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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

verhältnismäßig knapp behandelt. Eine Prachtstelle ist hier der Eintritt der
Repetition: wie das Thema in den untern Oktaven so voll durchglänzt! Unsre
Sympathien neigen aber noch mehr dem zweiten Sextett ((Z-aur, ox. 36) zu. Es
scheint uns dem ersten an Individualität überlegen. Gleich das erste Thema
im ersten Satze, die neapolitanische sexe, noch mehr die zögernde und nach¬
denklich verweilende Entwicklung des Gedankens -- das ist ganz Brahms. In
seinem Phantasiekreise berührt das (?-cor-Sextett sich einigermaßen mit der
zweiten Symphonie. Der Eintritt der Pulsirenden Achtelbewegung nach dem
ruhigen ersten Thema im Hauptsatz ist dort genau so. Das Scherzo läßt sich
verdrießlich an; vergebens lockt im Trio ein flotter Walzer -- es bleibt ver¬
drießlich. Dieses Scherzo ist in seiner absichtlich bald monotonen, bald eigen¬
sinnigen Art wiederholt mißverstanden worden, z. B. von Estere. Nach unsrer
Meinung soll hier ein halb melancholisches Stimmungsbild gegeben werden.
Brahms ist in der Behandlung solcher Vorwürfe Meister, seine Vokalwerke bieten
eine Sammlung vollendeter Schilderungen von Unmut, leichtem Ärger und ähn¬
lichen mürrischen Stimmungen. Ich erinnere als an eine der bekanntesten an
die Nummer: "Nein, es ist nicht auszuhalten mit den Leuten" in den Liebes¬
liederwalzern. Diese Haltung des Scherzo steht im Einklang mit dem Charakter
der andern Sätze, wie ein Blick auf die Hauptthemen derselben leicht erkennen
läßt. Wunderbar schön ist der Schluß des Adagio, wo mit dem Eintritt von
Dur sich ein Ausblick aus dem trüben Sinnen öffnet.

Wir haben uns nun zu den Werken für das Konzert spiel zu wenden. Sie
bestehen aus zwei Klavierkonzerten und einem Violinkonzert. Das erste Klavier¬
konzert (v-moll, ox. 15) gehört, wie wir schon erwähnt haben, der Jugend des
Komponisten an. Er spielte es schon im Jahre 1859 öffentlich. Gleichwohl
ist die Partitur erst fünfzehn Jahre später erschienen, kurz nachdem es Frau
Clara Schumann im Gewandhause wieder aufgenommen hatte. Allmählich ge¬
langt es jetzt auf das Repertoire aller bedeutenden Pianisten. Wenn das Pu¬
blikum und die geringere Kritik Mühe gehabt haben, zu diesem Werk sympathische
Beziehungen zu finden, so ist das sehr bedauerlich, im Grunde aber doch er¬
klärlich; denn es fügt sich dem hergebrachten Begriff eines Konzerts in seinem
Geist und in seiner Form vielfach nicht. Der Hauptsatz namentlich verlangt
etwas von dem Zuhörer. Hier sind nicht weniger als fünf Themen aufgestellt
und in Entwicklung gebracht, und das leitende darunter ist so dämonisch, daß
ein Publikum, welches eine gemütliche Unterhaltung erwartet, davor wohl er¬
schrecken kann. Man kann nachweisen, daß eine so leidenschaftliche und ernste
Sprache wie in dem ersten Satze dieses Werkes noch niemals vorher in einem
Konzert gesprochen worden ist. Wenn diese wilden Oktaventriller beginnen und
das Orchester und Klavier von entgegengesetzten Seiten um diese schweren Noten
ringen, entsteht vor der Phantasie das Bild eines Cyklopcngefechts, welches
an Kühnheit und Energie der Ausführung noch einen Böcklin hinter sich zurück-


Johannes Brahms.

verhältnismäßig knapp behandelt. Eine Prachtstelle ist hier der Eintritt der
Repetition: wie das Thema in den untern Oktaven so voll durchglänzt! Unsre
Sympathien neigen aber noch mehr dem zweiten Sextett ((Z-aur, ox. 36) zu. Es
scheint uns dem ersten an Individualität überlegen. Gleich das erste Thema
im ersten Satze, die neapolitanische sexe, noch mehr die zögernde und nach¬
denklich verweilende Entwicklung des Gedankens — das ist ganz Brahms. In
seinem Phantasiekreise berührt das (?-cor-Sextett sich einigermaßen mit der
zweiten Symphonie. Der Eintritt der Pulsirenden Achtelbewegung nach dem
ruhigen ersten Thema im Hauptsatz ist dort genau so. Das Scherzo läßt sich
verdrießlich an; vergebens lockt im Trio ein flotter Walzer — es bleibt ver¬
drießlich. Dieses Scherzo ist in seiner absichtlich bald monotonen, bald eigen¬
sinnigen Art wiederholt mißverstanden worden, z. B. von Estere. Nach unsrer
Meinung soll hier ein halb melancholisches Stimmungsbild gegeben werden.
Brahms ist in der Behandlung solcher Vorwürfe Meister, seine Vokalwerke bieten
eine Sammlung vollendeter Schilderungen von Unmut, leichtem Ärger und ähn¬
lichen mürrischen Stimmungen. Ich erinnere als an eine der bekanntesten an
die Nummer: „Nein, es ist nicht auszuhalten mit den Leuten" in den Liebes¬
liederwalzern. Diese Haltung des Scherzo steht im Einklang mit dem Charakter
der andern Sätze, wie ein Blick auf die Hauptthemen derselben leicht erkennen
läßt. Wunderbar schön ist der Schluß des Adagio, wo mit dem Eintritt von
Dur sich ein Ausblick aus dem trüben Sinnen öffnet.

Wir haben uns nun zu den Werken für das Konzert spiel zu wenden. Sie
bestehen aus zwei Klavierkonzerten und einem Violinkonzert. Das erste Klavier¬
konzert (v-moll, ox. 15) gehört, wie wir schon erwähnt haben, der Jugend des
Komponisten an. Er spielte es schon im Jahre 1859 öffentlich. Gleichwohl
ist die Partitur erst fünfzehn Jahre später erschienen, kurz nachdem es Frau
Clara Schumann im Gewandhause wieder aufgenommen hatte. Allmählich ge¬
langt es jetzt auf das Repertoire aller bedeutenden Pianisten. Wenn das Pu¬
blikum und die geringere Kritik Mühe gehabt haben, zu diesem Werk sympathische
Beziehungen zu finden, so ist das sehr bedauerlich, im Grunde aber doch er¬
klärlich; denn es fügt sich dem hergebrachten Begriff eines Konzerts in seinem
Geist und in seiner Form vielfach nicht. Der Hauptsatz namentlich verlangt
etwas von dem Zuhörer. Hier sind nicht weniger als fünf Themen aufgestellt
und in Entwicklung gebracht, und das leitende darunter ist so dämonisch, daß
ein Publikum, welches eine gemütliche Unterhaltung erwartet, davor wohl er¬
schrecken kann. Man kann nachweisen, daß eine so leidenschaftliche und ernste
Sprache wie in dem ersten Satze dieses Werkes noch niemals vorher in einem
Konzert gesprochen worden ist. Wenn diese wilden Oktaventriller beginnen und
das Orchester und Klavier von entgegengesetzten Seiten um diese schweren Noten
ringen, entsteht vor der Phantasie das Bild eines Cyklopcngefechts, welches
an Kühnheit und Energie der Ausführung noch einen Böcklin hinter sich zurück-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/290>, abgerufen am 21.06.2024.