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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln dos Liberalismus.

Stätte der Persönlichkeit, wo der Mensch mit sich allein und dem Einflüsse des
Staates unnahbar ist.

Das ist die Bedeutung der Menschenrechte. Das Recht der Person in
allen diesen Beziehungen ist eine wohlbegründete Forderung des Liberalismus.
Nur wird sie von ihm in falscher Weise gestellt. Statt für das Recht der
Person eine Stelle innerhalb der Lebensordnung der Nation zu verlangen,
läßt der Liberalismus nichts gelten als dieses Recht, statt dem Individuum in
den Institutionen Freiheit zu gewähren, will er sie dadurch frei machen, daß
er die Institutionen zertrümmert. Er begnügt sich z. B. nicht damit, in der
öffentlichen Ordnung der Erwerbsthätigkeit den früheren Beschränkungen gegen¬
über der persönlichen Freiheit einen weiten Kreis zur Bethätigung anzuweisen,
indem er die Schranken nach verschiedenen Richtungen hinausrückt, den Gewerbe¬
betrieb und die Ansässigmachung erleichtert, große Güter zu teilen erlaubt, die
Macht der Zünfte und Innungen vermindert, sondern beseitigt grundsätzlich alle
öffentlichen Grundeigentums- und Gewerbeordnungen, welche einen wohlhabenden
Stand von Landwirten und Handwerkern zu schaffen und zu erhalten bezweckten,
er setzt keine andre Ordnung an die Stelle der alten, vielmehr ist ihm Unbe¬
kümmertheit des Staates, Gehenlassen, Aufgeben aller obrigkeitlichen Fürsorge
der Inbegriff aller Weisheit in Sachen des gewerblichen Lebens.

Der Liberalismus hat zu seiner innersten Triebfeder und zu seinem letzten
Ziele eine menschliche Existenz aller Glieder der bürgerlichen Gesellschaft. Daher
auch sein Streben nach einem Reiche der gebildeten Klasse, welches die
menschliche Existenz und nur sie in achtbarer Weise darstellt und vertritt, die
Fernhaltung der rohen Volksmasse und die Auflehnung gegen alle Vorzüge,
welche in noch etwas anderen als in selbständig gebildeter menschlicher Existenz
ihren Grund haben, daher der Schutz der individuellen Freiheit gegen beschrän¬
kende Einrichtungen wie gegen die Gewalt der Gesamtheit, der den Zweck hat,
die Individualität und in ihr eben die rein menschliche Existenz sich ganz und
ohne irgendwelche Störung entfalten zu lassen, daher die Anerkennung unver¬
äußerlicher Menschenrechte bei allen ohne irgendwelchen Unterschied. "Das ist,
wie Stahl sagt, das wahre Prinzip, der edle Kern des Liberalismus, darin
besteht sein Wert, und das ist seine Anziehungskraft für wohlwollende Gemüter.
Es ist das eben der Grundzug und wohl auch die Hauptaufgabe der jüngst¬
vergangenen Zeitepoche, namentlich des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist dem
Mittelalter und ebenso der Epoche der Reformation fremd, war wenigstens
nicht ihre energische Tugend. Wohl kannten diese die Nächstenliebe, die Sorge für
das Seelenheil und das leibliche Wohl des Nächsten, aber nicht die Anerkennung
seiner Berechtigung und seiner Ehre, und es war ein Verhältnis von Einzelnen
zu Einzelnen, nicht die gestaltende Kraft des öffentlichen Zustandes. Kraft
dieses Prinzips hat der Liberalismus den überkommenen Zustand geläutert, ihn
in Einrichtungen und Sitten menschlich gemacht. Ihm verdankt man die Ab-


Die Wurzeln dos Liberalismus.

Stätte der Persönlichkeit, wo der Mensch mit sich allein und dem Einflüsse des
Staates unnahbar ist.

Das ist die Bedeutung der Menschenrechte. Das Recht der Person in
allen diesen Beziehungen ist eine wohlbegründete Forderung des Liberalismus.
Nur wird sie von ihm in falscher Weise gestellt. Statt für das Recht der
Person eine Stelle innerhalb der Lebensordnung der Nation zu verlangen,
läßt der Liberalismus nichts gelten als dieses Recht, statt dem Individuum in
den Institutionen Freiheit zu gewähren, will er sie dadurch frei machen, daß
er die Institutionen zertrümmert. Er begnügt sich z. B. nicht damit, in der
öffentlichen Ordnung der Erwerbsthätigkeit den früheren Beschränkungen gegen¬
über der persönlichen Freiheit einen weiten Kreis zur Bethätigung anzuweisen,
indem er die Schranken nach verschiedenen Richtungen hinausrückt, den Gewerbe¬
betrieb und die Ansässigmachung erleichtert, große Güter zu teilen erlaubt, die
Macht der Zünfte und Innungen vermindert, sondern beseitigt grundsätzlich alle
öffentlichen Grundeigentums- und Gewerbeordnungen, welche einen wohlhabenden
Stand von Landwirten und Handwerkern zu schaffen und zu erhalten bezweckten,
er setzt keine andre Ordnung an die Stelle der alten, vielmehr ist ihm Unbe¬
kümmertheit des Staates, Gehenlassen, Aufgeben aller obrigkeitlichen Fürsorge
der Inbegriff aller Weisheit in Sachen des gewerblichen Lebens.

Der Liberalismus hat zu seiner innersten Triebfeder und zu seinem letzten
Ziele eine menschliche Existenz aller Glieder der bürgerlichen Gesellschaft. Daher
auch sein Streben nach einem Reiche der gebildeten Klasse, welches die
menschliche Existenz und nur sie in achtbarer Weise darstellt und vertritt, die
Fernhaltung der rohen Volksmasse und die Auflehnung gegen alle Vorzüge,
welche in noch etwas anderen als in selbständig gebildeter menschlicher Existenz
ihren Grund haben, daher der Schutz der individuellen Freiheit gegen beschrän¬
kende Einrichtungen wie gegen die Gewalt der Gesamtheit, der den Zweck hat,
die Individualität und in ihr eben die rein menschliche Existenz sich ganz und
ohne irgendwelche Störung entfalten zu lassen, daher die Anerkennung unver¬
äußerlicher Menschenrechte bei allen ohne irgendwelchen Unterschied. „Das ist,
wie Stahl sagt, das wahre Prinzip, der edle Kern des Liberalismus, darin
besteht sein Wert, und das ist seine Anziehungskraft für wohlwollende Gemüter.
Es ist das eben der Grundzug und wohl auch die Hauptaufgabe der jüngst¬
vergangenen Zeitepoche, namentlich des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist dem
Mittelalter und ebenso der Epoche der Reformation fremd, war wenigstens
nicht ihre energische Tugend. Wohl kannten diese die Nächstenliebe, die Sorge für
das Seelenheil und das leibliche Wohl des Nächsten, aber nicht die Anerkennung
seiner Berechtigung und seiner Ehre, und es war ein Verhältnis von Einzelnen
zu Einzelnen, nicht die gestaltende Kraft des öffentlichen Zustandes. Kraft
dieses Prinzips hat der Liberalismus den überkommenen Zustand geläutert, ihn
in Einrichtungen und Sitten menschlich gemacht. Ihm verdankt man die Ab-


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[0267] Die Wurzeln dos Liberalismus. Stätte der Persönlichkeit, wo der Mensch mit sich allein und dem Einflüsse des Staates unnahbar ist. Das ist die Bedeutung der Menschenrechte. Das Recht der Person in allen diesen Beziehungen ist eine wohlbegründete Forderung des Liberalismus. Nur wird sie von ihm in falscher Weise gestellt. Statt für das Recht der Person eine Stelle innerhalb der Lebensordnung der Nation zu verlangen, läßt der Liberalismus nichts gelten als dieses Recht, statt dem Individuum in den Institutionen Freiheit zu gewähren, will er sie dadurch frei machen, daß er die Institutionen zertrümmert. Er begnügt sich z. B. nicht damit, in der öffentlichen Ordnung der Erwerbsthätigkeit den früheren Beschränkungen gegen¬ über der persönlichen Freiheit einen weiten Kreis zur Bethätigung anzuweisen, indem er die Schranken nach verschiedenen Richtungen hinausrückt, den Gewerbe¬ betrieb und die Ansässigmachung erleichtert, große Güter zu teilen erlaubt, die Macht der Zünfte und Innungen vermindert, sondern beseitigt grundsätzlich alle öffentlichen Grundeigentums- und Gewerbeordnungen, welche einen wohlhabenden Stand von Landwirten und Handwerkern zu schaffen und zu erhalten bezweckten, er setzt keine andre Ordnung an die Stelle der alten, vielmehr ist ihm Unbe¬ kümmertheit des Staates, Gehenlassen, Aufgeben aller obrigkeitlichen Fürsorge der Inbegriff aller Weisheit in Sachen des gewerblichen Lebens. Der Liberalismus hat zu seiner innersten Triebfeder und zu seinem letzten Ziele eine menschliche Existenz aller Glieder der bürgerlichen Gesellschaft. Daher auch sein Streben nach einem Reiche der gebildeten Klasse, welches die menschliche Existenz und nur sie in achtbarer Weise darstellt und vertritt, die Fernhaltung der rohen Volksmasse und die Auflehnung gegen alle Vorzüge, welche in noch etwas anderen als in selbständig gebildeter menschlicher Existenz ihren Grund haben, daher der Schutz der individuellen Freiheit gegen beschrän¬ kende Einrichtungen wie gegen die Gewalt der Gesamtheit, der den Zweck hat, die Individualität und in ihr eben die rein menschliche Existenz sich ganz und ohne irgendwelche Störung entfalten zu lassen, daher die Anerkennung unver¬ äußerlicher Menschenrechte bei allen ohne irgendwelchen Unterschied. „Das ist, wie Stahl sagt, das wahre Prinzip, der edle Kern des Liberalismus, darin besteht sein Wert, und das ist seine Anziehungskraft für wohlwollende Gemüter. Es ist das eben der Grundzug und wohl auch die Hauptaufgabe der jüngst¬ vergangenen Zeitepoche, namentlich des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist dem Mittelalter und ebenso der Epoche der Reformation fremd, war wenigstens nicht ihre energische Tugend. Wohl kannten diese die Nächstenliebe, die Sorge für das Seelenheil und das leibliche Wohl des Nächsten, aber nicht die Anerkennung seiner Berechtigung und seiner Ehre, und es war ein Verhältnis von Einzelnen zu Einzelnen, nicht die gestaltende Kraft des öffentlichen Zustandes. Kraft dieses Prinzips hat der Liberalismus den überkommenen Zustand geläutert, ihn in Einrichtungen und Sitten menschlich gemacht. Ihm verdankt man die Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/267>, abgerufen am 21.06.2024.