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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Jetta.

Gläubigkeit an den überlieferten griechischen Olymp in die Qualen des Zweifels
an aller Wahrheit gestürzten Knaben Antinous herrscht wirklich ein poetischer
Zug. Und schon die religiösen Gefühle allein, welche die Tiefen der Menschen¬
brust erregen, bringen ein erhöhtes poetisches Leben in eine Handlung, wo sie
die Hauptrolle spielen. Diese Vorliebe für die Darstellung religiösen Wahnes,
religiösen Fanatismus, religiöser Zustände und Bildungen bilden eine charakteri¬
stische Eigenschaft der Romane Taylors, wobei der Dichter selbst eine von jedem
Dogmatismus freie Haltung einnimmt, und die Wahrheit aller Religion rein
subjektiv in der Kraft des Glaubens und in der Herzensunschuld dessen, der da
glaubt, erkennt. So ist es auch in seiner "Klytici," so auch in der vor kurzem
erschienenen Jetta (Leipzig, S. Hirzel, 1884).

Aber das Glück, welches den Autor bisher begünstigte, scheint ihm in
seiner letzten Schöpfung minder treu geblieben zu sein, und es ist schwer an¬
zunehmen, daß die "Jetta" auch nur einen entfernt ähnlichen Erfolg haben
werde wie der "Antinous" -- trotz der Flut von Besprechungen, welche sie
bei ihrem Erscheinen lobend begrüßte.

Geistvolle Intention wird man auch an diesem neuen Werke Taylors nicht
vermissen; ja es läßt sich der Konzeption des Ganzen eine gewisse Größe, ein
kühner Wurf nicht absprechen. Aber schon im Stoff und dem dadurch be¬
dingten Interesse hält die "Jetta" den Vergleich mit dem "Antinous" nicht
aus. Hier war der Schauplatz das kaiserliche Rom, der Mittelpunkt der
Welt, mit seiner aus allen Ländern zusammenströmenden bauten Menge, das
stille Tibur mit den zauberhaften Hadrianischen Gärten oder schließlich das
mystische Ägypten. Hier bot die Welt das wundersamste Schauspiel des gänz¬
lichen äußern Friedens, aber des innern Kampfes von zahllosen religiösen Sekten
untereinander, des römischen, griechischen, ägyptischen, des immer siegreicher
vordringenden christlichen Kultus, über welchen Schwärmern und Mystagogen
alle die weltmännische Ironie des kaiserlichen Skeptikers schwebte, der nur Eines
festhielt: die antike Liebe und Bewunderung der Schönheit der Welt. Und
Antinous war selbst ein liebliches Mysterium, welches mit tiefem "metaphysischen
Bedürfnisse" die Mysterien aller Kulte zu durchdringen strebt und dabei tragisch
untergeht, und doch so anziehend bleibt, daß man seine Liebhaberstellung zu
dem ganz antik gesinnten Kaiser vergißt. Hier hatte der Dichter Gelegenheit,
abgesehen von dem dialektischen Spiel mit den seltsamsten philosophischen Theo¬
remen, die großartigsten Gemälde einer Tierhetze im Colosseum und der Hadriani¬
schen Gärten zu entwerfen. In welchem Nachteil steht dagegen die "Jetta" schon
dem Stoffe nach! Sie spielt etwa zwei Jahrhunderte später, zur Zeit der
Völkerwanderung. Das allein sagt genug. Da bietet die Geschichte selbst nichts
Fesselndes, da hat dem Autor kein Lucian mehr vorgearbeitet. Verschwunden
ist alle Fülle, aller Reichtum der alten Kultur und Bildung bis auf kümmer¬
liche Reste. Die Barbarei zieht ein. Wohl war das Christentum Staatsreligion


Jetta.

Gläubigkeit an den überlieferten griechischen Olymp in die Qualen des Zweifels
an aller Wahrheit gestürzten Knaben Antinous herrscht wirklich ein poetischer
Zug. Und schon die religiösen Gefühle allein, welche die Tiefen der Menschen¬
brust erregen, bringen ein erhöhtes poetisches Leben in eine Handlung, wo sie
die Hauptrolle spielen. Diese Vorliebe für die Darstellung religiösen Wahnes,
religiösen Fanatismus, religiöser Zustände und Bildungen bilden eine charakteri¬
stische Eigenschaft der Romane Taylors, wobei der Dichter selbst eine von jedem
Dogmatismus freie Haltung einnimmt, und die Wahrheit aller Religion rein
subjektiv in der Kraft des Glaubens und in der Herzensunschuld dessen, der da
glaubt, erkennt. So ist es auch in seiner „Klytici," so auch in der vor kurzem
erschienenen Jetta (Leipzig, S. Hirzel, 1884).

Aber das Glück, welches den Autor bisher begünstigte, scheint ihm in
seiner letzten Schöpfung minder treu geblieben zu sein, und es ist schwer an¬
zunehmen, daß die „Jetta" auch nur einen entfernt ähnlichen Erfolg haben
werde wie der „Antinous" — trotz der Flut von Besprechungen, welche sie
bei ihrem Erscheinen lobend begrüßte.

Geistvolle Intention wird man auch an diesem neuen Werke Taylors nicht
vermissen; ja es läßt sich der Konzeption des Ganzen eine gewisse Größe, ein
kühner Wurf nicht absprechen. Aber schon im Stoff und dem dadurch be¬
dingten Interesse hält die „Jetta" den Vergleich mit dem „Antinous" nicht
aus. Hier war der Schauplatz das kaiserliche Rom, der Mittelpunkt der
Welt, mit seiner aus allen Ländern zusammenströmenden bauten Menge, das
stille Tibur mit den zauberhaften Hadrianischen Gärten oder schließlich das
mystische Ägypten. Hier bot die Welt das wundersamste Schauspiel des gänz¬
lichen äußern Friedens, aber des innern Kampfes von zahllosen religiösen Sekten
untereinander, des römischen, griechischen, ägyptischen, des immer siegreicher
vordringenden christlichen Kultus, über welchen Schwärmern und Mystagogen
alle die weltmännische Ironie des kaiserlichen Skeptikers schwebte, der nur Eines
festhielt: die antike Liebe und Bewunderung der Schönheit der Welt. Und
Antinous war selbst ein liebliches Mysterium, welches mit tiefem „metaphysischen
Bedürfnisse" die Mysterien aller Kulte zu durchdringen strebt und dabei tragisch
untergeht, und doch so anziehend bleibt, daß man seine Liebhaberstellung zu
dem ganz antik gesinnten Kaiser vergißt. Hier hatte der Dichter Gelegenheit,
abgesehen von dem dialektischen Spiel mit den seltsamsten philosophischen Theo¬
remen, die großartigsten Gemälde einer Tierhetze im Colosseum und der Hadriani¬
schen Gärten zu entwerfen. In welchem Nachteil steht dagegen die „Jetta" schon
dem Stoffe nach! Sie spielt etwa zwei Jahrhunderte später, zur Zeit der
Völkerwanderung. Das allein sagt genug. Da bietet die Geschichte selbst nichts
Fesselndes, da hat dem Autor kein Lucian mehr vorgearbeitet. Verschwunden
ist alle Fülle, aller Reichtum der alten Kultur und Bildung bis auf kümmer¬
liche Reste. Die Barbarei zieht ein. Wohl war das Christentum Staatsreligion


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[0294] Jetta. Gläubigkeit an den überlieferten griechischen Olymp in die Qualen des Zweifels an aller Wahrheit gestürzten Knaben Antinous herrscht wirklich ein poetischer Zug. Und schon die religiösen Gefühle allein, welche die Tiefen der Menschen¬ brust erregen, bringen ein erhöhtes poetisches Leben in eine Handlung, wo sie die Hauptrolle spielen. Diese Vorliebe für die Darstellung religiösen Wahnes, religiösen Fanatismus, religiöser Zustände und Bildungen bilden eine charakteri¬ stische Eigenschaft der Romane Taylors, wobei der Dichter selbst eine von jedem Dogmatismus freie Haltung einnimmt, und die Wahrheit aller Religion rein subjektiv in der Kraft des Glaubens und in der Herzensunschuld dessen, der da glaubt, erkennt. So ist es auch in seiner „Klytici," so auch in der vor kurzem erschienenen Jetta (Leipzig, S. Hirzel, 1884). Aber das Glück, welches den Autor bisher begünstigte, scheint ihm in seiner letzten Schöpfung minder treu geblieben zu sein, und es ist schwer an¬ zunehmen, daß die „Jetta" auch nur einen entfernt ähnlichen Erfolg haben werde wie der „Antinous" — trotz der Flut von Besprechungen, welche sie bei ihrem Erscheinen lobend begrüßte. Geistvolle Intention wird man auch an diesem neuen Werke Taylors nicht vermissen; ja es läßt sich der Konzeption des Ganzen eine gewisse Größe, ein kühner Wurf nicht absprechen. Aber schon im Stoff und dem dadurch be¬ dingten Interesse hält die „Jetta" den Vergleich mit dem „Antinous" nicht aus. Hier war der Schauplatz das kaiserliche Rom, der Mittelpunkt der Welt, mit seiner aus allen Ländern zusammenströmenden bauten Menge, das stille Tibur mit den zauberhaften Hadrianischen Gärten oder schließlich das mystische Ägypten. Hier bot die Welt das wundersamste Schauspiel des gänz¬ lichen äußern Friedens, aber des innern Kampfes von zahllosen religiösen Sekten untereinander, des römischen, griechischen, ägyptischen, des immer siegreicher vordringenden christlichen Kultus, über welchen Schwärmern und Mystagogen alle die weltmännische Ironie des kaiserlichen Skeptikers schwebte, der nur Eines festhielt: die antike Liebe und Bewunderung der Schönheit der Welt. Und Antinous war selbst ein liebliches Mysterium, welches mit tiefem „metaphysischen Bedürfnisse" die Mysterien aller Kulte zu durchdringen strebt und dabei tragisch untergeht, und doch so anziehend bleibt, daß man seine Liebhaberstellung zu dem ganz antik gesinnten Kaiser vergißt. Hier hatte der Dichter Gelegenheit, abgesehen von dem dialektischen Spiel mit den seltsamsten philosophischen Theo¬ remen, die großartigsten Gemälde einer Tierhetze im Colosseum und der Hadriani¬ schen Gärten zu entwerfen. In welchem Nachteil steht dagegen die „Jetta" schon dem Stoffe nach! Sie spielt etwa zwei Jahrhunderte später, zur Zeit der Völkerwanderung. Das allein sagt genug. Da bietet die Geschichte selbst nichts Fesselndes, da hat dem Autor kein Lucian mehr vorgearbeitet. Verschwunden ist alle Fülle, aller Reichtum der alten Kultur und Bildung bis auf kümmer¬ liche Reste. Die Barbarei zieht ein. Wohl war das Christentum Staatsreligion

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/294>, abgerufen am 21.06.2024.