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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

enthält, die man für alte Originale ausgeben könnte, so wunderschön ist in der
Nummer 1 der Volkston des Mittelalters getroffen, so frisch und natürlich spricht
aus der zweiten die liebenswürdige zierliche Verbindlichkeit der alten Zeit.
Unter die eigentümlichen Stücke des g. ekPMlA-Gesanges gehört auch die sechste
Nummer dieses Heftes, auf dessen geheimnisvoll schwermütige Melodien die
langen Baßnoten wie eine unheimliche Last drücken.

Der Kategorie von Chorkompositionen im alten Stile haben wir noch eine
kleine ohne Opuszahl veröffentlichte Arbeit anzuschließen, welche den Titel führt:
"Deutsche Volkslieder für gemischten Chor." Die Melodien zu diesen Chor¬
liedern sind alte Volksweisen, deren Originalgestalt man in dem inzwischen er¬
schienenen Quellenwerk von F. M. Böhme nachsehen kann. Brahms hat sie
rhythmisirt und harmonisirt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich mit be¬
merken, daß Brahms seine Liebe und sein Verständnis für alte Kunst auch bei
audern Gelegenheiten bewiesen hat. Er verfolgt die Bestrebungen, welche in
der neuern Zeit nach dieser Richtung hervorgetreten sind, mit reger Teilnahme:
die Herausgabe der "Denkmäler der Tonkunst" hat er praktisch mit unterstützt,
indem er die Werke Couperins redigirte. Seine Beteiligung an der Gesamt¬
ausgabe von Mozarts Werken ist bekannt.

Von den kleinern Chorwerken haben wir endlich noch ein sehr wichtiges
zu erwähnen: es ist ox. 41, welches fünf Lieder für vierstimmigen
Männerchor enthält. Das erste derselben ist die vierstimmige Bearbeitung
eines altdeutschen Jägerliedes: "Ich schwing mein Horn ins Jammerthal,"
desselben, welches in or>. 43 als Sologesang aufgenommen ist. Die andern
vier behandeln Motive aus dem Soldatenleben: "Freiwillige her," "Geleit"
und "Gebt Acht" ernste, "Marschiren" ein humoristisches. Alle durchzieht eine
männliche Kraft, wie sie in den Kompositionen dieses Genres natürlich und
leider doch selten ist. Das bekannteste derselben: "Freiwillige her" halten wir
nicht für das beste. Ein Original erste" Ranges ist das Lied "Marjchiren":
"Jetzt hab' ich schon zwei Jahre lang" mit seinem ungestümen Humor. Ein
äußerst sinniges Zitat enthält das "Geleit": an der Stelle "senkt man den Sarg
hinab" klingt Mendelssohns "Es ist bestimmt in Gottes Rat" mit seinem bei
allem Volk bekannten Schlußmotiv "Auf Wiedersehn" an.

Öfters hört man die Frage: "Warum schreibt Brahms kein Oratorium?"
Es ist möglich, daß er das noch thut; vorderhand möchten wir mit einer
andern Frage antworten: "Warum schreibt er auch in den großen Chorwerke"
nur selten regelrechte Fugen?" Die Abneigung des Künstlers gegen Schablonen-
tum und ausgetretene Geleise ist auf dem Gebiete der Chorkompvfitiou besonders
ersichtlich; ein freies, selbständiges und originelles Künstlertum leitet ihn bei
der Wahl wie bei der Ausführung der Arbeiten und bestimmt die ganze ünßere
Form und den innern Stil. Ihm verdankt letzterer seine große Mannichfaltig-
keit, das Gebiet der Formen vollständige Neuschöpfungen. Chorstücke von der


Johannes Brahms.

enthält, die man für alte Originale ausgeben könnte, so wunderschön ist in der
Nummer 1 der Volkston des Mittelalters getroffen, so frisch und natürlich spricht
aus der zweiten die liebenswürdige zierliche Verbindlichkeit der alten Zeit.
Unter die eigentümlichen Stücke des g. ekPMlA-Gesanges gehört auch die sechste
Nummer dieses Heftes, auf dessen geheimnisvoll schwermütige Melodien die
langen Baßnoten wie eine unheimliche Last drücken.

Der Kategorie von Chorkompositionen im alten Stile haben wir noch eine
kleine ohne Opuszahl veröffentlichte Arbeit anzuschließen, welche den Titel führt:
„Deutsche Volkslieder für gemischten Chor." Die Melodien zu diesen Chor¬
liedern sind alte Volksweisen, deren Originalgestalt man in dem inzwischen er¬
schienenen Quellenwerk von F. M. Böhme nachsehen kann. Brahms hat sie
rhythmisirt und harmonisirt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich mit be¬
merken, daß Brahms seine Liebe und sein Verständnis für alte Kunst auch bei
audern Gelegenheiten bewiesen hat. Er verfolgt die Bestrebungen, welche in
der neuern Zeit nach dieser Richtung hervorgetreten sind, mit reger Teilnahme:
die Herausgabe der „Denkmäler der Tonkunst" hat er praktisch mit unterstützt,
indem er die Werke Couperins redigirte. Seine Beteiligung an der Gesamt¬
ausgabe von Mozarts Werken ist bekannt.

Von den kleinern Chorwerken haben wir endlich noch ein sehr wichtiges
zu erwähnen: es ist ox. 41, welches fünf Lieder für vierstimmigen
Männerchor enthält. Das erste derselben ist die vierstimmige Bearbeitung
eines altdeutschen Jägerliedes: „Ich schwing mein Horn ins Jammerthal,"
desselben, welches in or>. 43 als Sologesang aufgenommen ist. Die andern
vier behandeln Motive aus dem Soldatenleben: „Freiwillige her," „Geleit"
und „Gebt Acht" ernste, „Marschiren" ein humoristisches. Alle durchzieht eine
männliche Kraft, wie sie in den Kompositionen dieses Genres natürlich und
leider doch selten ist. Das bekannteste derselben: „Freiwillige her" halten wir
nicht für das beste. Ein Original erste» Ranges ist das Lied „Marjchiren":
„Jetzt hab' ich schon zwei Jahre lang" mit seinem ungestümen Humor. Ein
äußerst sinniges Zitat enthält das „Geleit": an der Stelle „senkt man den Sarg
hinab" klingt Mendelssohns „Es ist bestimmt in Gottes Rat" mit seinem bei
allem Volk bekannten Schlußmotiv „Auf Wiedersehn" an.

Öfters hört man die Frage: „Warum schreibt Brahms kein Oratorium?"
Es ist möglich, daß er das noch thut; vorderhand möchten wir mit einer
andern Frage antworten: „Warum schreibt er auch in den großen Chorwerke»
nur selten regelrechte Fugen?" Die Abneigung des Künstlers gegen Schablonen-
tum und ausgetretene Geleise ist auf dem Gebiete der Chorkompvfitiou besonders
ersichtlich; ein freies, selbständiges und originelles Künstlertum leitet ihn bei
der Wahl wie bei der Ausführung der Arbeiten und bestimmt die ganze ünßere
Form und den innern Stil. Ihm verdankt letzterer seine große Mannichfaltig-
keit, das Gebiet der Formen vollständige Neuschöpfungen. Chorstücke von der


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[0327] Johannes Brahms. enthält, die man für alte Originale ausgeben könnte, so wunderschön ist in der Nummer 1 der Volkston des Mittelalters getroffen, so frisch und natürlich spricht aus der zweiten die liebenswürdige zierliche Verbindlichkeit der alten Zeit. Unter die eigentümlichen Stücke des g. ekPMlA-Gesanges gehört auch die sechste Nummer dieses Heftes, auf dessen geheimnisvoll schwermütige Melodien die langen Baßnoten wie eine unheimliche Last drücken. Der Kategorie von Chorkompositionen im alten Stile haben wir noch eine kleine ohne Opuszahl veröffentlichte Arbeit anzuschließen, welche den Titel führt: „Deutsche Volkslieder für gemischten Chor." Die Melodien zu diesen Chor¬ liedern sind alte Volksweisen, deren Originalgestalt man in dem inzwischen er¬ schienenen Quellenwerk von F. M. Böhme nachsehen kann. Brahms hat sie rhythmisirt und harmonisirt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich mit be¬ merken, daß Brahms seine Liebe und sein Verständnis für alte Kunst auch bei audern Gelegenheiten bewiesen hat. Er verfolgt die Bestrebungen, welche in der neuern Zeit nach dieser Richtung hervorgetreten sind, mit reger Teilnahme: die Herausgabe der „Denkmäler der Tonkunst" hat er praktisch mit unterstützt, indem er die Werke Couperins redigirte. Seine Beteiligung an der Gesamt¬ ausgabe von Mozarts Werken ist bekannt. Von den kleinern Chorwerken haben wir endlich noch ein sehr wichtiges zu erwähnen: es ist ox. 41, welches fünf Lieder für vierstimmigen Männerchor enthält. Das erste derselben ist die vierstimmige Bearbeitung eines altdeutschen Jägerliedes: „Ich schwing mein Horn ins Jammerthal," desselben, welches in or>. 43 als Sologesang aufgenommen ist. Die andern vier behandeln Motive aus dem Soldatenleben: „Freiwillige her," „Geleit" und „Gebt Acht" ernste, „Marschiren" ein humoristisches. Alle durchzieht eine männliche Kraft, wie sie in den Kompositionen dieses Genres natürlich und leider doch selten ist. Das bekannteste derselben: „Freiwillige her" halten wir nicht für das beste. Ein Original erste» Ranges ist das Lied „Marjchiren": „Jetzt hab' ich schon zwei Jahre lang" mit seinem ungestümen Humor. Ein äußerst sinniges Zitat enthält das „Geleit": an der Stelle „senkt man den Sarg hinab" klingt Mendelssohns „Es ist bestimmt in Gottes Rat" mit seinem bei allem Volk bekannten Schlußmotiv „Auf Wiedersehn" an. Öfters hört man die Frage: „Warum schreibt Brahms kein Oratorium?" Es ist möglich, daß er das noch thut; vorderhand möchten wir mit einer andern Frage antworten: „Warum schreibt er auch in den großen Chorwerke» nur selten regelrechte Fugen?" Die Abneigung des Künstlers gegen Schablonen- tum und ausgetretene Geleise ist auf dem Gebiete der Chorkompvfitiou besonders ersichtlich; ein freies, selbständiges und originelles Künstlertum leitet ihn bei der Wahl wie bei der Ausführung der Arbeiten und bestimmt die ganze ünßere Form und den innern Stil. Ihm verdankt letzterer seine große Mannichfaltig- keit, das Gebiet der Formen vollständige Neuschöpfungen. Chorstücke von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/327>, abgerufen am 22.06.2024.