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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Line Übersetzung von Goethes Faust.

von 1790 und der nahe bevorstehenden Vollendung des zweiten Teils 1832.
Eine Zeit lang nach dem Erscheinen des ersten Teils ruhte das Werk (Vers 22
bis 29), sodann entstanden neue Gedankeneinfälle (Sterne) und eine immer
idealere Auffassung des Inhalts (tiefsten Ruhens Glück besiegelnd herrscht
des Mondes volle Pracht); die Arbeit wird fertig, "die Saat wogt der Ernte
zu in Silberwellen," d. i. in idealen Versen. Endlich erscheint der zweite Teil,
die "Schale," d. i. die Verborgenheit, wird abgeworfen, und Faust, der alles
leisten kann, weil er versteht und rasch ergreift, erscheint mit der Zuversicht,
daß auch er verstanden werden wird (Vers 46 bis 53). Ungeheures Getose,
d. h. sehr viel Worte und Kommentare, verkündet das Herannahen der vollen
Erkenntnis, der Sonne. "Tönend wird für Geisterohren der neue Tag ge¬
boren." Felsen, Berge und Gebirge bedeuten stets Werke des Genies, welches
später als Seismos, Erdbeben, auftritt und Berge in die Höhe treibt. Daher
knarren jetzt beim Aufsteigen der Erkenntnis des genialen Werkes im Zu¬
sammenhang Felsenthore rasselnd, und die Elfen, die Bilder, verbergen sich
in Blumenkronen, d. i. in Poesien, in die Felsen, unters Laub, d. i. unter die
großen Hauptgedanken des Werkes, und die leichtern Scherze unter die un¬
bedeutenden (grünen) Blätter, denn wenn das Licht der Erkenntnis sie trifft,
so sind sie taub, d. i. sie siud als poetische Bilder stumpf. Dann erwacht Faust,
der hier als Repräsentant des ganzen Werkes aufzufassen ist, und sagt: Des
Lebens Pulse schlagen frisch lebendig, d. i. die Arbeit ist im zweiten Teil von
neuem aufgenommen; du Erde, d. i. der Plan des Stückes, warst auch diese
Nacht, d. i. in der ganzen Zeit der Pause, beständig; du regst und rührst ein
kräftiges Beschließen, zum höchsten Dasein immer fortzustreben, d. i. der
Beschluß, den Verstand zur reinen Vernunft und zu Gott zu erheben, ist kräftig
gefaßt. Noch liegt Nebel, d. i. Unklarheit und Mißverständnis, aus vielen
Teilen des Gedichtes, aber es erscheint dem Dichter doch durch die neue Be¬
lebung aller Bilder und Allegorien (Farben, Blumen, Blätter und Thautropfen)
wie ein Paradies. Jetzt erscheint aber die Sonue der Erkenntnis; der Berge
Gipfelriesen, d. h. die großen Vorkämpfer für die Erkenntnis, hier vor allem
Kant, dürfen früh des ewigen Lichts genießen, das später sich zu uns hernieder
wendet. Das Flammenübermaß, d. i. die übermäßige Fülle neuer und tiefer
Gedanken in der Kantischen Philosophie, ist so groß, daß er sich abwendet,
vom Augenschmerz durchdrungen. Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
d. h. die Erkenntnis des menschlichen Lebens sollte im "Faust" aufgehellt
werden, da blendet ein neues, viel helleres Licht, eben die "Kritik der reinen
Vernunft" mit ihrer Umgestaltung aller frühern Auffassungen, den Dichter so,
daß er betroffen steht und lange Zeit braucht, sich vollständig zu orientiren.
Dann aber blickt er wieder auf die Erde, den alten Plan, zu bergen sich in
jugendlichstem Schleier. Er entschließt sich, in der alten bilderreichen allegorischen
Sprache fortzufahren (Den Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, ihn schau


Line Übersetzung von Goethes Faust.

von 1790 und der nahe bevorstehenden Vollendung des zweiten Teils 1832.
Eine Zeit lang nach dem Erscheinen des ersten Teils ruhte das Werk (Vers 22
bis 29), sodann entstanden neue Gedankeneinfälle (Sterne) und eine immer
idealere Auffassung des Inhalts (tiefsten Ruhens Glück besiegelnd herrscht
des Mondes volle Pracht); die Arbeit wird fertig, „die Saat wogt der Ernte
zu in Silberwellen," d. i. in idealen Versen. Endlich erscheint der zweite Teil,
die „Schale," d. i. die Verborgenheit, wird abgeworfen, und Faust, der alles
leisten kann, weil er versteht und rasch ergreift, erscheint mit der Zuversicht,
daß auch er verstanden werden wird (Vers 46 bis 53). Ungeheures Getose,
d. h. sehr viel Worte und Kommentare, verkündet das Herannahen der vollen
Erkenntnis, der Sonne. „Tönend wird für Geisterohren der neue Tag ge¬
boren." Felsen, Berge und Gebirge bedeuten stets Werke des Genies, welches
später als Seismos, Erdbeben, auftritt und Berge in die Höhe treibt. Daher
knarren jetzt beim Aufsteigen der Erkenntnis des genialen Werkes im Zu¬
sammenhang Felsenthore rasselnd, und die Elfen, die Bilder, verbergen sich
in Blumenkronen, d. i. in Poesien, in die Felsen, unters Laub, d. i. unter die
großen Hauptgedanken des Werkes, und die leichtern Scherze unter die un¬
bedeutenden (grünen) Blätter, denn wenn das Licht der Erkenntnis sie trifft,
so sind sie taub, d. i. sie siud als poetische Bilder stumpf. Dann erwacht Faust,
der hier als Repräsentant des ganzen Werkes aufzufassen ist, und sagt: Des
Lebens Pulse schlagen frisch lebendig, d. i. die Arbeit ist im zweiten Teil von
neuem aufgenommen; du Erde, d. i. der Plan des Stückes, warst auch diese
Nacht, d. i. in der ganzen Zeit der Pause, beständig; du regst und rührst ein
kräftiges Beschließen, zum höchsten Dasein immer fortzustreben, d. i. der
Beschluß, den Verstand zur reinen Vernunft und zu Gott zu erheben, ist kräftig
gefaßt. Noch liegt Nebel, d. i. Unklarheit und Mißverständnis, aus vielen
Teilen des Gedichtes, aber es erscheint dem Dichter doch durch die neue Be¬
lebung aller Bilder und Allegorien (Farben, Blumen, Blätter und Thautropfen)
wie ein Paradies. Jetzt erscheint aber die Sonue der Erkenntnis; der Berge
Gipfelriesen, d. h. die großen Vorkämpfer für die Erkenntnis, hier vor allem
Kant, dürfen früh des ewigen Lichts genießen, das später sich zu uns hernieder
wendet. Das Flammenübermaß, d. i. die übermäßige Fülle neuer und tiefer
Gedanken in der Kantischen Philosophie, ist so groß, daß er sich abwendet,
vom Augenschmerz durchdrungen. Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
d. h. die Erkenntnis des menschlichen Lebens sollte im „Faust" aufgehellt
werden, da blendet ein neues, viel helleres Licht, eben die „Kritik der reinen
Vernunft" mit ihrer Umgestaltung aller frühern Auffassungen, den Dichter so,
daß er betroffen steht und lange Zeit braucht, sich vollständig zu orientiren.
Dann aber blickt er wieder auf die Erde, den alten Plan, zu bergen sich in
jugendlichstem Schleier. Er entschließt sich, in der alten bilderreichen allegorischen
Sprache fortzufahren (Den Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, ihn schau


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/278>, abgerufen am 21.06.2024.