer orga¬ nischer Typen gewonnen, die bis jetzt noch nicht einmal theoretisch gebucht sind. Die Harmonik namentlich giebt den Werken von Brahms ihr eigentümliches Kolorit, aus ihr entspringen die warmen, beweglichen und charaktervoller Farben, welche seine Tongemülde von andern aus weiter Distance unterscheiden. In seinen mittlern Perioden namentlich kehrt Brahms gern zu bestimmten harmo¬ nischen Lieblingswendungen zurück, die inzwischen bereits zum Gemeingut aller geworden sind. Als Melodiker gehört Brahms unter die originellsten und genialsten Er¬ finder. Seine Melodien sind im Bau von der größten Mannichfaltigkeit. Be¬ sonders reich ist er an lang hinströmenden, aus dem Vollen geschöpften Gesängen, zurückhaltend mit Tonfiguren von übergreifend sinnlichem Charakter. Die harmonisch schmucklose, nur auf sich selbst gestellte Weise ist ihm ebenso ge¬ läufig, wie die kunstvoll mit dem Akkordleben verwachsene. Die letztere trägt seine Signatur besonders deutlich, häufig verwebt er in sie kühn und ursprüng¬ lich die selteneren Intervalle. In der Rhythmik ist Brahms außerordentlich reich an Formen und bedient sich der einfachsten und der komplizirtesten mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/334>, abgerufen am 22.06.2024.