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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brechens.

Position und der breite Vokalklang des Schlusses, den die Melodien der Orgel
schwungvoll umrauschen. In den drei geistlichen Chören für Frauenstimmen
ohne Begleitung (ox. 37) ist der Stil der italienischen und niederländischen
g, cÄWöllÄ-Schule, wie ihn etwa Palestrina und Orlando ti Lasso reprcisentiren,
zum Vorbild genommen. Den Kenner erfreut hier die Lösung interessanter
kleiner Probleme der Stimmführung: aus der strengen Form spricht ein leben¬
diger Geist. Besonders beachtenswert ist die dritte der Nummern: L-SAmg. oosli,
eine ungemein kunstvolle Arbeit von sinnlich bedeutender Wirkung. Den Ver¬
such, die Formen der alten Kunst mit dem eignen Gefühl und mit den Mitteln
unsrer Zeit zu durchdringen, hat Brechens auch in den Motettenwerken von
ox. 29, 30 und 74 fortgesetzt. Uns sind nur die beiden Werke des letztgenannten
Opus genauer bekannt: "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen" und
"O Heiland reiß die Himmel auf." Die letztere ist eine Choralmotettc mit
fortlaufendem oanwL üruins, erstaunlich durch die Fülle des Ausdrucks, die
innerhalb der knappen Grenzen erwächst. Die erstere ist freier gehalten, im
ganzen mannichfaltiger und reicher. Besonders eindrucksvoll ist der erste Satz
durch die poetische Behandlung der Frage: Warum?

Auch bei der Komposition der kleinen weltlichen Chorwerke mögen den
Künstler zunächst stilistische Tendenzen geleitet haben. Jedoch haben die kleinen
Arbeiten eine Bedeutung, die sich über das biographische Interesse hinaus er¬
streckt. Das Chorlied war lange Zeit in derselben Gefahr wie das begleitete
Svlolicd: sein Stil drohte in das Einerlei einer sentimentalen und süßlichen
Banalität zu verfallen. Die Erkenntnis dieses Sachverhalts hat vielleicht
Brechens zunächst veranlaßt, sich nach Mustern umzusehen, die in einem andern
Ton anch einen andern Geist trugen. Er suchte und fand diese in der Ver¬
gangenheit unsrer Kunst. So entstanden zuerst die vier Gesänge für Frauen¬
chor mit zwei Hörnern und Harfe (ox. 17), in Form und Stimmung entschieden
eigenartige Tongebilde, präludirenden, mehr andeutenden als abschließenden
Charakters, romantisch im Klang -- im musikalischen Kern von einer gefunden
Süßigkeit -- im ganzen eine Art von Nachklängen aus der Zeit der Minne¬
singer. Die "Marienlieder" für gemischten Chor g. "axxöll" schlagen den Le-
gendenton an, ihre Weise ist eine ausgeprägt altdeutsche, die der Epoche Schröter-
Prätorius-Eccard. Einen modernen Zusatz hat die Nummer "Mariä Kirchgang,"
ein Kabinetstück genialer Tonmalerei, welches bei einigermaßen guter Ausführung
überwältigend wirkt. Auch in den Heften ox. 42 (Drei Gesänge für sechs-
stimmigcn Chor a oaxpLllch und ox. 44 (Zwölf Lieder und Romanzen für
Frauenchor g. og-Mslla, Begleitung des Pianoforte ack libitum) findet man
neue Töne in Menge. Besonders hervorheben möchten wir das Ossicmische
"Darthulas Grabgesang." Seinem Interesse für die Renaissance des Chorliedes
hat Brechens in der dritten Periode nochmals Ausdruck gegeben mit ox. 62,
das unter seinen sieben Liedern (für gemischten Chor s. vAppöllg,) einige Nummern


Johannes Brechens.

Position und der breite Vokalklang des Schlusses, den die Melodien der Orgel
schwungvoll umrauschen. In den drei geistlichen Chören für Frauenstimmen
ohne Begleitung (ox. 37) ist der Stil der italienischen und niederländischen
g, cÄWöllÄ-Schule, wie ihn etwa Palestrina und Orlando ti Lasso reprcisentiren,
zum Vorbild genommen. Den Kenner erfreut hier die Lösung interessanter
kleiner Probleme der Stimmführung: aus der strengen Form spricht ein leben¬
diger Geist. Besonders beachtenswert ist die dritte der Nummern: L-SAmg. oosli,
eine ungemein kunstvolle Arbeit von sinnlich bedeutender Wirkung. Den Ver¬
such, die Formen der alten Kunst mit dem eignen Gefühl und mit den Mitteln
unsrer Zeit zu durchdringen, hat Brechens auch in den Motettenwerken von
ox. 29, 30 und 74 fortgesetzt. Uns sind nur die beiden Werke des letztgenannten
Opus genauer bekannt: „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen" und
„O Heiland reiß die Himmel auf." Die letztere ist eine Choralmotettc mit
fortlaufendem oanwL üruins, erstaunlich durch die Fülle des Ausdrucks, die
innerhalb der knappen Grenzen erwächst. Die erstere ist freier gehalten, im
ganzen mannichfaltiger und reicher. Besonders eindrucksvoll ist der erste Satz
durch die poetische Behandlung der Frage: Warum?

Auch bei der Komposition der kleinen weltlichen Chorwerke mögen den
Künstler zunächst stilistische Tendenzen geleitet haben. Jedoch haben die kleinen
Arbeiten eine Bedeutung, die sich über das biographische Interesse hinaus er¬
streckt. Das Chorlied war lange Zeit in derselben Gefahr wie das begleitete
Svlolicd: sein Stil drohte in das Einerlei einer sentimentalen und süßlichen
Banalität zu verfallen. Die Erkenntnis dieses Sachverhalts hat vielleicht
Brechens zunächst veranlaßt, sich nach Mustern umzusehen, die in einem andern
Ton anch einen andern Geist trugen. Er suchte und fand diese in der Ver¬
gangenheit unsrer Kunst. So entstanden zuerst die vier Gesänge für Frauen¬
chor mit zwei Hörnern und Harfe (ox. 17), in Form und Stimmung entschieden
eigenartige Tongebilde, präludirenden, mehr andeutenden als abschließenden
Charakters, romantisch im Klang — im musikalischen Kern von einer gefunden
Süßigkeit — im ganzen eine Art von Nachklängen aus der Zeit der Minne¬
singer. Die „Marienlieder" für gemischten Chor g. «axxöll» schlagen den Le-
gendenton an, ihre Weise ist eine ausgeprägt altdeutsche, die der Epoche Schröter-
Prätorius-Eccard. Einen modernen Zusatz hat die Nummer „Mariä Kirchgang,"
ein Kabinetstück genialer Tonmalerei, welches bei einigermaßen guter Ausführung
überwältigend wirkt. Auch in den Heften ox. 42 (Drei Gesänge für sechs-
stimmigcn Chor a oaxpLllch und ox. 44 (Zwölf Lieder und Romanzen für
Frauenchor g. og-Mslla, Begleitung des Pianoforte ack libitum) findet man
neue Töne in Menge. Besonders hervorheben möchten wir das Ossicmische
„Darthulas Grabgesang." Seinem Interesse für die Renaissance des Chorliedes
hat Brechens in der dritten Periode nochmals Ausdruck gegeben mit ox. 62,
das unter seinen sieben Liedern (für gemischten Chor s. vAppöllg,) einige Nummern


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[0326] Johannes Brechens. Position und der breite Vokalklang des Schlusses, den die Melodien der Orgel schwungvoll umrauschen. In den drei geistlichen Chören für Frauenstimmen ohne Begleitung (ox. 37) ist der Stil der italienischen und niederländischen g, cÄWöllÄ-Schule, wie ihn etwa Palestrina und Orlando ti Lasso reprcisentiren, zum Vorbild genommen. Den Kenner erfreut hier die Lösung interessanter kleiner Probleme der Stimmführung: aus der strengen Form spricht ein leben¬ diger Geist. Besonders beachtenswert ist die dritte der Nummern: L-SAmg. oosli, eine ungemein kunstvolle Arbeit von sinnlich bedeutender Wirkung. Den Ver¬ such, die Formen der alten Kunst mit dem eignen Gefühl und mit den Mitteln unsrer Zeit zu durchdringen, hat Brechens auch in den Motettenwerken von ox. 29, 30 und 74 fortgesetzt. Uns sind nur die beiden Werke des letztgenannten Opus genauer bekannt: „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen" und „O Heiland reiß die Himmel auf." Die letztere ist eine Choralmotettc mit fortlaufendem oanwL üruins, erstaunlich durch die Fülle des Ausdrucks, die innerhalb der knappen Grenzen erwächst. Die erstere ist freier gehalten, im ganzen mannichfaltiger und reicher. Besonders eindrucksvoll ist der erste Satz durch die poetische Behandlung der Frage: Warum? Auch bei der Komposition der kleinen weltlichen Chorwerke mögen den Künstler zunächst stilistische Tendenzen geleitet haben. Jedoch haben die kleinen Arbeiten eine Bedeutung, die sich über das biographische Interesse hinaus er¬ streckt. Das Chorlied war lange Zeit in derselben Gefahr wie das begleitete Svlolicd: sein Stil drohte in das Einerlei einer sentimentalen und süßlichen Banalität zu verfallen. Die Erkenntnis dieses Sachverhalts hat vielleicht Brechens zunächst veranlaßt, sich nach Mustern umzusehen, die in einem andern Ton anch einen andern Geist trugen. Er suchte und fand diese in der Ver¬ gangenheit unsrer Kunst. So entstanden zuerst die vier Gesänge für Frauen¬ chor mit zwei Hörnern und Harfe (ox. 17), in Form und Stimmung entschieden eigenartige Tongebilde, präludirenden, mehr andeutenden als abschließenden Charakters, romantisch im Klang — im musikalischen Kern von einer gefunden Süßigkeit — im ganzen eine Art von Nachklängen aus der Zeit der Minne¬ singer. Die „Marienlieder" für gemischten Chor g. «axxöll» schlagen den Le- gendenton an, ihre Weise ist eine ausgeprägt altdeutsche, die der Epoche Schröter- Prätorius-Eccard. Einen modernen Zusatz hat die Nummer „Mariä Kirchgang," ein Kabinetstück genialer Tonmalerei, welches bei einigermaßen guter Ausführung überwältigend wirkt. Auch in den Heften ox. 42 (Drei Gesänge für sechs- stimmigcn Chor a oaxpLllch und ox. 44 (Zwölf Lieder und Romanzen für Frauenchor g. og-Mslla, Begleitung des Pianoforte ack libitum) findet man neue Töne in Menge. Besonders hervorheben möchten wir das Ossicmische „Darthulas Grabgesang." Seinem Interesse für die Renaissance des Chorliedes hat Brechens in der dritten Periode nochmals Ausdruck gegeben mit ox. 62, das unter seinen sieben Liedern (für gemischten Chor s. vAppöllg,) einige Nummern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/326>, abgerufen am 22.06.2024.