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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

weile hat Brechens mit seinem Vorgange schon Nachfolger gesunden. Es sind
uns Orchestcrvariationen bekannt, von Nudorsf, Knorr, H. von Dahl und
N. Heuberger. Die Variationen für Orchester sind auch in einer Bearbeitung
für zwei Klaviere veröffentlicht, und da diese einige abweichende Lesarten hat,
führt sie eine besondre Opusnummer (56 v).

Die Orchestervariationen hatten das Verlangen nach einer Symphonie
aus der Feder von Brahms von frischem rege gemacht. Endlich im Jahre
1876 erschien die erste (Oinoll, ox. 68). Sagen wir es gleich voraus, daß
wir diese Symphonie sür die bedeutendste Jnstrumentalkomposition des Künstlers
halten und im allgemeinen in ihr die gewaltigste symphonische Schöpfung sehen,
die nach Beethovens neunter Symphonie geschrieben morden ist. In diesem
Sinne ist das Werk nicht ganz unpassend die zehnte Symphonie genannt worden.
Es ist diese L!-inoII-Symphonie allerdings ein Kunstwerk, vor welchem man den
Maßstab der bloßen Gefälligkeit zu Hause lassen muß, eines jener Werke, das
dem großen Publikum erst in der nächsten Generation vertraut sein wird. Es
herrscht darin ein ernster, großer Geist, den man mit einer Mischung von Schreck
und Furcht bewundert, eine herbe Energie und Leidenschaftlichkeit, die öfter
erschüttert als erfreut. Namentlich der erste Satz ist durch und durch dämonisch,
er beruhigt sich, aber er hellt sich nicht auf, und wo er friedlich wird, ist es
die Stille des Kirchhofs. Das chromatische Motiv, mit welchem die gewaltige
Einleitung einsetzt, ist das Gespenst im Hanse, das in allen Ecken lauert und
mit dem Aufgebot von Riesenkräften nicht verscheucht werden kann. Es geht
auch noch durch das Adagio, und in dem dritten Satze taucht seine Gestalt
einigemal in der Ferne, am Ende aber in beängstigender Nähe und Deutlich¬
keit auf. Erst im letzten Satze wird der Druck gelöst; gerade in dem Moment,
da die Spannung aufs neue kritisch zu werden droht, findet das Horn das
erlösende Wort, und der ganze Chor stürzt sich nun in eine zuweilen gewaltsame
Fröhlichkeit. So in der Stimmung und dichterischen Anlage ein Werk aller¬
ersten Ranges, ist es diese Symphonie auch in der musikalischen Ausführung.
Mit so fester Hand und so einheitlich im Stoff sind wenige Werke geschrieben.
Es ist noch zu wenig beachtet worden, wie dieser erste Satz eigentlich ganz und
gar auf jenes in seiner ästhetischen Bedeutung schon berührte chromatische
Motiv aufgebaut ist. Auf ihm ruht das ringende und sich aufbäumende
Hauptthema, und das zweite Thema, das so rührend von der Oboe eingeführt
wird, ist nur ein Abkömmling von ihm. Es ist hier nicht der Ort zu einer
Analyse, wir müssen es uns deshalb versagen, auf die originellen und be¬
deutenden Einzelheiten dieser Symphonie einzugehen. In bezug auf die Jnstrumen¬
tation wollen wir auf die Verwendung von Horn und Bratsche im ersten, von
Oboe und Klarinette im zweiten, der Posaunen im Schlußsätze hinweisen. Ihnen liegt
ein Klanggenie von Gluckscher Ursprünglichkeit zu gründe. Auf die Einwände,
die gegen das Werk gemacht worden sind, können wir leider ebenfalls nicht ein-


Grenzboten III. 1884. 41
Johannes Brahms.

weile hat Brechens mit seinem Vorgange schon Nachfolger gesunden. Es sind
uns Orchestcrvariationen bekannt, von Nudorsf, Knorr, H. von Dahl und
N. Heuberger. Die Variationen für Orchester sind auch in einer Bearbeitung
für zwei Klaviere veröffentlicht, und da diese einige abweichende Lesarten hat,
führt sie eine besondre Opusnummer (56 v).

Die Orchestervariationen hatten das Verlangen nach einer Symphonie
aus der Feder von Brahms von frischem rege gemacht. Endlich im Jahre
1876 erschien die erste (Oinoll, ox. 68). Sagen wir es gleich voraus, daß
wir diese Symphonie sür die bedeutendste Jnstrumentalkomposition des Künstlers
halten und im allgemeinen in ihr die gewaltigste symphonische Schöpfung sehen,
die nach Beethovens neunter Symphonie geschrieben morden ist. In diesem
Sinne ist das Werk nicht ganz unpassend die zehnte Symphonie genannt worden.
Es ist diese L!-inoII-Symphonie allerdings ein Kunstwerk, vor welchem man den
Maßstab der bloßen Gefälligkeit zu Hause lassen muß, eines jener Werke, das
dem großen Publikum erst in der nächsten Generation vertraut sein wird. Es
herrscht darin ein ernster, großer Geist, den man mit einer Mischung von Schreck
und Furcht bewundert, eine herbe Energie und Leidenschaftlichkeit, die öfter
erschüttert als erfreut. Namentlich der erste Satz ist durch und durch dämonisch,
er beruhigt sich, aber er hellt sich nicht auf, und wo er friedlich wird, ist es
die Stille des Kirchhofs. Das chromatische Motiv, mit welchem die gewaltige
Einleitung einsetzt, ist das Gespenst im Hanse, das in allen Ecken lauert und
mit dem Aufgebot von Riesenkräften nicht verscheucht werden kann. Es geht
auch noch durch das Adagio, und in dem dritten Satze taucht seine Gestalt
einigemal in der Ferne, am Ende aber in beängstigender Nähe und Deutlich¬
keit auf. Erst im letzten Satze wird der Druck gelöst; gerade in dem Moment,
da die Spannung aufs neue kritisch zu werden droht, findet das Horn das
erlösende Wort, und der ganze Chor stürzt sich nun in eine zuweilen gewaltsame
Fröhlichkeit. So in der Stimmung und dichterischen Anlage ein Werk aller¬
ersten Ranges, ist es diese Symphonie auch in der musikalischen Ausführung.
Mit so fester Hand und so einheitlich im Stoff sind wenige Werke geschrieben.
Es ist noch zu wenig beachtet worden, wie dieser erste Satz eigentlich ganz und
gar auf jenes in seiner ästhetischen Bedeutung schon berührte chromatische
Motiv aufgebaut ist. Auf ihm ruht das ringende und sich aufbäumende
Hauptthema, und das zweite Thema, das so rührend von der Oboe eingeführt
wird, ist nur ein Abkömmling von ihm. Es ist hier nicht der Ort zu einer
Analyse, wir müssen es uns deshalb versagen, auf die originellen und be¬
deutenden Einzelheiten dieser Symphonie einzugehen. In bezug auf die Jnstrumen¬
tation wollen wir auf die Verwendung von Horn und Bratsche im ersten, von
Oboe und Klarinette im zweiten, der Posaunen im Schlußsätze hinweisen. Ihnen liegt
ein Klanggenie von Gluckscher Ursprünglichkeit zu gründe. Auf die Einwände,
die gegen das Werk gemacht worden sind, können wir leider ebenfalls nicht ein-


Grenzboten III. 1884. 41
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[0329] Johannes Brahms. weile hat Brechens mit seinem Vorgange schon Nachfolger gesunden. Es sind uns Orchestcrvariationen bekannt, von Nudorsf, Knorr, H. von Dahl und N. Heuberger. Die Variationen für Orchester sind auch in einer Bearbeitung für zwei Klaviere veröffentlicht, und da diese einige abweichende Lesarten hat, führt sie eine besondre Opusnummer (56 v). Die Orchestervariationen hatten das Verlangen nach einer Symphonie aus der Feder von Brahms von frischem rege gemacht. Endlich im Jahre 1876 erschien die erste (Oinoll, ox. 68). Sagen wir es gleich voraus, daß wir diese Symphonie sür die bedeutendste Jnstrumentalkomposition des Künstlers halten und im allgemeinen in ihr die gewaltigste symphonische Schöpfung sehen, die nach Beethovens neunter Symphonie geschrieben morden ist. In diesem Sinne ist das Werk nicht ganz unpassend die zehnte Symphonie genannt worden. Es ist diese L!-inoII-Symphonie allerdings ein Kunstwerk, vor welchem man den Maßstab der bloßen Gefälligkeit zu Hause lassen muß, eines jener Werke, das dem großen Publikum erst in der nächsten Generation vertraut sein wird. Es herrscht darin ein ernster, großer Geist, den man mit einer Mischung von Schreck und Furcht bewundert, eine herbe Energie und Leidenschaftlichkeit, die öfter erschüttert als erfreut. Namentlich der erste Satz ist durch und durch dämonisch, er beruhigt sich, aber er hellt sich nicht auf, und wo er friedlich wird, ist es die Stille des Kirchhofs. Das chromatische Motiv, mit welchem die gewaltige Einleitung einsetzt, ist das Gespenst im Hanse, das in allen Ecken lauert und mit dem Aufgebot von Riesenkräften nicht verscheucht werden kann. Es geht auch noch durch das Adagio, und in dem dritten Satze taucht seine Gestalt einigemal in der Ferne, am Ende aber in beängstigender Nähe und Deutlich¬ keit auf. Erst im letzten Satze wird der Druck gelöst; gerade in dem Moment, da die Spannung aufs neue kritisch zu werden droht, findet das Horn das erlösende Wort, und der ganze Chor stürzt sich nun in eine zuweilen gewaltsame Fröhlichkeit. So in der Stimmung und dichterischen Anlage ein Werk aller¬ ersten Ranges, ist es diese Symphonie auch in der musikalischen Ausführung. Mit so fester Hand und so einheitlich im Stoff sind wenige Werke geschrieben. Es ist noch zu wenig beachtet worden, wie dieser erste Satz eigentlich ganz und gar auf jenes in seiner ästhetischen Bedeutung schon berührte chromatische Motiv aufgebaut ist. Auf ihm ruht das ringende und sich aufbäumende Hauptthema, und das zweite Thema, das so rührend von der Oboe eingeführt wird, ist nur ein Abkömmling von ihm. Es ist hier nicht der Ort zu einer Analyse, wir müssen es uns deshalb versagen, auf die originellen und be¬ deutenden Einzelheiten dieser Symphonie einzugehen. In bezug auf die Jnstrumen¬ tation wollen wir auf die Verwendung von Horn und Bratsche im ersten, von Oboe und Klarinette im zweiten, der Posaunen im Schlußsätze hinweisen. Ihnen liegt ein Klanggenie von Gluckscher Ursprünglichkeit zu gründe. Auf die Einwände, die gegen das Werk gemacht worden sind, können wir leider ebenfalls nicht ein- Grenzboten III. 1884. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/329>, abgerufen am 22.06.2024.