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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Laufe.

Sieg der Dogmatiker im Dienste des falschen Scheins über die Empirie, etwa
über die englischen empiristischen Philosophen, darstellen. Der Gegenkaiser ist
die nüchterne Erfahrung, welche von der hohlen, aufgeblasenen Gelehrsamkeit mit
allen Mitteln der Sophisterei, der Trugschlüsse, der falschen Autorität, mit
Lügen und unendlichem Phrasenschwall besiegt und ihres Besitzes beraubt wird.
Die auftretenden rätselhaften Figuren entsprechen diesen Hilfsmitteln. Fausts
Wege gehen nun unter der Leitung des Egoismus immer weiter abwärts.
Nachdem er dem falschen Schein zum Siege über die Erfahrung verholfen hat,
wird er als Fürst mit einem Teil des eroberten Landes belohnt und verbindet
sich mit Herrschsucht und Habsucht. Das Resultat ist die Zerstörung der idyl¬
lischen Wohnung von Philemon und Baucis mit der Kapelle, deren Glocken¬
klang Faust geärgert hat, durch Gewalt und Todschlag. Das bedeutet die Zer¬
störung der Legende und Tradition durch Verstand und Negation, die sich
freilich mit Notwendigkeit aus der Natur der letztern ergiebt. Aber nun be¬
schleicht Faust der Zweifel, Sorge genannt, und macht ihn blind. Im Innern
wird es ihm dagegen hell, und er wendet sich ganz der Freude an der segen¬
bringenden That zu, d. i. dem rastlosen Kampfe gegen das herandringende un¬
fruchtbare Meer, dem er durch die Arbeit seiner Diener ein Gebiet nach dem
andern abringe. Dies Meer ist im Sinne eines Kantischen Gleichnisses der
weite, stürmische Ozean, der eigentliche Sitz alles Blendwerkes und täuschenden
Scheines, der das Jnselland der Wahrheit begrenzt. Der Kampf dagegen ist
im Bilde die Gewinnung neuen Landes, die Austrocknung fauler Sümpfe (der
Dummheit), die Förderung des Wohlstandes für zahlreiche Menschen; im tiefern
Sinne ist es aber der Kampf für die Wahrheit gegen unendlichen Irrtum. Mit
der innern Erhellung und der Freude an der guten That ist endlich die Reihe
der Jrrgänge des Verstandes beschlossen, und er ist reif für die Erhebung zur
Vernunft und Vereinigung mit der ewigen Liebe.

Es folgt die Schlußszene, deren rätselhafte Figuren nach unserm Verfasser
zum größten Teil geradezu Stücke aus der "Kritik der reinen Vernunft" be¬
deuten. Nachdem die Lemuren (die Rezensenten und Kritiker) den Faust ver¬
geblich zu begraben gesucht, sein unsterblicher Teil aber durch Engel dem
Mephisto und dem Höllenrachen (dem ewigen Haß) entrissen ist, ist der
Schauplatz überirdisch geworden. Heilige Anachoreten sehen von oben auf die
Erde herab, sodaß erst der Wald und dann die Felsen ihnen entgegenkommen.
Die Himmelskönigin Maria, die eng-or Aloriosg,, ist die reine Vernunft, welche
durch ihre Gegenwart alles Irdische, Verstand, Gefühl und kindliche Naivetät
verklärt und in höhere Sphären hinaufzieht. ?s-ehr xrokcmcws, die gewöhnliche
Sinnlichkeit oder Ästhetik, sieht alles Irdische als Ausfluß der Liebe Gottes und
empfindet die Sinne als drückende Schranken; xatsr sörgMous, die transcen¬
dentale Ästhetik, sieht die transcendentalen Ideen als selige Knaben in einem
Morgenwölkchen von der Erde heranfschweben; sie sind irdisch geboren, doch


Grenzboten III. 1884. 3ö
Line Übersetzung von Goethes Laufe.

Sieg der Dogmatiker im Dienste des falschen Scheins über die Empirie, etwa
über die englischen empiristischen Philosophen, darstellen. Der Gegenkaiser ist
die nüchterne Erfahrung, welche von der hohlen, aufgeblasenen Gelehrsamkeit mit
allen Mitteln der Sophisterei, der Trugschlüsse, der falschen Autorität, mit
Lügen und unendlichem Phrasenschwall besiegt und ihres Besitzes beraubt wird.
Die auftretenden rätselhaften Figuren entsprechen diesen Hilfsmitteln. Fausts
Wege gehen nun unter der Leitung des Egoismus immer weiter abwärts.
Nachdem er dem falschen Schein zum Siege über die Erfahrung verholfen hat,
wird er als Fürst mit einem Teil des eroberten Landes belohnt und verbindet
sich mit Herrschsucht und Habsucht. Das Resultat ist die Zerstörung der idyl¬
lischen Wohnung von Philemon und Baucis mit der Kapelle, deren Glocken¬
klang Faust geärgert hat, durch Gewalt und Todschlag. Das bedeutet die Zer¬
störung der Legende und Tradition durch Verstand und Negation, die sich
freilich mit Notwendigkeit aus der Natur der letztern ergiebt. Aber nun be¬
schleicht Faust der Zweifel, Sorge genannt, und macht ihn blind. Im Innern
wird es ihm dagegen hell, und er wendet sich ganz der Freude an der segen¬
bringenden That zu, d. i. dem rastlosen Kampfe gegen das herandringende un¬
fruchtbare Meer, dem er durch die Arbeit seiner Diener ein Gebiet nach dem
andern abringe. Dies Meer ist im Sinne eines Kantischen Gleichnisses der
weite, stürmische Ozean, der eigentliche Sitz alles Blendwerkes und täuschenden
Scheines, der das Jnselland der Wahrheit begrenzt. Der Kampf dagegen ist
im Bilde die Gewinnung neuen Landes, die Austrocknung fauler Sümpfe (der
Dummheit), die Förderung des Wohlstandes für zahlreiche Menschen; im tiefern
Sinne ist es aber der Kampf für die Wahrheit gegen unendlichen Irrtum. Mit
der innern Erhellung und der Freude an der guten That ist endlich die Reihe
der Jrrgänge des Verstandes beschlossen, und er ist reif für die Erhebung zur
Vernunft und Vereinigung mit der ewigen Liebe.

Es folgt die Schlußszene, deren rätselhafte Figuren nach unserm Verfasser
zum größten Teil geradezu Stücke aus der „Kritik der reinen Vernunft" be¬
deuten. Nachdem die Lemuren (die Rezensenten und Kritiker) den Faust ver¬
geblich zu begraben gesucht, sein unsterblicher Teil aber durch Engel dem
Mephisto und dem Höllenrachen (dem ewigen Haß) entrissen ist, ist der
Schauplatz überirdisch geworden. Heilige Anachoreten sehen von oben auf die
Erde herab, sodaß erst der Wald und dann die Felsen ihnen entgegenkommen.
Die Himmelskönigin Maria, die eng-or Aloriosg,, ist die reine Vernunft, welche
durch ihre Gegenwart alles Irdische, Verstand, Gefühl und kindliche Naivetät
verklärt und in höhere Sphären hinaufzieht. ?s-ehr xrokcmcws, die gewöhnliche
Sinnlichkeit oder Ästhetik, sieht alles Irdische als Ausfluß der Liebe Gottes und
empfindet die Sinne als drückende Schranken; xatsr sörgMous, die transcen¬
dentale Ästhetik, sieht die transcendentalen Ideen als selige Knaben in einem
Morgenwölkchen von der Erde heranfschweben; sie sind irdisch geboren, doch


Grenzboten III. 1884. 3ö
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/281>, abgerufen am 21.06.2024.