Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Übersetzung von Goethes Faust.

aus dem Evangelium Johannis, welche Faust anders übersetzt, sodaß sie lautet:
Im Anfang war die That, und die That war bei Gott, und Gott war die
That. Damit ist ihm sein Ziel vorgezeichnet, daß er nicht anders als durch
die That zu Gott kommen kann. Aber nun tritt der Egoismus auf, der nirgends
leichter sich einnistet, als wo Überdruß und Verzweiflung an den edelsten Kräften
den Menschen gepackt hat, und er versucht es nnn, den Verstand seine Straße
sacht zu führen, um ihn zu gründe zu richten und zum Gegenteil der ewigen
Liebe, dem Haß -- repräsentier im offnen Höllenrachen der letzten Szene --
hinzuschleppen. Auf seine Veranlassung versucht er, mit der Jngend sich zu
verbinden in Auerbachs Keller, aber Verstand und Jugend passen nicht für ein¬
ander, der Verstand fühlt sich abgestoßen und versucht darauf, mit dem Alter
sich zu verbinden. Die Hexe ist das Alter, welche den Verstand jünger, d. h.
kindisch macht. Dem lebendigen Faust freilich kommt die Verjüngung zu statten,
wenn er sich in neue Abenteuer stürzt.

Die Verbindung mit Gretchen hat nun keinen andern Sinn, als daß der
Verstand der Naivetät begegnet, die er zwar leidenschaftlich liebt, aber durch
Erfllllnng mit seinem eignen Wesen elend zu gründe richtet und zerstört, woran
der Egoismus seine teuflische Freude hat. Die Mutter der Naivetät ist das
Unbewußte, welches durch drei Tropfen, die der Verstand ihr reichen läßt, stirbt.
Da Wasser immer die Sprache bedeutet, so sind Tropfen die Buchstaben, und
die drei Buchstaben, welche das Unbewußte töten, sind J e h, das Ich, welches
vom Unbewußten aufgenommen ihm ein Ende macht. Der Bruder der
Naivetät ist der gesunde Menschenverstand, Valentin, ein Feind des spekulirenden
Verstandes und von diesem beseitigt und geradezu totgeschlagen, wo er rücksichtslos
seinen Willen durchsetzen will. Die unendlich vielen allegorischen Aussprüche
bis zum Schluß des ersten Teils müssen wir vorläufig übergehen.

Als wir Faust nach allem durchlebten Graus und Wirrsal im Anfang
des zweiten Teils wiederfinden, ist die erste Szene von ganz besondrer alle¬
gorischer Bedeutung. Daß irgendein Erklärer diese Szene, die offenbar eine
Vorrede zum zweiten Teil sein soll, auch nur annähernd zu einem befriedigenden
Verständnis gebracht hätte, kann man nicht sagen. Unser Verfasser löst ihren
Sinn ans mit Hilfe der einmal erratenen allegorischen Sprache.

Nach ihm erscheint der Dichter selbst als Ariel, Elfen bedeuten die alle¬
gorischen Bilder im Werk, Blüten sind Poesien, Erde ist der Plan des Stückes,
Erdgeborne sind die Figuren in demselben. Der Dichter befiehlt den allegorischen
Bildern, des Vorwurfs glühend bittre Pfeile zu entfernen, Fausts Inneres
vom erlebten Graus zu reinigen. Sobald man nämlich alle im ersten Teile
durchlebten Thaten und Leiden allegorisch als Irrungen des speknlirenden
Verstandes auffaßt, so ist der moralische Vorwurf, den man gegen den Helden
erheben könnte, beseitigt. "Vier sind die Pausen nacht'ger Weile," d. h. es sind
etwa vier Jahrzehnte vergangen zwischen dem ersten Erscheinen des Fragmentes


Line Übersetzung von Goethes Faust.

aus dem Evangelium Johannis, welche Faust anders übersetzt, sodaß sie lautet:
Im Anfang war die That, und die That war bei Gott, und Gott war die
That. Damit ist ihm sein Ziel vorgezeichnet, daß er nicht anders als durch
die That zu Gott kommen kann. Aber nun tritt der Egoismus auf, der nirgends
leichter sich einnistet, als wo Überdruß und Verzweiflung an den edelsten Kräften
den Menschen gepackt hat, und er versucht es nnn, den Verstand seine Straße
sacht zu führen, um ihn zu gründe zu richten und zum Gegenteil der ewigen
Liebe, dem Haß — repräsentier im offnen Höllenrachen der letzten Szene —
hinzuschleppen. Auf seine Veranlassung versucht er, mit der Jngend sich zu
verbinden in Auerbachs Keller, aber Verstand und Jugend passen nicht für ein¬
ander, der Verstand fühlt sich abgestoßen und versucht darauf, mit dem Alter
sich zu verbinden. Die Hexe ist das Alter, welche den Verstand jünger, d. h.
kindisch macht. Dem lebendigen Faust freilich kommt die Verjüngung zu statten,
wenn er sich in neue Abenteuer stürzt.

Die Verbindung mit Gretchen hat nun keinen andern Sinn, als daß der
Verstand der Naivetät begegnet, die er zwar leidenschaftlich liebt, aber durch
Erfllllnng mit seinem eignen Wesen elend zu gründe richtet und zerstört, woran
der Egoismus seine teuflische Freude hat. Die Mutter der Naivetät ist das
Unbewußte, welches durch drei Tropfen, die der Verstand ihr reichen läßt, stirbt.
Da Wasser immer die Sprache bedeutet, so sind Tropfen die Buchstaben, und
die drei Buchstaben, welche das Unbewußte töten, sind J e h, das Ich, welches
vom Unbewußten aufgenommen ihm ein Ende macht. Der Bruder der
Naivetät ist der gesunde Menschenverstand, Valentin, ein Feind des spekulirenden
Verstandes und von diesem beseitigt und geradezu totgeschlagen, wo er rücksichtslos
seinen Willen durchsetzen will. Die unendlich vielen allegorischen Aussprüche
bis zum Schluß des ersten Teils müssen wir vorläufig übergehen.

Als wir Faust nach allem durchlebten Graus und Wirrsal im Anfang
des zweiten Teils wiederfinden, ist die erste Szene von ganz besondrer alle¬
gorischer Bedeutung. Daß irgendein Erklärer diese Szene, die offenbar eine
Vorrede zum zweiten Teil sein soll, auch nur annähernd zu einem befriedigenden
Verständnis gebracht hätte, kann man nicht sagen. Unser Verfasser löst ihren
Sinn ans mit Hilfe der einmal erratenen allegorischen Sprache.

Nach ihm erscheint der Dichter selbst als Ariel, Elfen bedeuten die alle¬
gorischen Bilder im Werk, Blüten sind Poesien, Erde ist der Plan des Stückes,
Erdgeborne sind die Figuren in demselben. Der Dichter befiehlt den allegorischen
Bildern, des Vorwurfs glühend bittre Pfeile zu entfernen, Fausts Inneres
vom erlebten Graus zu reinigen. Sobald man nämlich alle im ersten Teile
durchlebten Thaten und Leiden allegorisch als Irrungen des speknlirenden
Verstandes auffaßt, so ist der moralische Vorwurf, den man gegen den Helden
erheben könnte, beseitigt. „Vier sind die Pausen nacht'ger Weile," d. h. es sind
etwa vier Jahrzehnte vergangen zwischen dem ersten Erscheinen des Fragmentes


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156548"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Übersetzung von Goethes Faust.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1217" prev="#ID_1216"> aus dem Evangelium Johannis, welche Faust anders übersetzt, sodaß sie lautet:<lb/>
Im Anfang war die That, und die That war bei Gott, und Gott war die<lb/>
That. Damit ist ihm sein Ziel vorgezeichnet, daß er nicht anders als durch<lb/>
die That zu Gott kommen kann. Aber nun tritt der Egoismus auf, der nirgends<lb/>
leichter sich einnistet, als wo Überdruß und Verzweiflung an den edelsten Kräften<lb/>
den Menschen gepackt hat, und er versucht es nnn, den Verstand seine Straße<lb/>
sacht zu führen, um ihn zu gründe zu richten und zum Gegenteil der ewigen<lb/>
Liebe, dem Haß &#x2014; repräsentier im offnen Höllenrachen der letzten Szene &#x2014;<lb/>
hinzuschleppen. Auf seine Veranlassung versucht er, mit der Jngend sich zu<lb/>
verbinden in Auerbachs Keller, aber Verstand und Jugend passen nicht für ein¬<lb/>
ander, der Verstand fühlt sich abgestoßen und versucht darauf, mit dem Alter<lb/>
sich zu verbinden. Die Hexe ist das Alter, welche den Verstand jünger, d. h.<lb/>
kindisch macht. Dem lebendigen Faust freilich kommt die Verjüngung zu statten,<lb/>
wenn er sich in neue Abenteuer stürzt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1218"> Die Verbindung mit Gretchen hat nun keinen andern Sinn, als daß der<lb/>
Verstand der Naivetät begegnet, die er zwar leidenschaftlich liebt, aber durch<lb/>
Erfllllnng mit seinem eignen Wesen elend zu gründe richtet und zerstört, woran<lb/>
der Egoismus seine teuflische Freude hat. Die Mutter der Naivetät ist das<lb/>
Unbewußte, welches durch drei Tropfen, die der Verstand ihr reichen läßt, stirbt.<lb/>
Da Wasser immer die Sprache bedeutet, so sind Tropfen die Buchstaben, und<lb/>
die drei Buchstaben, welche das Unbewußte töten, sind J e h, das Ich, welches<lb/>
vom Unbewußten aufgenommen ihm ein Ende macht. Der Bruder der<lb/>
Naivetät ist der gesunde Menschenverstand, Valentin, ein Feind des spekulirenden<lb/>
Verstandes und von diesem beseitigt und geradezu totgeschlagen, wo er rücksichtslos<lb/>
seinen Willen durchsetzen will. Die unendlich vielen allegorischen Aussprüche<lb/>
bis zum Schluß des ersten Teils müssen wir vorläufig übergehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1219"> Als wir Faust nach allem durchlebten Graus und Wirrsal im Anfang<lb/>
des zweiten Teils wiederfinden, ist die erste Szene von ganz besondrer alle¬<lb/>
gorischer Bedeutung. Daß irgendein Erklärer diese Szene, die offenbar eine<lb/>
Vorrede zum zweiten Teil sein soll, auch nur annähernd zu einem befriedigenden<lb/>
Verständnis gebracht hätte, kann man nicht sagen. Unser Verfasser löst ihren<lb/>
Sinn ans mit Hilfe der einmal erratenen allegorischen Sprache.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1220" next="#ID_1221"> Nach ihm erscheint der Dichter selbst als Ariel, Elfen bedeuten die alle¬<lb/>
gorischen Bilder im Werk, Blüten sind Poesien, Erde ist der Plan des Stückes,<lb/>
Erdgeborne sind die Figuren in demselben. Der Dichter befiehlt den allegorischen<lb/>
Bildern, des Vorwurfs glühend bittre Pfeile zu entfernen, Fausts Inneres<lb/>
vom erlebten Graus zu reinigen. Sobald man nämlich alle im ersten Teile<lb/>
durchlebten Thaten und Leiden allegorisch als Irrungen des speknlirenden<lb/>
Verstandes auffaßt, so ist der moralische Vorwurf, den man gegen den Helden<lb/>
erheben könnte, beseitigt. &#x201E;Vier sind die Pausen nacht'ger Weile," d. h. es sind<lb/>
etwa vier Jahrzehnte vergangen zwischen dem ersten Erscheinen des Fragmentes</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Line Übersetzung von Goethes Faust. aus dem Evangelium Johannis, welche Faust anders übersetzt, sodaß sie lautet: Im Anfang war die That, und die That war bei Gott, und Gott war die That. Damit ist ihm sein Ziel vorgezeichnet, daß er nicht anders als durch die That zu Gott kommen kann. Aber nun tritt der Egoismus auf, der nirgends leichter sich einnistet, als wo Überdruß und Verzweiflung an den edelsten Kräften den Menschen gepackt hat, und er versucht es nnn, den Verstand seine Straße sacht zu führen, um ihn zu gründe zu richten und zum Gegenteil der ewigen Liebe, dem Haß — repräsentier im offnen Höllenrachen der letzten Szene — hinzuschleppen. Auf seine Veranlassung versucht er, mit der Jngend sich zu verbinden in Auerbachs Keller, aber Verstand und Jugend passen nicht für ein¬ ander, der Verstand fühlt sich abgestoßen und versucht darauf, mit dem Alter sich zu verbinden. Die Hexe ist das Alter, welche den Verstand jünger, d. h. kindisch macht. Dem lebendigen Faust freilich kommt die Verjüngung zu statten, wenn er sich in neue Abenteuer stürzt. Die Verbindung mit Gretchen hat nun keinen andern Sinn, als daß der Verstand der Naivetät begegnet, die er zwar leidenschaftlich liebt, aber durch Erfllllnng mit seinem eignen Wesen elend zu gründe richtet und zerstört, woran der Egoismus seine teuflische Freude hat. Die Mutter der Naivetät ist das Unbewußte, welches durch drei Tropfen, die der Verstand ihr reichen läßt, stirbt. Da Wasser immer die Sprache bedeutet, so sind Tropfen die Buchstaben, und die drei Buchstaben, welche das Unbewußte töten, sind J e h, das Ich, welches vom Unbewußten aufgenommen ihm ein Ende macht. Der Bruder der Naivetät ist der gesunde Menschenverstand, Valentin, ein Feind des spekulirenden Verstandes und von diesem beseitigt und geradezu totgeschlagen, wo er rücksichtslos seinen Willen durchsetzen will. Die unendlich vielen allegorischen Aussprüche bis zum Schluß des ersten Teils müssen wir vorläufig übergehen. Als wir Faust nach allem durchlebten Graus und Wirrsal im Anfang des zweiten Teils wiederfinden, ist die erste Szene von ganz besondrer alle¬ gorischer Bedeutung. Daß irgendein Erklärer diese Szene, die offenbar eine Vorrede zum zweiten Teil sein soll, auch nur annähernd zu einem befriedigenden Verständnis gebracht hätte, kann man nicht sagen. Unser Verfasser löst ihren Sinn ans mit Hilfe der einmal erratenen allegorischen Sprache. Nach ihm erscheint der Dichter selbst als Ariel, Elfen bedeuten die alle¬ gorischen Bilder im Werk, Blüten sind Poesien, Erde ist der Plan des Stückes, Erdgeborne sind die Figuren in demselben. Der Dichter befiehlt den allegorischen Bildern, des Vorwurfs glühend bittre Pfeile zu entfernen, Fausts Inneres vom erlebten Graus zu reinigen. Sobald man nämlich alle im ersten Teile durchlebten Thaten und Leiden allegorisch als Irrungen des speknlirenden Verstandes auffaßt, so ist der moralische Vorwurf, den man gegen den Helden erheben könnte, beseitigt. „Vier sind die Pausen nacht'ger Weile," d. h. es sind etwa vier Jahrzehnte vergangen zwischen dem ersten Erscheinen des Fragmentes

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/277>, abgerufen am 21.06.2024.