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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

Form der Rhapsodie und des Schicksalsliedes sind erst durch Brahms wieder
in die Praxis eingeführt worden.

Auf dem Gebiete der Orchestcrkomposition begegnen wir Brahms
zuerst mit zwei Serenaden in v-aur (ox. 11) und fox. 16). Die erste,
welche unmittelbar am Eingang zur zweiten Periode des Künstlers steht, hat
Mängel, die wir schon berührt haben. Es ist aber ein Werk voll Anmut und
Frische, jugendlicher, holder Schwärmerei, schönen Träumen und naivem Glücks¬
gefühl -- ein wahrer Gruß aus dem goldnen Zeitalter. In der musikalischen
Erfindung sind subtile Züge, das Kolorit ist von eigenster Mischung, von einer
gewissen warmen Reserve und in der Pracht mit einem zarten Schimmer. Zu
den Ahnherrn des Serenadengeschlechtes, in die Zeit, wo diese Nachtmusiken
noch im praktischen Dienste galanter Liebhaber standen, führt das reizende
6-cor-Menuett, der originellste Teil des ganzen Werkes, in seiner Einfachheit
sofort unvergeßlich. Die zweite Serenade verhält sich zur ersten wie die Schwester
zum Bruder: sie ist noch zarter, heimlicher, inniger und tief, zu gelegener Stunde
aber auch noch mehr Wildfang als jene. Eigentümlich ist ihre Jnstrumentation:
die Bratschen treten an die Stelle der Violinen, eine Einrichtung, die wir in
kleinern Partien größerer Werke zuweilen bei verschiednen Komponisten finden
-- bei Brahms selbst im ersten Satz des Requiem --, in einem ganzen, viel¬
fältigen Cyklus wohl aber nicht. In formeller Reife steht die ^.-cor-Serenade
über der in v, an äußerer Wirkung hinter ihr.

Das nächste Orchesterwerk von Brahms, die Variationen über ein Thema
von I. Haydn (ox. 36 a), erschien erst zwanzig Jahre nach der zweiten Orchester¬
serenade. Es ist ein färben- und phantasiereiches Prachtwerk. Das Thema
selbst stammt aus einem Divertimento für Blasinstrumente von I. Haydn,
charakteristisch ist es durch das ungewöhnliche fünftccktige Metrum, durch seine
Mischung von Ernst und Freundlichkeit und namentlich durch seinen eigentüm¬
lich feierlichen Ausklang, der an Glockenton erinnert. An den Schluß knüpft
Brahms mit den Variationen an. Ihre Zahl beträgt acht, das Ganze wird
durch ein brillant und kunstvoll über einen Lasso oftmal-o aufgebautes Finale
abgeschlossen. Den Zusammenhang mit dem Thema hält das durchgehende fünf-
taktige Metrum aufrecht, die Tonart bleibt ebenfalls und wechselt nur nach Moll
über. Im übrigen ist es erstaunlich, welche selbständigen, neuen und charakter¬
voller Bilder Brahms aus den Motiven des Themas gestaltet hat. Die Varia¬
tionen sind von einer Vollkraft der Erfindung, die uns von Brahms selbst
nirgends überboten worden zu sein scheint. Sie haben auch noch ein historisches
Interesse, indem sie das erste selbständige Variationenwerk für Orchester sind.
Eingeflochten findet man die Variationenform in ältern und neuern Symphonien
häufig, aber ganze Variationenwerke kannte man bis dahin nur für Klavier,
ab und zu auch für Kammermusik (Trio von Stozzi, Duo für Klavier und
Flöte von Hofmeister, Streichquartette von Helmesberger und Jansa). Mittler-


Johannes Brahms.

Form der Rhapsodie und des Schicksalsliedes sind erst durch Brahms wieder
in die Praxis eingeführt worden.

Auf dem Gebiete der Orchestcrkomposition begegnen wir Brahms
zuerst mit zwei Serenaden in v-aur (ox. 11) und fox. 16). Die erste,
welche unmittelbar am Eingang zur zweiten Periode des Künstlers steht, hat
Mängel, die wir schon berührt haben. Es ist aber ein Werk voll Anmut und
Frische, jugendlicher, holder Schwärmerei, schönen Träumen und naivem Glücks¬
gefühl — ein wahrer Gruß aus dem goldnen Zeitalter. In der musikalischen
Erfindung sind subtile Züge, das Kolorit ist von eigenster Mischung, von einer
gewissen warmen Reserve und in der Pracht mit einem zarten Schimmer. Zu
den Ahnherrn des Serenadengeschlechtes, in die Zeit, wo diese Nachtmusiken
noch im praktischen Dienste galanter Liebhaber standen, führt das reizende
6-cor-Menuett, der originellste Teil des ganzen Werkes, in seiner Einfachheit
sofort unvergeßlich. Die zweite Serenade verhält sich zur ersten wie die Schwester
zum Bruder: sie ist noch zarter, heimlicher, inniger und tief, zu gelegener Stunde
aber auch noch mehr Wildfang als jene. Eigentümlich ist ihre Jnstrumentation:
die Bratschen treten an die Stelle der Violinen, eine Einrichtung, die wir in
kleinern Partien größerer Werke zuweilen bei verschiednen Komponisten finden
— bei Brahms selbst im ersten Satz des Requiem —, in einem ganzen, viel¬
fältigen Cyklus wohl aber nicht. In formeller Reife steht die ^.-cor-Serenade
über der in v, an äußerer Wirkung hinter ihr.

Das nächste Orchesterwerk von Brahms, die Variationen über ein Thema
von I. Haydn (ox. 36 a), erschien erst zwanzig Jahre nach der zweiten Orchester¬
serenade. Es ist ein färben- und phantasiereiches Prachtwerk. Das Thema
selbst stammt aus einem Divertimento für Blasinstrumente von I. Haydn,
charakteristisch ist es durch das ungewöhnliche fünftccktige Metrum, durch seine
Mischung von Ernst und Freundlichkeit und namentlich durch seinen eigentüm¬
lich feierlichen Ausklang, der an Glockenton erinnert. An den Schluß knüpft
Brahms mit den Variationen an. Ihre Zahl beträgt acht, das Ganze wird
durch ein brillant und kunstvoll über einen Lasso oftmal-o aufgebautes Finale
abgeschlossen. Den Zusammenhang mit dem Thema hält das durchgehende fünf-
taktige Metrum aufrecht, die Tonart bleibt ebenfalls und wechselt nur nach Moll
über. Im übrigen ist es erstaunlich, welche selbständigen, neuen und charakter¬
voller Bilder Brahms aus den Motiven des Themas gestaltet hat. Die Varia¬
tionen sind von einer Vollkraft der Erfindung, die uns von Brahms selbst
nirgends überboten worden zu sein scheint. Sie haben auch noch ein historisches
Interesse, indem sie das erste selbständige Variationenwerk für Orchester sind.
Eingeflochten findet man die Variationenform in ältern und neuern Symphonien
häufig, aber ganze Variationenwerke kannte man bis dahin nur für Klavier,
ab und zu auch für Kammermusik (Trio von Stozzi, Duo für Klavier und
Flöte von Hofmeister, Streichquartette von Helmesberger und Jansa). Mittler-


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[0328] Johannes Brahms. Form der Rhapsodie und des Schicksalsliedes sind erst durch Brahms wieder in die Praxis eingeführt worden. Auf dem Gebiete der Orchestcrkomposition begegnen wir Brahms zuerst mit zwei Serenaden in v-aur (ox. 11) und fox. 16). Die erste, welche unmittelbar am Eingang zur zweiten Periode des Künstlers steht, hat Mängel, die wir schon berührt haben. Es ist aber ein Werk voll Anmut und Frische, jugendlicher, holder Schwärmerei, schönen Träumen und naivem Glücks¬ gefühl — ein wahrer Gruß aus dem goldnen Zeitalter. In der musikalischen Erfindung sind subtile Züge, das Kolorit ist von eigenster Mischung, von einer gewissen warmen Reserve und in der Pracht mit einem zarten Schimmer. Zu den Ahnherrn des Serenadengeschlechtes, in die Zeit, wo diese Nachtmusiken noch im praktischen Dienste galanter Liebhaber standen, führt das reizende 6-cor-Menuett, der originellste Teil des ganzen Werkes, in seiner Einfachheit sofort unvergeßlich. Die zweite Serenade verhält sich zur ersten wie die Schwester zum Bruder: sie ist noch zarter, heimlicher, inniger und tief, zu gelegener Stunde aber auch noch mehr Wildfang als jene. Eigentümlich ist ihre Jnstrumentation: die Bratschen treten an die Stelle der Violinen, eine Einrichtung, die wir in kleinern Partien größerer Werke zuweilen bei verschiednen Komponisten finden — bei Brahms selbst im ersten Satz des Requiem —, in einem ganzen, viel¬ fältigen Cyklus wohl aber nicht. In formeller Reife steht die ^.-cor-Serenade über der in v, an äußerer Wirkung hinter ihr. Das nächste Orchesterwerk von Brahms, die Variationen über ein Thema von I. Haydn (ox. 36 a), erschien erst zwanzig Jahre nach der zweiten Orchester¬ serenade. Es ist ein färben- und phantasiereiches Prachtwerk. Das Thema selbst stammt aus einem Divertimento für Blasinstrumente von I. Haydn, charakteristisch ist es durch das ungewöhnliche fünftccktige Metrum, durch seine Mischung von Ernst und Freundlichkeit und namentlich durch seinen eigentüm¬ lich feierlichen Ausklang, der an Glockenton erinnert. An den Schluß knüpft Brahms mit den Variationen an. Ihre Zahl beträgt acht, das Ganze wird durch ein brillant und kunstvoll über einen Lasso oftmal-o aufgebautes Finale abgeschlossen. Den Zusammenhang mit dem Thema hält das durchgehende fünf- taktige Metrum aufrecht, die Tonart bleibt ebenfalls und wechselt nur nach Moll über. Im übrigen ist es erstaunlich, welche selbständigen, neuen und charakter¬ voller Bilder Brahms aus den Motiven des Themas gestaltet hat. Die Varia¬ tionen sind von einer Vollkraft der Erfindung, die uns von Brahms selbst nirgends überboten worden zu sein scheint. Sie haben auch noch ein historisches Interesse, indem sie das erste selbständige Variationenwerk für Orchester sind. Eingeflochten findet man die Variationenform in ältern und neuern Symphonien häufig, aber ganze Variationenwerke kannte man bis dahin nur für Klavier, ab und zu auch für Kammermusik (Trio von Stozzi, Duo für Klavier und Flöte von Hofmeister, Streichquartette von Helmesberger und Jansa). Mittler-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/328>, abgerufen am 22.06.2024.