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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln des Liberalismus.

Mittelalter der alleinige Träger des Besitzes und der Bildung war, gleichgekommen
und daher auch gleichberechtigt mit ihm betreffs der Bestimmung der öffentlichen
Angelegenheiten. Aber er durfte nicht die Alleinherrschaft im Staate in An¬
spruch nehmen, er durfte nicht versuchen, dem Königtum seinen Charakter als
wahrhafte selbständige Obrigkeit zu nehmen, es der parlamentarischen Mehrheit
und der schwankenden und wechselnden öffentlichen Meinung Unterthan zu machen.
Er mußte neben sich auch den Wert des großen stetigen Grundbesitzes und der
historischen Geschlechter für die Gesellschaft und das denselben entsprechenden
Rechtes auf Einfluß im Staate anerkennen, und daß er das alles unterließ,
ist einer seiner Grundfehler. Dazu kam aber noch ein andrer: er begründete
seinen Anspruch nicht auf seine Qualität, auf Besitz und Bildung, sondern auf
eine Doktrin, auf die Menschenrechte, auf seine Zahl. Damit ordnete er sich
die Aristokratie unter, mußte aber, wenn er konsequent und gerecht sein wollte,
zugeben, daß sich die Volksmasse, die noch zahlreicher war, kraft derselben
Menschenrechte über ihn stellte.

Ähnlich steht es mit dem andern Hauptziele des Liberalismus. Die indivi¬
duelle Freiheit, das Recht der Person ist ein sittliches Pnnzip, ein Grund¬
bedürfnis der Gesellschaft, das in der gesellschaftlichen Ordnung berücksichtigt
sein muß. In den früheren Zuständen war es vielfach getrübt und beeinträchtigt
durch die Ziele, welche die Gemeinwesen in ihrem organischen Zusammenhange
verfolgten. Zu Gunsten des Ansehens und der kräftigen Wirkung der öffent¬
lichen Gewalt wurde die individuelle Sicherheit verletzt, zu Gunsten der stän¬
dischen Gliederung ließ man die individuelle Menschenwürde leiden. Es war
ein Fortschritt, wenn das Recht der Person sowohl in den äußern Zuständen
als in der innern Würdigung zur Geltung gebracht wurde. Der Mensch muß
gesichert sein gegen die Staatsobrigkeit, wo sie ihre Gewalt willkürlich gebraucht.
Er darf uicht so gestellt sein, daß er, bloß weil er mißliebig ist, unter dein Vor-
wande des Rechtes verfolgt und an Leben, Vermögen oder Ehre geschädigt
werden kann, er darf uicht durch die Vvrbeuguugsmaßregeln einer kurzsichtigen
und befangene!, Polizei nutzlos gebildete und in seiner Selbstbestimmung be¬
schränkt werden. Der Unterthan muß selbst gegen die Gesetze des Staates inso¬
weit gesichert sein, daß sie nicht in die Sphäre eingreifen, die einzig und allein
seiner Freiheit gebührt. Er geht uicht vollständig im Staate auf, sondern hat
Beziehungen und Bedürfnisse, die über diesen hinaus reichen, und es liegen in
ihm Kräfte und Gaben, denen ihr Wachstum und ihre Entfaltung nicht durch
die Obrigkeit vorgezeichnet werden kann. Niemand darf ihm einen religiösen
Glauben aufdränge", ihn auf bestimmtem Wege gewaltsam selig machen wollen,
niemand ihm, wenn er Lehrer ist, seine wissenschaftliche, wenn er Publizist ist,
seine politische Überzeugung vorschreiben. Es muß dem gegenüber eine Grenze
geben, wo es für die Staatsgewalt "Bis hierher und nicht weiter" heißt, einen
umfriedigten Raum, deu kein Bote der Staatsgewalt betreten darf, eine geweihte


Die Wurzeln des Liberalismus.

Mittelalter der alleinige Träger des Besitzes und der Bildung war, gleichgekommen
und daher auch gleichberechtigt mit ihm betreffs der Bestimmung der öffentlichen
Angelegenheiten. Aber er durfte nicht die Alleinherrschaft im Staate in An¬
spruch nehmen, er durfte nicht versuchen, dem Königtum seinen Charakter als
wahrhafte selbständige Obrigkeit zu nehmen, es der parlamentarischen Mehrheit
und der schwankenden und wechselnden öffentlichen Meinung Unterthan zu machen.
Er mußte neben sich auch den Wert des großen stetigen Grundbesitzes und der
historischen Geschlechter für die Gesellschaft und das denselben entsprechenden
Rechtes auf Einfluß im Staate anerkennen, und daß er das alles unterließ,
ist einer seiner Grundfehler. Dazu kam aber noch ein andrer: er begründete
seinen Anspruch nicht auf seine Qualität, auf Besitz und Bildung, sondern auf
eine Doktrin, auf die Menschenrechte, auf seine Zahl. Damit ordnete er sich
die Aristokratie unter, mußte aber, wenn er konsequent und gerecht sein wollte,
zugeben, daß sich die Volksmasse, die noch zahlreicher war, kraft derselben
Menschenrechte über ihn stellte.

Ähnlich steht es mit dem andern Hauptziele des Liberalismus. Die indivi¬
duelle Freiheit, das Recht der Person ist ein sittliches Pnnzip, ein Grund¬
bedürfnis der Gesellschaft, das in der gesellschaftlichen Ordnung berücksichtigt
sein muß. In den früheren Zuständen war es vielfach getrübt und beeinträchtigt
durch die Ziele, welche die Gemeinwesen in ihrem organischen Zusammenhange
verfolgten. Zu Gunsten des Ansehens und der kräftigen Wirkung der öffent¬
lichen Gewalt wurde die individuelle Sicherheit verletzt, zu Gunsten der stän¬
dischen Gliederung ließ man die individuelle Menschenwürde leiden. Es war
ein Fortschritt, wenn das Recht der Person sowohl in den äußern Zuständen
als in der innern Würdigung zur Geltung gebracht wurde. Der Mensch muß
gesichert sein gegen die Staatsobrigkeit, wo sie ihre Gewalt willkürlich gebraucht.
Er darf uicht so gestellt sein, daß er, bloß weil er mißliebig ist, unter dein Vor-
wande des Rechtes verfolgt und an Leben, Vermögen oder Ehre geschädigt
werden kann, er darf uicht durch die Vvrbeuguugsmaßregeln einer kurzsichtigen
und befangene!, Polizei nutzlos gebildete und in seiner Selbstbestimmung be¬
schränkt werden. Der Unterthan muß selbst gegen die Gesetze des Staates inso¬
weit gesichert sein, daß sie nicht in die Sphäre eingreifen, die einzig und allein
seiner Freiheit gebührt. Er geht uicht vollständig im Staate auf, sondern hat
Beziehungen und Bedürfnisse, die über diesen hinaus reichen, und es liegen in
ihm Kräfte und Gaben, denen ihr Wachstum und ihre Entfaltung nicht durch
die Obrigkeit vorgezeichnet werden kann. Niemand darf ihm einen religiösen
Glauben aufdränge», ihn auf bestimmtem Wege gewaltsam selig machen wollen,
niemand ihm, wenn er Lehrer ist, seine wissenschaftliche, wenn er Publizist ist,
seine politische Überzeugung vorschreiben. Es muß dem gegenüber eine Grenze
geben, wo es für die Staatsgewalt „Bis hierher und nicht weiter" heißt, einen
umfriedigten Raum, deu kein Bote der Staatsgewalt betreten darf, eine geweihte


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[0266] Die Wurzeln des Liberalismus. Mittelalter der alleinige Träger des Besitzes und der Bildung war, gleichgekommen und daher auch gleichberechtigt mit ihm betreffs der Bestimmung der öffentlichen Angelegenheiten. Aber er durfte nicht die Alleinherrschaft im Staate in An¬ spruch nehmen, er durfte nicht versuchen, dem Königtum seinen Charakter als wahrhafte selbständige Obrigkeit zu nehmen, es der parlamentarischen Mehrheit und der schwankenden und wechselnden öffentlichen Meinung Unterthan zu machen. Er mußte neben sich auch den Wert des großen stetigen Grundbesitzes und der historischen Geschlechter für die Gesellschaft und das denselben entsprechenden Rechtes auf Einfluß im Staate anerkennen, und daß er das alles unterließ, ist einer seiner Grundfehler. Dazu kam aber noch ein andrer: er begründete seinen Anspruch nicht auf seine Qualität, auf Besitz und Bildung, sondern auf eine Doktrin, auf die Menschenrechte, auf seine Zahl. Damit ordnete er sich die Aristokratie unter, mußte aber, wenn er konsequent und gerecht sein wollte, zugeben, daß sich die Volksmasse, die noch zahlreicher war, kraft derselben Menschenrechte über ihn stellte. Ähnlich steht es mit dem andern Hauptziele des Liberalismus. Die indivi¬ duelle Freiheit, das Recht der Person ist ein sittliches Pnnzip, ein Grund¬ bedürfnis der Gesellschaft, das in der gesellschaftlichen Ordnung berücksichtigt sein muß. In den früheren Zuständen war es vielfach getrübt und beeinträchtigt durch die Ziele, welche die Gemeinwesen in ihrem organischen Zusammenhange verfolgten. Zu Gunsten des Ansehens und der kräftigen Wirkung der öffent¬ lichen Gewalt wurde die individuelle Sicherheit verletzt, zu Gunsten der stän¬ dischen Gliederung ließ man die individuelle Menschenwürde leiden. Es war ein Fortschritt, wenn das Recht der Person sowohl in den äußern Zuständen als in der innern Würdigung zur Geltung gebracht wurde. Der Mensch muß gesichert sein gegen die Staatsobrigkeit, wo sie ihre Gewalt willkürlich gebraucht. Er darf uicht so gestellt sein, daß er, bloß weil er mißliebig ist, unter dein Vor- wande des Rechtes verfolgt und an Leben, Vermögen oder Ehre geschädigt werden kann, er darf uicht durch die Vvrbeuguugsmaßregeln einer kurzsichtigen und befangene!, Polizei nutzlos gebildete und in seiner Selbstbestimmung be¬ schränkt werden. Der Unterthan muß selbst gegen die Gesetze des Staates inso¬ weit gesichert sein, daß sie nicht in die Sphäre eingreifen, die einzig und allein seiner Freiheit gebührt. Er geht uicht vollständig im Staate auf, sondern hat Beziehungen und Bedürfnisse, die über diesen hinaus reichen, und es liegen in ihm Kräfte und Gaben, denen ihr Wachstum und ihre Entfaltung nicht durch die Obrigkeit vorgezeichnet werden kann. Niemand darf ihm einen religiösen Glauben aufdränge», ihn auf bestimmtem Wege gewaltsam selig machen wollen, niemand ihm, wenn er Lehrer ist, seine wissenschaftliche, wenn er Publizist ist, seine politische Überzeugung vorschreiben. Es muß dem gegenüber eine Grenze geben, wo es für die Staatsgewalt „Bis hierher und nicht weiter" heißt, einen umfriedigten Raum, deu kein Bote der Staatsgewalt betreten darf, eine geweihte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/266>, abgerufen am 21.06.2024.