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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

musikalischen Literatur ihres gleichen nicht haben. Es sind die ergreifendsten
Darstellungen seelischer Kämpfe, die man sich denken kann. Jener beginnt mit
der starren Klage über das unerbittliche Schicksal, welches der Menschheit das
Sterben bestimmt, und endet mit Klängen schwärmerischer Verzücktheit, welche
die Wonnen und Freuden der Erlösten schildern; dieser führt vom verzagten
Gebet aus, in welches das Tvdesgrauen schrecklich hineinzuckt, zu einem gleichen
Ende von Pracht und Majestät. Groß und erschütternd ist die Bestimmtheit
und die dramatische Gewalt, mit welcher die Ideen dieser Sätze durchgeführt
werden, ganz unvergleichlich die Fülle von Anschauung und Empfindung, welche
auf die Darstellung der einzelnen Momente gelegt ist. Die Anfänge der beiden
Sätze: dort die altertümliche Melodie, die der Chor über den Trauermarsch
des Orchesters so schlicht im Unisono hinspricht, die alles andre abweisend immer
und immer stärker und fester wiederkehrt, hier der asketisch leere, öde Ton --
diese Anfänge prägen sich beim ersten Hören schon tief in die Seele des Hörers,
und wie die Sätze beginnen, so sind sie durchgeführt. Das Ende des dritten
Satzes bildet eine Fuge über einem Orgelpunkt von vierunddreißig Takten, eine
kontrapunktische Kühnheit, die aber auf einer poetischen Idee ruht und bei
richtiger Ausführung einen großartigen Eindruck nicht verfehlt. Den Höhepunkt
der künstlerischen Leistung im Werke bildet der sechste Satz: "Denn wir haben
hier keine bleibende Statt." Er enthält eine Schilderung der Auferstehung,
die mit visionärer Macht der Plmntasic ausgeführt ist, und verläuft in
Steigerungen, die das Mögliche fast zu überbieten scheinen. Es ist mit diesem
Requiem kein Ende des Studiums und der Bewunderung; es gehört zu jenen
nicht gerade zahlreichen Kunstwerken, die uns immer wieder neu erscheinen und
im ganzen wie im einzelnen umsomehr Schönheiten offenbaren, je tiefer wir
in sie eindringen. Nur auf eins sei noch kurz hingewiesen: auf die Abrundung des
Ganzen. Nachdem zum letztenmale die geisterhaften Posaunenklänge ertönt sind,
die dem siebenten Satze sein Gepräge geben, nähern wir uns wieder dem Anfange;
die Harfe rauscht wieder, und wie ein mathematischer Beweis geht das Werk
mit dem Satze zu Ende, der an seiner Spitze stand. Unter den sieben Teilen
des Requiems ist nur der vierte (nachlomponirte) Satz etwas leichter wiegend,
die übrigen stehen einander ziemlich gleich an menschlichem wie künstlerischem
Gehalt und bilden ein Ganzes, in welchem wir die bedeutendste Chorkomposition
erblicken, die seit Beethovens Riffs. solsmnis geschrieben worden ist. Mehr als
selbst Mendelssohns Oratorien ist das Requiem in die praktische Kirchenmusik
eingedrungen. Namentlich die mittleren, kleineren Sätze vier und fünf habe ich
Sonntags öfters während des Gottesdienstes in kleinern Städten aufführen hören.

Dem Umfange nach steht unter den großen Kompositionen für gemischten
Chor und Orchester dem Requiem das Triumphlied (op. 55) am nächsten.
'Es ist eine Festkomposition im großartigen Stil, dem Kaiser Wilhelm gewidmet
und mit bezug ans die deutschen Siege des Jahres 1870 geschrieben. Der erste


Johannes Brahms.

musikalischen Literatur ihres gleichen nicht haben. Es sind die ergreifendsten
Darstellungen seelischer Kämpfe, die man sich denken kann. Jener beginnt mit
der starren Klage über das unerbittliche Schicksal, welches der Menschheit das
Sterben bestimmt, und endet mit Klängen schwärmerischer Verzücktheit, welche
die Wonnen und Freuden der Erlösten schildern; dieser führt vom verzagten
Gebet aus, in welches das Tvdesgrauen schrecklich hineinzuckt, zu einem gleichen
Ende von Pracht und Majestät. Groß und erschütternd ist die Bestimmtheit
und die dramatische Gewalt, mit welcher die Ideen dieser Sätze durchgeführt
werden, ganz unvergleichlich die Fülle von Anschauung und Empfindung, welche
auf die Darstellung der einzelnen Momente gelegt ist. Die Anfänge der beiden
Sätze: dort die altertümliche Melodie, die der Chor über den Trauermarsch
des Orchesters so schlicht im Unisono hinspricht, die alles andre abweisend immer
und immer stärker und fester wiederkehrt, hier der asketisch leere, öde Ton —
diese Anfänge prägen sich beim ersten Hören schon tief in die Seele des Hörers,
und wie die Sätze beginnen, so sind sie durchgeführt. Das Ende des dritten
Satzes bildet eine Fuge über einem Orgelpunkt von vierunddreißig Takten, eine
kontrapunktische Kühnheit, die aber auf einer poetischen Idee ruht und bei
richtiger Ausführung einen großartigen Eindruck nicht verfehlt. Den Höhepunkt
der künstlerischen Leistung im Werke bildet der sechste Satz: „Denn wir haben
hier keine bleibende Statt." Er enthält eine Schilderung der Auferstehung,
die mit visionärer Macht der Plmntasic ausgeführt ist, und verläuft in
Steigerungen, die das Mögliche fast zu überbieten scheinen. Es ist mit diesem
Requiem kein Ende des Studiums und der Bewunderung; es gehört zu jenen
nicht gerade zahlreichen Kunstwerken, die uns immer wieder neu erscheinen und
im ganzen wie im einzelnen umsomehr Schönheiten offenbaren, je tiefer wir
in sie eindringen. Nur auf eins sei noch kurz hingewiesen: auf die Abrundung des
Ganzen. Nachdem zum letztenmale die geisterhaften Posaunenklänge ertönt sind,
die dem siebenten Satze sein Gepräge geben, nähern wir uns wieder dem Anfange;
die Harfe rauscht wieder, und wie ein mathematischer Beweis geht das Werk
mit dem Satze zu Ende, der an seiner Spitze stand. Unter den sieben Teilen
des Requiems ist nur der vierte (nachlomponirte) Satz etwas leichter wiegend,
die übrigen stehen einander ziemlich gleich an menschlichem wie künstlerischem
Gehalt und bilden ein Ganzes, in welchem wir die bedeutendste Chorkomposition
erblicken, die seit Beethovens Riffs. solsmnis geschrieben worden ist. Mehr als
selbst Mendelssohns Oratorien ist das Requiem in die praktische Kirchenmusik
eingedrungen. Namentlich die mittleren, kleineren Sätze vier und fünf habe ich
Sonntags öfters während des Gottesdienstes in kleinern Städten aufführen hören.

Dem Umfange nach steht unter den großen Kompositionen für gemischten
Chor und Orchester dem Requiem das Triumphlied (op. 55) am nächsten.
'Es ist eine Festkomposition im großartigen Stil, dem Kaiser Wilhelm gewidmet
und mit bezug ans die deutschen Siege des Jahres 1870 geschrieben. Der erste


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[0323] Johannes Brahms. musikalischen Literatur ihres gleichen nicht haben. Es sind die ergreifendsten Darstellungen seelischer Kämpfe, die man sich denken kann. Jener beginnt mit der starren Klage über das unerbittliche Schicksal, welches der Menschheit das Sterben bestimmt, und endet mit Klängen schwärmerischer Verzücktheit, welche die Wonnen und Freuden der Erlösten schildern; dieser führt vom verzagten Gebet aus, in welches das Tvdesgrauen schrecklich hineinzuckt, zu einem gleichen Ende von Pracht und Majestät. Groß und erschütternd ist die Bestimmtheit und die dramatische Gewalt, mit welcher die Ideen dieser Sätze durchgeführt werden, ganz unvergleichlich die Fülle von Anschauung und Empfindung, welche auf die Darstellung der einzelnen Momente gelegt ist. Die Anfänge der beiden Sätze: dort die altertümliche Melodie, die der Chor über den Trauermarsch des Orchesters so schlicht im Unisono hinspricht, die alles andre abweisend immer und immer stärker und fester wiederkehrt, hier der asketisch leere, öde Ton — diese Anfänge prägen sich beim ersten Hören schon tief in die Seele des Hörers, und wie die Sätze beginnen, so sind sie durchgeführt. Das Ende des dritten Satzes bildet eine Fuge über einem Orgelpunkt von vierunddreißig Takten, eine kontrapunktische Kühnheit, die aber auf einer poetischen Idee ruht und bei richtiger Ausführung einen großartigen Eindruck nicht verfehlt. Den Höhepunkt der künstlerischen Leistung im Werke bildet der sechste Satz: „Denn wir haben hier keine bleibende Statt." Er enthält eine Schilderung der Auferstehung, die mit visionärer Macht der Plmntasic ausgeführt ist, und verläuft in Steigerungen, die das Mögliche fast zu überbieten scheinen. Es ist mit diesem Requiem kein Ende des Studiums und der Bewunderung; es gehört zu jenen nicht gerade zahlreichen Kunstwerken, die uns immer wieder neu erscheinen und im ganzen wie im einzelnen umsomehr Schönheiten offenbaren, je tiefer wir in sie eindringen. Nur auf eins sei noch kurz hingewiesen: auf die Abrundung des Ganzen. Nachdem zum letztenmale die geisterhaften Posaunenklänge ertönt sind, die dem siebenten Satze sein Gepräge geben, nähern wir uns wieder dem Anfange; die Harfe rauscht wieder, und wie ein mathematischer Beweis geht das Werk mit dem Satze zu Ende, der an seiner Spitze stand. Unter den sieben Teilen des Requiems ist nur der vierte (nachlomponirte) Satz etwas leichter wiegend, die übrigen stehen einander ziemlich gleich an menschlichem wie künstlerischem Gehalt und bilden ein Ganzes, in welchem wir die bedeutendste Chorkomposition erblicken, die seit Beethovens Riffs. solsmnis geschrieben worden ist. Mehr als selbst Mendelssohns Oratorien ist das Requiem in die praktische Kirchenmusik eingedrungen. Namentlich die mittleren, kleineren Sätze vier und fünf habe ich Sonntags öfters während des Gottesdienstes in kleinern Städten aufführen hören. Dem Umfange nach steht unter den großen Kompositionen für gemischten Chor und Orchester dem Requiem das Triumphlied (op. 55) am nächsten. 'Es ist eine Festkomposition im großartigen Stil, dem Kaiser Wilhelm gewidmet und mit bezug ans die deutschen Siege des Jahres 1870 geschrieben. Der erste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/323>, abgerufen am 22.06.2024.