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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln des Liberalismus.

doktrinärer Verblendung, der Handwerker werde frei, wenn man die Gewalt der
Zunft beseitigt; aber die Folge ist, daß er der Gewalt des reichen Unternehmers,
Magazininhabers u. s. w. verfällt, der nach derselben Freiheit sich zwischen ihn
und das Publikum stellt, allen Absatz an sich reißt und ihm seinen Lohn
kümmerlich zumißt, ohne daß er auch nur einen rechtlichen Schutz gegen ihn
hätte, wie ehedem gegen die Zunft. . . . Man meint, das Grundeigentum werde
frei, d. h. man erhalte lauter freie Grundbesitzer, wenn man die Erbpacht und
sonst alles dinglich belastete Eigentum abschafft. Aber die Folge ist, daß der
große Grundherr seine Güter nicht mehr in Erbpacht giebt, sondern sie durch
Zeitpächter oder Tagelöhner bestellen läßt. In der Konstitution steht dann
"freies Eigentum," im Leben stehen Tagelöhner statt freier Eigentümer, und ohne
Verletzung der Konstitution. Ist aber der Tagelöhner freier in seinem Besitz
als der Erbpächler? Das Rechnungsexempel ist einfach: der ärmere Ackers¬
mann kann freies Eigentum nach dem Maße seines Vermögens nicht erschwingen,
und verbietet man ihm, daß er belastetes habe, so wird er eben gar keins
haben."

In dem Streben nach Entglicderung der Gesellschaft hat der Liberalismus
alle Parteien, welche sich zu den Grundsätzen von 1789 bekennen, die Demo¬
kraten und die Sozialisten hinter sich, denn sie alle wollen die Lösung des
Menschen von sachlichen Verbänden und in sich selbst befestigten Einrichtungen.
Der Liberalismus hat aber das Besondre, daß er den Willen der Einzelnen
auch von dem der Gesamtheit, dem Volke, der Gesellschaft unabhängig machen
will. So fordert er für die materielle, die wirtschaftliche Sphäre freien Ver¬
kehr und unbeschränkte Konkurrenz. Es sollen im Staate keinerlei Einrichtungen
geschaffen oder geduldet werden, welche Grenzen für die individuelle Erwerbs¬
thätigkeit bilden: der Veräußerung und Zerstückelung der Ritter- und Bauern¬
güter, dem Betriebe des Handwerks und des Handels soll kein Hindernis
irgendwelcher Art im Wege stehen, jeder soll Arzt, jeder Theaterdirektor sein
dürfen, jeder sich da ansässig machen dürfen, wo es ihm beliebt, Hütten zu
bauen. Andrerseits soll aber auch keine Leitung der Erwerbsthätigkeit durch
die Gesamtheit bestehen, wie sie der Sozialismus erstrebt. Der Staat soll
überhaupt die Hand von der Erstrebung öffentlichen Wohlstandes lassen und
es den Einzelnen überlassen, zuzusehen, wie er fortkomme und gedeihe. Höchstens
darf er indirekt, etwa durch den Bau von Chausseen, Eisenbahnen und Kanälen,
durch die Errichtung von Ackerbau- und Gewerbeschulen und durch die Verteilung
bon Prämien für vorzügliche landwirtschaftliche und industrielle Leistungen nach
jener Richtung einige Wirksamkeit entfalten.

Der Liberalismus hat unleugbar seine Berechtigung: er vertritt in unsrer
Zeit vorzugsweise Besitz und Bildung, und diese sind vor allem zum Mitwirken
im öffentlichen Leben und zur Teilnahme an der Herrschaft im Staate berufen.
Der Mittelstand ist im Laufe der Zeiten dem Adel, der mit dem Klerus im


Grmzbotim III. 1834. 83
Die Wurzeln des Liberalismus.

doktrinärer Verblendung, der Handwerker werde frei, wenn man die Gewalt der
Zunft beseitigt; aber die Folge ist, daß er der Gewalt des reichen Unternehmers,
Magazininhabers u. s. w. verfällt, der nach derselben Freiheit sich zwischen ihn
und das Publikum stellt, allen Absatz an sich reißt und ihm seinen Lohn
kümmerlich zumißt, ohne daß er auch nur einen rechtlichen Schutz gegen ihn
hätte, wie ehedem gegen die Zunft. . . . Man meint, das Grundeigentum werde
frei, d. h. man erhalte lauter freie Grundbesitzer, wenn man die Erbpacht und
sonst alles dinglich belastete Eigentum abschafft. Aber die Folge ist, daß der
große Grundherr seine Güter nicht mehr in Erbpacht giebt, sondern sie durch
Zeitpächter oder Tagelöhner bestellen läßt. In der Konstitution steht dann
»freies Eigentum,« im Leben stehen Tagelöhner statt freier Eigentümer, und ohne
Verletzung der Konstitution. Ist aber der Tagelöhner freier in seinem Besitz
als der Erbpächler? Das Rechnungsexempel ist einfach: der ärmere Ackers¬
mann kann freies Eigentum nach dem Maße seines Vermögens nicht erschwingen,
und verbietet man ihm, daß er belastetes habe, so wird er eben gar keins
haben."

In dem Streben nach Entglicderung der Gesellschaft hat der Liberalismus
alle Parteien, welche sich zu den Grundsätzen von 1789 bekennen, die Demo¬
kraten und die Sozialisten hinter sich, denn sie alle wollen die Lösung des
Menschen von sachlichen Verbänden und in sich selbst befestigten Einrichtungen.
Der Liberalismus hat aber das Besondre, daß er den Willen der Einzelnen
auch von dem der Gesamtheit, dem Volke, der Gesellschaft unabhängig machen
will. So fordert er für die materielle, die wirtschaftliche Sphäre freien Ver¬
kehr und unbeschränkte Konkurrenz. Es sollen im Staate keinerlei Einrichtungen
geschaffen oder geduldet werden, welche Grenzen für die individuelle Erwerbs¬
thätigkeit bilden: der Veräußerung und Zerstückelung der Ritter- und Bauern¬
güter, dem Betriebe des Handwerks und des Handels soll kein Hindernis
irgendwelcher Art im Wege stehen, jeder soll Arzt, jeder Theaterdirektor sein
dürfen, jeder sich da ansässig machen dürfen, wo es ihm beliebt, Hütten zu
bauen. Andrerseits soll aber auch keine Leitung der Erwerbsthätigkeit durch
die Gesamtheit bestehen, wie sie der Sozialismus erstrebt. Der Staat soll
überhaupt die Hand von der Erstrebung öffentlichen Wohlstandes lassen und
es den Einzelnen überlassen, zuzusehen, wie er fortkomme und gedeihe. Höchstens
darf er indirekt, etwa durch den Bau von Chausseen, Eisenbahnen und Kanälen,
durch die Errichtung von Ackerbau- und Gewerbeschulen und durch die Verteilung
bon Prämien für vorzügliche landwirtschaftliche und industrielle Leistungen nach
jener Richtung einige Wirksamkeit entfalten.

Der Liberalismus hat unleugbar seine Berechtigung: er vertritt in unsrer
Zeit vorzugsweise Besitz und Bildung, und diese sind vor allem zum Mitwirken
im öffentlichen Leben und zur Teilnahme an der Herrschaft im Staate berufen.
Der Mittelstand ist im Laufe der Zeiten dem Adel, der mit dem Klerus im


Grmzbotim III. 1834. 83
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[0265] Die Wurzeln des Liberalismus. doktrinärer Verblendung, der Handwerker werde frei, wenn man die Gewalt der Zunft beseitigt; aber die Folge ist, daß er der Gewalt des reichen Unternehmers, Magazininhabers u. s. w. verfällt, der nach derselben Freiheit sich zwischen ihn und das Publikum stellt, allen Absatz an sich reißt und ihm seinen Lohn kümmerlich zumißt, ohne daß er auch nur einen rechtlichen Schutz gegen ihn hätte, wie ehedem gegen die Zunft. . . . Man meint, das Grundeigentum werde frei, d. h. man erhalte lauter freie Grundbesitzer, wenn man die Erbpacht und sonst alles dinglich belastete Eigentum abschafft. Aber die Folge ist, daß der große Grundherr seine Güter nicht mehr in Erbpacht giebt, sondern sie durch Zeitpächter oder Tagelöhner bestellen läßt. In der Konstitution steht dann »freies Eigentum,« im Leben stehen Tagelöhner statt freier Eigentümer, und ohne Verletzung der Konstitution. Ist aber der Tagelöhner freier in seinem Besitz als der Erbpächler? Das Rechnungsexempel ist einfach: der ärmere Ackers¬ mann kann freies Eigentum nach dem Maße seines Vermögens nicht erschwingen, und verbietet man ihm, daß er belastetes habe, so wird er eben gar keins haben." In dem Streben nach Entglicderung der Gesellschaft hat der Liberalismus alle Parteien, welche sich zu den Grundsätzen von 1789 bekennen, die Demo¬ kraten und die Sozialisten hinter sich, denn sie alle wollen die Lösung des Menschen von sachlichen Verbänden und in sich selbst befestigten Einrichtungen. Der Liberalismus hat aber das Besondre, daß er den Willen der Einzelnen auch von dem der Gesamtheit, dem Volke, der Gesellschaft unabhängig machen will. So fordert er für die materielle, die wirtschaftliche Sphäre freien Ver¬ kehr und unbeschränkte Konkurrenz. Es sollen im Staate keinerlei Einrichtungen geschaffen oder geduldet werden, welche Grenzen für die individuelle Erwerbs¬ thätigkeit bilden: der Veräußerung und Zerstückelung der Ritter- und Bauern¬ güter, dem Betriebe des Handwerks und des Handels soll kein Hindernis irgendwelcher Art im Wege stehen, jeder soll Arzt, jeder Theaterdirektor sein dürfen, jeder sich da ansässig machen dürfen, wo es ihm beliebt, Hütten zu bauen. Andrerseits soll aber auch keine Leitung der Erwerbsthätigkeit durch die Gesamtheit bestehen, wie sie der Sozialismus erstrebt. Der Staat soll überhaupt die Hand von der Erstrebung öffentlichen Wohlstandes lassen und es den Einzelnen überlassen, zuzusehen, wie er fortkomme und gedeihe. Höchstens darf er indirekt, etwa durch den Bau von Chausseen, Eisenbahnen und Kanälen, durch die Errichtung von Ackerbau- und Gewerbeschulen und durch die Verteilung bon Prämien für vorzügliche landwirtschaftliche und industrielle Leistungen nach jener Richtung einige Wirksamkeit entfalten. Der Liberalismus hat unleugbar seine Berechtigung: er vertritt in unsrer Zeit vorzugsweise Besitz und Bildung, und diese sind vor allem zum Mitwirken im öffentlichen Leben und zur Teilnahme an der Herrschaft im Staate berufen. Der Mittelstand ist im Laufe der Zeiten dem Adel, der mit dem Klerus im Grmzbotim III. 1834. 83

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/265>, abgerufen am 21.06.2024.