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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

die auch den Partien des Schmerzes noch eine Dosis von Wohlgefühl bei¬
mischt.

Unter den größern Kompositionen für Chor und Orchester haben wir noch zwei
Werke für Männerstimmen anzuführen, denen beiden Goethische Gedichte zugrunde
liegen. Das erste ist die Kantate Rinaldo (ox, 60). Als dramatische Arbeit
gehört diese Kantate zu den schwächern Leistungen Goethes, namentlich muß
man ihr den Vorwurf machen, daß der kritische Moment des Vorgangs, da
wo die Macht der Zauberin Armide durch das Gebet der Kreuzritter gebrochen
wird, nur vornehm gestreift und garnicht klar hingestellt ist. Brahms hat
sich der Dichtung mit großer Liebe gewidmet -- vielleicht zu sehr als feiner
Musiker. Ein grober Theaterpinsel hätte der Totalwirkung vielleicht bessere
Dienste geleistet. Die Partitur ist aber reich an psychologisch treffenden und
auch an dramatisch warmen und schönen Stellen, namentlich aber an herrlichen
Situationsbildern. Vereinen, die sich an das ganze Werk nicht getrauen, möchten
wir wenigstens den Schlußchor, eine frische und großgehaltene Darstellung der
Meerfahrt, ans Herz legen. Die Rhapsodie ist ein Fragment aus Goethes
"Harzreise." Brahms hat daraus ein eigenartiges und tiefgreifendes Musikstück
gemacht. Den ersten und zweiten Teil mit seinem herben und ängstlichen Cha¬
rakter trägt das Altsolo, der Männerchor tritt in dem wunderbar schön ver¬
söhnenden Schlußgebet ein.

Diesen größern Kompositionen für Chor und Orchester haben wir noch eine
Gruppe kleinerer Chorwerke hinzuzufügen. Der eine Teil von ihnen ist geist¬
lichen, der andre weltlichen Charakters. Das älteste der kleinen geistlichen Chor¬
werke ist das "Ave Maria" (ox. 12) für Frauenchor. Man kann sich diese Kom¬
position wie eine Art von Prozessionsmusik denken. In Gruppen von zweistimmigen
Sopran und zweistimmigen Alt geteilt, ziehen die Stimmen mit einer einfachen,
volksmäßig lieblichen Melodie einher. Der Schluß bringt eine geniale Kombi¬
nation. Der Chor tritt im Unisono zusammen und das Orchester nimmt die
Melodie. Es ist, als wäre der Zug vor dem Gnadenbilde angekommen. Die
Wirkung dieser einfachen Stelle ist ganz gewaltig. Einen ausgesprochenen
Studiencharakter trägt der Begräbnisgesang (ox. 13). Sein Ton ist von seltener
Herbheit, seine Farbe düster: die Melodik altertümlich steif, die Klänge tief, nur
Bläser begleiten, Fagotte und Posaunen mit der dreinklingenden Pauke be¬
stimmen das Kolorit. Der Sopran schweigt lange: der Moment seines ersten
Eintritts ist fast die einzige Stelle, wo in das weltabgewandte Gesicht dieser
Komposition etwas Wärme dringt. Moderner ist die Komposition des 23. Psalms
für dreistimmigen Frauenchor und Orgel (op. 27). In ihrem knappen Anschluß
an den Text und ihrer motivreichen Anlage unterscheidet sie sich aber von den
zur Zeit ihrer Entstehung maßgebenden Mendelssohnschen Vorbildern vollständig,
sie lehnt eher an die Weise des Ben. Marcello oder Städters an. Besonders
wirksam ist die Einführung des eigentlichen Psalmtons in der Mitte der Kom-


Johannes Brahms.

die auch den Partien des Schmerzes noch eine Dosis von Wohlgefühl bei¬
mischt.

Unter den größern Kompositionen für Chor und Orchester haben wir noch zwei
Werke für Männerstimmen anzuführen, denen beiden Goethische Gedichte zugrunde
liegen. Das erste ist die Kantate Rinaldo (ox, 60). Als dramatische Arbeit
gehört diese Kantate zu den schwächern Leistungen Goethes, namentlich muß
man ihr den Vorwurf machen, daß der kritische Moment des Vorgangs, da
wo die Macht der Zauberin Armide durch das Gebet der Kreuzritter gebrochen
wird, nur vornehm gestreift und garnicht klar hingestellt ist. Brahms hat
sich der Dichtung mit großer Liebe gewidmet — vielleicht zu sehr als feiner
Musiker. Ein grober Theaterpinsel hätte der Totalwirkung vielleicht bessere
Dienste geleistet. Die Partitur ist aber reich an psychologisch treffenden und
auch an dramatisch warmen und schönen Stellen, namentlich aber an herrlichen
Situationsbildern. Vereinen, die sich an das ganze Werk nicht getrauen, möchten
wir wenigstens den Schlußchor, eine frische und großgehaltene Darstellung der
Meerfahrt, ans Herz legen. Die Rhapsodie ist ein Fragment aus Goethes
„Harzreise." Brahms hat daraus ein eigenartiges und tiefgreifendes Musikstück
gemacht. Den ersten und zweiten Teil mit seinem herben und ängstlichen Cha¬
rakter trägt das Altsolo, der Männerchor tritt in dem wunderbar schön ver¬
söhnenden Schlußgebet ein.

Diesen größern Kompositionen für Chor und Orchester haben wir noch eine
Gruppe kleinerer Chorwerke hinzuzufügen. Der eine Teil von ihnen ist geist¬
lichen, der andre weltlichen Charakters. Das älteste der kleinen geistlichen Chor¬
werke ist das „Ave Maria" (ox. 12) für Frauenchor. Man kann sich diese Kom¬
position wie eine Art von Prozessionsmusik denken. In Gruppen von zweistimmigen
Sopran und zweistimmigen Alt geteilt, ziehen die Stimmen mit einer einfachen,
volksmäßig lieblichen Melodie einher. Der Schluß bringt eine geniale Kombi¬
nation. Der Chor tritt im Unisono zusammen und das Orchester nimmt die
Melodie. Es ist, als wäre der Zug vor dem Gnadenbilde angekommen. Die
Wirkung dieser einfachen Stelle ist ganz gewaltig. Einen ausgesprochenen
Studiencharakter trägt der Begräbnisgesang (ox. 13). Sein Ton ist von seltener
Herbheit, seine Farbe düster: die Melodik altertümlich steif, die Klänge tief, nur
Bläser begleiten, Fagotte und Posaunen mit der dreinklingenden Pauke be¬
stimmen das Kolorit. Der Sopran schweigt lange: der Moment seines ersten
Eintritts ist fast die einzige Stelle, wo in das weltabgewandte Gesicht dieser
Komposition etwas Wärme dringt. Moderner ist die Komposition des 23. Psalms
für dreistimmigen Frauenchor und Orgel (op. 27). In ihrem knappen Anschluß
an den Text und ihrer motivreichen Anlage unterscheidet sie sich aber von den
zur Zeit ihrer Entstehung maßgebenden Mendelssohnschen Vorbildern vollständig,
sie lehnt eher an die Weise des Ben. Marcello oder Städters an. Besonders
wirksam ist die Einführung des eigentlichen Psalmtons in der Mitte der Kom-


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[0325] Johannes Brahms. die auch den Partien des Schmerzes noch eine Dosis von Wohlgefühl bei¬ mischt. Unter den größern Kompositionen für Chor und Orchester haben wir noch zwei Werke für Männerstimmen anzuführen, denen beiden Goethische Gedichte zugrunde liegen. Das erste ist die Kantate Rinaldo (ox, 60). Als dramatische Arbeit gehört diese Kantate zu den schwächern Leistungen Goethes, namentlich muß man ihr den Vorwurf machen, daß der kritische Moment des Vorgangs, da wo die Macht der Zauberin Armide durch das Gebet der Kreuzritter gebrochen wird, nur vornehm gestreift und garnicht klar hingestellt ist. Brahms hat sich der Dichtung mit großer Liebe gewidmet — vielleicht zu sehr als feiner Musiker. Ein grober Theaterpinsel hätte der Totalwirkung vielleicht bessere Dienste geleistet. Die Partitur ist aber reich an psychologisch treffenden und auch an dramatisch warmen und schönen Stellen, namentlich aber an herrlichen Situationsbildern. Vereinen, die sich an das ganze Werk nicht getrauen, möchten wir wenigstens den Schlußchor, eine frische und großgehaltene Darstellung der Meerfahrt, ans Herz legen. Die Rhapsodie ist ein Fragment aus Goethes „Harzreise." Brahms hat daraus ein eigenartiges und tiefgreifendes Musikstück gemacht. Den ersten und zweiten Teil mit seinem herben und ängstlichen Cha¬ rakter trägt das Altsolo, der Männerchor tritt in dem wunderbar schön ver¬ söhnenden Schlußgebet ein. Diesen größern Kompositionen für Chor und Orchester haben wir noch eine Gruppe kleinerer Chorwerke hinzuzufügen. Der eine Teil von ihnen ist geist¬ lichen, der andre weltlichen Charakters. Das älteste der kleinen geistlichen Chor¬ werke ist das „Ave Maria" (ox. 12) für Frauenchor. Man kann sich diese Kom¬ position wie eine Art von Prozessionsmusik denken. In Gruppen von zweistimmigen Sopran und zweistimmigen Alt geteilt, ziehen die Stimmen mit einer einfachen, volksmäßig lieblichen Melodie einher. Der Schluß bringt eine geniale Kombi¬ nation. Der Chor tritt im Unisono zusammen und das Orchester nimmt die Melodie. Es ist, als wäre der Zug vor dem Gnadenbilde angekommen. Die Wirkung dieser einfachen Stelle ist ganz gewaltig. Einen ausgesprochenen Studiencharakter trägt der Begräbnisgesang (ox. 13). Sein Ton ist von seltener Herbheit, seine Farbe düster: die Melodik altertümlich steif, die Klänge tief, nur Bläser begleiten, Fagotte und Posaunen mit der dreinklingenden Pauke be¬ stimmen das Kolorit. Der Sopran schweigt lange: der Moment seines ersten Eintritts ist fast die einzige Stelle, wo in das weltabgewandte Gesicht dieser Komposition etwas Wärme dringt. Moderner ist die Komposition des 23. Psalms für dreistimmigen Frauenchor und Orgel (op. 27). In ihrem knappen Anschluß an den Text und ihrer motivreichen Anlage unterscheidet sie sich aber von den zur Zeit ihrer Entstehung maßgebenden Mendelssohnschen Vorbildern vollständig, sie lehnt eher an die Weise des Ben. Marcello oder Städters an. Besonders wirksam ist die Einführung des eigentlichen Psalmtons in der Mitte der Kom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/325>, abgerufen am 22.06.2024.