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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Faust.

ich an mit wachsendem Entzücken), aber die Sonne bleibt im Rücken, und nur
ihr Spiegelbild im Regenbogen, der Abglanz der philosophischen Erkenntnis,
wird in der poetischen Sprache dargestellt werden. "Ihm sinne nach und du
begreifst genauer: Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben."

In dieser Deutung bekommt die Szene, welche sonst garnicht in deu
Zusammenhang des Ganzen hineinpassen wollte, die Bedeutung einer Vorrede
für den zweiten Teil und zugleich einer Erläuterung für den ersten. Sie wird
später von Mephisto im Streit mit den Lemuren (Kritikern des Werkes) der
Nebel genannt, aus dem die Seele des Stückes leicht herausrauscht, d, h. aus
ihr springt der Sinn des Ganzen hervor.

Die Jrrgänge des Verstandes werden nun fortgesetzt. Der Kaiser ist der
falsche Schein, mit dem sich Faust zunächst verbindet. Es entspringt ein
ganzes Fest der Täuschung im Mummenschanz, dessen Figuren alles Allegorien
sind von philosophischen oder literarischen Erscheinungen, die hier aufzulösen zu
weitläufig sein würde.

Dem Schein zuliebe will nun Faust Paris und Helena erscheinen lassen.
Mephisto, die Negation, zeigt ihm den Weg zu den Müttern. Das sind nicht
etwa Spirits in der vierten Dimension des Raumes nach den Phantasien mo¬
dernster Mathematiker, sondern sie sind das Nichts in vierfacher Form nach
den Kategorien Kants: leerer Begriff ohne Gegenstand, leerer Gegenstand eines
Begriffs, leere Anschauung ohne Gegenstand und leerer Gegenstand ohne Begriff.
Da Gott die Welt aus Nichts geschaffen hat, so kann der Dichter ans dein
Nichts auch mythische Gestalten holen. Die Negation giebt ihm den Schlüssel,
das ist stets die Philosophie, welche in der Hand des Verstandes wächst und
leuchtet; im Gebiet des Nichts findet er den glühenden Dreifuß, die Zeit als
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn die eine der Mütter ist die leere
Anschauungsform ohne Gegenstand, d. i. Zeit und Raum ohne Inhalt. So
wird Faust Herr über die Zeit und kann aus dem mythischen Nebel der Ver¬
gangenheit, der von dem Dreifuß aufsteigt, die Gestalten des Altertums lebendig
machen. So erscheinen verschönt durch den Weihrauchsnebel der Vergangenheit
Paris und Helena, ersterer allegorisch die Wirklichkeit, letztere die Illusion dar¬
stellend, die stets von der Wirklichkeit geraubt wird. Alle einzelnen Aussprüche
der Hofgesellschaft dienen zur Erläuterung dieser Begriffe. Wie Faust die
Illusion vor der Wirklichkeit retten will, verschwinden die Geister, er wird ohn¬
mächtig, Mephisto trägt ihn nach Haus und sagt nebenbei: "Wer Helena
Paralysirt. der kommt so leicht nicht zu Verstand," was in diesem Falle genau
so viel heißt als zu sich selbst.

Im zweiten Akt werden zunächst in nur lockerer Verbindung mit dem
Schicksal Fausts einige wissenschaftliche Satiren vorgetragen. Mephisto brüstet
sich noch einmal als Dozent, "wie man fo völlig Recht zu haben meinte. Ge¬
lehrte Wissens zu erlangen, dem Teufel ist es längst vergangen." Die Insekten,


Line Übersetzung von Goethes Faust.

ich an mit wachsendem Entzücken), aber die Sonne bleibt im Rücken, und nur
ihr Spiegelbild im Regenbogen, der Abglanz der philosophischen Erkenntnis,
wird in der poetischen Sprache dargestellt werden. „Ihm sinne nach und du
begreifst genauer: Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben."

In dieser Deutung bekommt die Szene, welche sonst garnicht in deu
Zusammenhang des Ganzen hineinpassen wollte, die Bedeutung einer Vorrede
für den zweiten Teil und zugleich einer Erläuterung für den ersten. Sie wird
später von Mephisto im Streit mit den Lemuren (Kritikern des Werkes) der
Nebel genannt, aus dem die Seele des Stückes leicht herausrauscht, d, h. aus
ihr springt der Sinn des Ganzen hervor.

Die Jrrgänge des Verstandes werden nun fortgesetzt. Der Kaiser ist der
falsche Schein, mit dem sich Faust zunächst verbindet. Es entspringt ein
ganzes Fest der Täuschung im Mummenschanz, dessen Figuren alles Allegorien
sind von philosophischen oder literarischen Erscheinungen, die hier aufzulösen zu
weitläufig sein würde.

Dem Schein zuliebe will nun Faust Paris und Helena erscheinen lassen.
Mephisto, die Negation, zeigt ihm den Weg zu den Müttern. Das sind nicht
etwa Spirits in der vierten Dimension des Raumes nach den Phantasien mo¬
dernster Mathematiker, sondern sie sind das Nichts in vierfacher Form nach
den Kategorien Kants: leerer Begriff ohne Gegenstand, leerer Gegenstand eines
Begriffs, leere Anschauung ohne Gegenstand und leerer Gegenstand ohne Begriff.
Da Gott die Welt aus Nichts geschaffen hat, so kann der Dichter ans dein
Nichts auch mythische Gestalten holen. Die Negation giebt ihm den Schlüssel,
das ist stets die Philosophie, welche in der Hand des Verstandes wächst und
leuchtet; im Gebiet des Nichts findet er den glühenden Dreifuß, die Zeit als
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn die eine der Mütter ist die leere
Anschauungsform ohne Gegenstand, d. i. Zeit und Raum ohne Inhalt. So
wird Faust Herr über die Zeit und kann aus dem mythischen Nebel der Ver¬
gangenheit, der von dem Dreifuß aufsteigt, die Gestalten des Altertums lebendig
machen. So erscheinen verschönt durch den Weihrauchsnebel der Vergangenheit
Paris und Helena, ersterer allegorisch die Wirklichkeit, letztere die Illusion dar¬
stellend, die stets von der Wirklichkeit geraubt wird. Alle einzelnen Aussprüche
der Hofgesellschaft dienen zur Erläuterung dieser Begriffe. Wie Faust die
Illusion vor der Wirklichkeit retten will, verschwinden die Geister, er wird ohn¬
mächtig, Mephisto trägt ihn nach Haus und sagt nebenbei: „Wer Helena
Paralysirt. der kommt so leicht nicht zu Verstand," was in diesem Falle genau
so viel heißt als zu sich selbst.

Im zweiten Akt werden zunächst in nur lockerer Verbindung mit dem
Schicksal Fausts einige wissenschaftliche Satiren vorgetragen. Mephisto brüstet
sich noch einmal als Dozent, „wie man fo völlig Recht zu haben meinte. Ge¬
lehrte Wissens zu erlangen, dem Teufel ist es längst vergangen." Die Insekten,


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[0279] Line Übersetzung von Goethes Faust. ich an mit wachsendem Entzücken), aber die Sonne bleibt im Rücken, und nur ihr Spiegelbild im Regenbogen, der Abglanz der philosophischen Erkenntnis, wird in der poetischen Sprache dargestellt werden. „Ihm sinne nach und du begreifst genauer: Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben." In dieser Deutung bekommt die Szene, welche sonst garnicht in deu Zusammenhang des Ganzen hineinpassen wollte, die Bedeutung einer Vorrede für den zweiten Teil und zugleich einer Erläuterung für den ersten. Sie wird später von Mephisto im Streit mit den Lemuren (Kritikern des Werkes) der Nebel genannt, aus dem die Seele des Stückes leicht herausrauscht, d, h. aus ihr springt der Sinn des Ganzen hervor. Die Jrrgänge des Verstandes werden nun fortgesetzt. Der Kaiser ist der falsche Schein, mit dem sich Faust zunächst verbindet. Es entspringt ein ganzes Fest der Täuschung im Mummenschanz, dessen Figuren alles Allegorien sind von philosophischen oder literarischen Erscheinungen, die hier aufzulösen zu weitläufig sein würde. Dem Schein zuliebe will nun Faust Paris und Helena erscheinen lassen. Mephisto, die Negation, zeigt ihm den Weg zu den Müttern. Das sind nicht etwa Spirits in der vierten Dimension des Raumes nach den Phantasien mo¬ dernster Mathematiker, sondern sie sind das Nichts in vierfacher Form nach den Kategorien Kants: leerer Begriff ohne Gegenstand, leerer Gegenstand eines Begriffs, leere Anschauung ohne Gegenstand und leerer Gegenstand ohne Begriff. Da Gott die Welt aus Nichts geschaffen hat, so kann der Dichter ans dein Nichts auch mythische Gestalten holen. Die Negation giebt ihm den Schlüssel, das ist stets die Philosophie, welche in der Hand des Verstandes wächst und leuchtet; im Gebiet des Nichts findet er den glühenden Dreifuß, die Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn die eine der Mütter ist die leere Anschauungsform ohne Gegenstand, d. i. Zeit und Raum ohne Inhalt. So wird Faust Herr über die Zeit und kann aus dem mythischen Nebel der Ver¬ gangenheit, der von dem Dreifuß aufsteigt, die Gestalten des Altertums lebendig machen. So erscheinen verschönt durch den Weihrauchsnebel der Vergangenheit Paris und Helena, ersterer allegorisch die Wirklichkeit, letztere die Illusion dar¬ stellend, die stets von der Wirklichkeit geraubt wird. Alle einzelnen Aussprüche der Hofgesellschaft dienen zur Erläuterung dieser Begriffe. Wie Faust die Illusion vor der Wirklichkeit retten will, verschwinden die Geister, er wird ohn¬ mächtig, Mephisto trägt ihn nach Haus und sagt nebenbei: „Wer Helena Paralysirt. der kommt so leicht nicht zu Verstand," was in diesem Falle genau so viel heißt als zu sich selbst. Im zweiten Akt werden zunächst in nur lockerer Verbindung mit dem Schicksal Fausts einige wissenschaftliche Satiren vorgetragen. Mephisto brüstet sich noch einmal als Dozent, „wie man fo völlig Recht zu haben meinte. Ge¬ lehrte Wissens zu erlangen, dem Teufel ist es längst vergangen." Die Insekten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/279>, abgerufen am 21.06.2024.