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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Faust.

die aus dem alten Mantel fliegen, sind der Spott über alles, was zum Ge-
lehrtentum gehört. Der Famulus, der zunächst auftritt, ist die bornirte Theo¬
logie, deren Gebäude durch die Negation wankend wird, die aber Mephisto zu
ihrem Lehrer, der Scholastik (Wagner), zu führen verspricht. Dann kommt der
Baccalaureus, der Lorbergekrönte, der sich eben aus der krassen Unwissenheit
des Schülers entwickelt hat und schnell zur äußersten Arroganz der modernen
uachkantischen Philosophie (dem stumpfsinnigen Idealismus) gelangt ist. In
seinen Worten sind Anspielungen auf Fichte'sche Aussprüche. Mephisto prophezeit
ihm in wenig Jahren eine völlige Umänderung. Inzwischen hat die Scholastik
(Wagner) mit unermüdlichem Fleiße gearbeitet, eine neue Wissenschaft zu er¬
zeugen, den Homunkulus, der nichts andres ist als die künstlich hervorgerufene,
in der Glasschale alter Autoritäten eingezwängte Naturwissenschaft, die gern
entstehen möchte, d. h. wahre und freie Naturwissenschaft werden ohne den
Ballast der Scholastik und der Autorität. Unter der Assistenz des Egoismus
(Mephisto) gelingt die Schöpfung, aber sie hat den unbezwinglichen Trieb, durch
Berührung mit dem Geiste des Altertums, der seit der Renaissancezeit überall
befreiend wirkt, erst ganz das zu werden, was sie sein soll. Und da auch
Faust im Altertum die Helena aufsuchen will, so begeben sich beide vom Egois¬
mus geführt in die Gefilde Griechenlands am Peneios und am ägeischen
Meere, wo klassische Walpurgisnacht gefeiert wird. Die überreiche Fülle von
Allegorien, die in diesem Gebiet des holden Wahns auftreten, müssen wir
übergehen; es sei nur erwähnt, daß Homunkulus am Muschelwagen der Ge>-
lathea, d. i. des griechischen Sinnes für Natur und Schönheit, seine Schale
zerschellt, sodaß seine Flamme nunmehr frei von jeder scholastisch beschränkenden
Hülle alles ringsumher erhellt und beleuchtet.

Die Verbindung des Verstandes mit der Illusion, die in der Helena-Episode
ausgeführt ist, erzeugt nicht Lord Byron, wie die Erklärer meinten und Goethe
sich gefallen ließ, sondern den Wunsch, den Euphorion repräsentirt, der immer
höher und höher in die Lüfte zu den Wolken steigt, bis er zerschmettert herunter¬
fällt, worauf die Illusion verschwindet. Die Jrrgänge des Verstandes werden
dann immer bedenklicher. Faust hilft dem Kaiser, dein falschen Schein, eine
Schlacht gewinnen durch offenbaren Betrug. Nach dem Verfasser unsers
Buches ist diese wunderbare Szene der Dispntationsaktus, von dem Goethe am
6. März 1800 an Schiller schreibt: "Ich hoffe, daß bald in der großen Lücke
nur der Disputcitionsaktus fehlen soll, welcher dann freilich als ein eignes
Werk anzusehen ist und aus dem Stegreif nicht entstehen wird." Die Lücke,
von der hier die Rede ist, befand sich freilich im ersten Teil, aber dort ist
niemals ein solcher Akt hineingearbeitet worden, und eben weil die Szene ziem¬
lich selbständig für sich ist, so konnte sie auch im zweiten Teil Platz finden,
besonders da durch die Figur des Kaisers die Verbindung mit den andern
Teilen gut zu vermitteln war. Die Szene soll allegorisch den Kampf und den


Line Übersetzung von Goethes Faust.

die aus dem alten Mantel fliegen, sind der Spott über alles, was zum Ge-
lehrtentum gehört. Der Famulus, der zunächst auftritt, ist die bornirte Theo¬
logie, deren Gebäude durch die Negation wankend wird, die aber Mephisto zu
ihrem Lehrer, der Scholastik (Wagner), zu führen verspricht. Dann kommt der
Baccalaureus, der Lorbergekrönte, der sich eben aus der krassen Unwissenheit
des Schülers entwickelt hat und schnell zur äußersten Arroganz der modernen
uachkantischen Philosophie (dem stumpfsinnigen Idealismus) gelangt ist. In
seinen Worten sind Anspielungen auf Fichte'sche Aussprüche. Mephisto prophezeit
ihm in wenig Jahren eine völlige Umänderung. Inzwischen hat die Scholastik
(Wagner) mit unermüdlichem Fleiße gearbeitet, eine neue Wissenschaft zu er¬
zeugen, den Homunkulus, der nichts andres ist als die künstlich hervorgerufene,
in der Glasschale alter Autoritäten eingezwängte Naturwissenschaft, die gern
entstehen möchte, d. h. wahre und freie Naturwissenschaft werden ohne den
Ballast der Scholastik und der Autorität. Unter der Assistenz des Egoismus
(Mephisto) gelingt die Schöpfung, aber sie hat den unbezwinglichen Trieb, durch
Berührung mit dem Geiste des Altertums, der seit der Renaissancezeit überall
befreiend wirkt, erst ganz das zu werden, was sie sein soll. Und da auch
Faust im Altertum die Helena aufsuchen will, so begeben sich beide vom Egois¬
mus geführt in die Gefilde Griechenlands am Peneios und am ägeischen
Meere, wo klassische Walpurgisnacht gefeiert wird. Die überreiche Fülle von
Allegorien, die in diesem Gebiet des holden Wahns auftreten, müssen wir
übergehen; es sei nur erwähnt, daß Homunkulus am Muschelwagen der Ge>-
lathea, d. i. des griechischen Sinnes für Natur und Schönheit, seine Schale
zerschellt, sodaß seine Flamme nunmehr frei von jeder scholastisch beschränkenden
Hülle alles ringsumher erhellt und beleuchtet.

Die Verbindung des Verstandes mit der Illusion, die in der Helena-Episode
ausgeführt ist, erzeugt nicht Lord Byron, wie die Erklärer meinten und Goethe
sich gefallen ließ, sondern den Wunsch, den Euphorion repräsentirt, der immer
höher und höher in die Lüfte zu den Wolken steigt, bis er zerschmettert herunter¬
fällt, worauf die Illusion verschwindet. Die Jrrgänge des Verstandes werden
dann immer bedenklicher. Faust hilft dem Kaiser, dein falschen Schein, eine
Schlacht gewinnen durch offenbaren Betrug. Nach dem Verfasser unsers
Buches ist diese wunderbare Szene der Dispntationsaktus, von dem Goethe am
6. März 1800 an Schiller schreibt: „Ich hoffe, daß bald in der großen Lücke
nur der Disputcitionsaktus fehlen soll, welcher dann freilich als ein eignes
Werk anzusehen ist und aus dem Stegreif nicht entstehen wird." Die Lücke,
von der hier die Rede ist, befand sich freilich im ersten Teil, aber dort ist
niemals ein solcher Akt hineingearbeitet worden, und eben weil die Szene ziem¬
lich selbständig für sich ist, so konnte sie auch im zweiten Teil Platz finden,
besonders da durch die Figur des Kaisers die Verbindung mit den andern
Teilen gut zu vermitteln war. Die Szene soll allegorisch den Kampf und den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/280>, abgerufen am 21.06.2024.