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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Die Wurzeln des Liberalismus.

richtungen haben, keinen Unterschied mehr zwischen Stadt und Land, eine und
dieselbe Gemeindeordnung für alle Orte, für die Hauptstadt wie für das geringste
Dorf, keine Vertretung nach Ständen, überhaupt keine Stände, keine bäuerliche
Erbfolgcordnung, kein besondres Wechselrecht für den Handelsstand, keine Erb¬
pachtsverhältnisse, kein Ober- und Untereigcntum mehr, sondern lauter freie
und völlig unbeschränkte Grundbesitzer; endlich fort mit den Innungen und
Zünften, welche das Handwerk nach außen vertreten und ihre Mitglieder in
Zucht halten, und fort mit den Meistern und ihrer Gewalt über Gesellen und
Lehrlinge; jeder treibt fortan sein Geschäft für sich und ohne Zusammenhang
mit den andern, der Meister ist von jetzt an ein Arbeiter, welcher mit einem
ihm ganz gleichstehenden Arbeiter, dem Gesellen, einen Mietsvertrag und mit
einem andern Arbeiter, dem Lehrling, einen Untcrrichtsvertrag abschließt,
außerhalb dessen die Leute einander garnichts angehen.

Das Ergebnis dieser Forderungen ist wirklich eine ungegliederte Gesellschaft,
in der sich der Einzelne immer nur andern einzelnen gegenübersteht. Der Ge¬
danke, der ihnen zugrunde liegt, lautet: Der Mensch ist ein absolutes Ganzes,
nicht bloß ein andre ergänzendes und durch sie ergänztes Glied des sozialen
Organismus, er soll nicht an andre von selbst gebunden sein, sondern nur
soweit er sich freiwillig, geschäfts- und vertragsmäßig mit ihnen verbindet.
Seine Freiheit kann nur beschränkt sein sür die Freiheit der übrigen, nicht für
den Zweck einer Sache, eines Berufs, einer Einrichtung. Will er z. B. ein
Handwerk treiben, so darf er nur andre nicht betrügen, das ist alles.. Wie
er das Handwerk lernt, ob er es gut oder schlecht, in der oder jener Aus¬
dehnung betreibt, wie er andre darin unterrichtet, das alles ist nur seine und
sonst niemands Sache. Alle sollen völlig gleichgestellt sein; nur an einer Un¬
gleichheit nimmt der konsequente Liberalismus keinen Anstoß, an der Ungleichheit
nach dem Vermögen. Es ist nicht bloß das eigne Interesse des Mittelstandes,
wenn die Liberalen bei ihrem Kampfe gegen alle andern Ungleichheiten diese
unangetastet lasten, sondern auch das spricht für sie, daß sie unorganisch ist,
daß durch das besondre Recht der Wohlhabenden keine gegliederte Institution
begründet wird, daß mit diesem Rechte die Gesellschaft ein bloßes Aggregat, eine
Masse vereinzelter Menschen bleibt.

Der Liberalismus hat seine Absicht, die Herrschaft des Mittelstandes, nicht
erreicht, wohl aber die Gliederung der Gesellschaft vielfach zerstört, und die
Regierungen haben dabei geholfen. "Die Menschen," sagt Stahl, dem wir
in den vorliegenden Auseinandersetzungen im Ganzen folgen, "verkommen in
Masse, wenn sie auf sich selbst gestellt, wenn sie vereinzelt werden. Die mo¬
ralischen Hebel des Standesgeistes, der Standesehre weichen, der echte Gemein¬
sinn nimmt ab; denn er kann mir in kleinern Kreisen erstarken, die Zucht und
Sitte in den Berufsklassen verfällt. . . . Aber selbst die individuelle Freiheit, die
man mit dem allen erstrebte, ist bloßer Schein. . .. Man meint in merkwürdiger


Die Wurzeln des Liberalismus.

richtungen haben, keinen Unterschied mehr zwischen Stadt und Land, eine und
dieselbe Gemeindeordnung für alle Orte, für die Hauptstadt wie für das geringste
Dorf, keine Vertretung nach Ständen, überhaupt keine Stände, keine bäuerliche
Erbfolgcordnung, kein besondres Wechselrecht für den Handelsstand, keine Erb¬
pachtsverhältnisse, kein Ober- und Untereigcntum mehr, sondern lauter freie
und völlig unbeschränkte Grundbesitzer; endlich fort mit den Innungen und
Zünften, welche das Handwerk nach außen vertreten und ihre Mitglieder in
Zucht halten, und fort mit den Meistern und ihrer Gewalt über Gesellen und
Lehrlinge; jeder treibt fortan sein Geschäft für sich und ohne Zusammenhang
mit den andern, der Meister ist von jetzt an ein Arbeiter, welcher mit einem
ihm ganz gleichstehenden Arbeiter, dem Gesellen, einen Mietsvertrag und mit
einem andern Arbeiter, dem Lehrling, einen Untcrrichtsvertrag abschließt,
außerhalb dessen die Leute einander garnichts angehen.

Das Ergebnis dieser Forderungen ist wirklich eine ungegliederte Gesellschaft,
in der sich der Einzelne immer nur andern einzelnen gegenübersteht. Der Ge¬
danke, der ihnen zugrunde liegt, lautet: Der Mensch ist ein absolutes Ganzes,
nicht bloß ein andre ergänzendes und durch sie ergänztes Glied des sozialen
Organismus, er soll nicht an andre von selbst gebunden sein, sondern nur
soweit er sich freiwillig, geschäfts- und vertragsmäßig mit ihnen verbindet.
Seine Freiheit kann nur beschränkt sein sür die Freiheit der übrigen, nicht für
den Zweck einer Sache, eines Berufs, einer Einrichtung. Will er z. B. ein
Handwerk treiben, so darf er nur andre nicht betrügen, das ist alles.. Wie
er das Handwerk lernt, ob er es gut oder schlecht, in der oder jener Aus¬
dehnung betreibt, wie er andre darin unterrichtet, das alles ist nur seine und
sonst niemands Sache. Alle sollen völlig gleichgestellt sein; nur an einer Un¬
gleichheit nimmt der konsequente Liberalismus keinen Anstoß, an der Ungleichheit
nach dem Vermögen. Es ist nicht bloß das eigne Interesse des Mittelstandes,
wenn die Liberalen bei ihrem Kampfe gegen alle andern Ungleichheiten diese
unangetastet lasten, sondern auch das spricht für sie, daß sie unorganisch ist,
daß durch das besondre Recht der Wohlhabenden keine gegliederte Institution
begründet wird, daß mit diesem Rechte die Gesellschaft ein bloßes Aggregat, eine
Masse vereinzelter Menschen bleibt.

Der Liberalismus hat seine Absicht, die Herrschaft des Mittelstandes, nicht
erreicht, wohl aber die Gliederung der Gesellschaft vielfach zerstört, und die
Regierungen haben dabei geholfen. „Die Menschen," sagt Stahl, dem wir
in den vorliegenden Auseinandersetzungen im Ganzen folgen, „verkommen in
Masse, wenn sie auf sich selbst gestellt, wenn sie vereinzelt werden. Die mo¬
ralischen Hebel des Standesgeistes, der Standesehre weichen, der echte Gemein¬
sinn nimmt ab; denn er kann mir in kleinern Kreisen erstarken, die Zucht und
Sitte in den Berufsklassen verfällt. . . . Aber selbst die individuelle Freiheit, die
man mit dem allen erstrebte, ist bloßer Schein. . .. Man meint in merkwürdiger


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[0264] Die Wurzeln des Liberalismus. richtungen haben, keinen Unterschied mehr zwischen Stadt und Land, eine und dieselbe Gemeindeordnung für alle Orte, für die Hauptstadt wie für das geringste Dorf, keine Vertretung nach Ständen, überhaupt keine Stände, keine bäuerliche Erbfolgcordnung, kein besondres Wechselrecht für den Handelsstand, keine Erb¬ pachtsverhältnisse, kein Ober- und Untereigcntum mehr, sondern lauter freie und völlig unbeschränkte Grundbesitzer; endlich fort mit den Innungen und Zünften, welche das Handwerk nach außen vertreten und ihre Mitglieder in Zucht halten, und fort mit den Meistern und ihrer Gewalt über Gesellen und Lehrlinge; jeder treibt fortan sein Geschäft für sich und ohne Zusammenhang mit den andern, der Meister ist von jetzt an ein Arbeiter, welcher mit einem ihm ganz gleichstehenden Arbeiter, dem Gesellen, einen Mietsvertrag und mit einem andern Arbeiter, dem Lehrling, einen Untcrrichtsvertrag abschließt, außerhalb dessen die Leute einander garnichts angehen. Das Ergebnis dieser Forderungen ist wirklich eine ungegliederte Gesellschaft, in der sich der Einzelne immer nur andern einzelnen gegenübersteht. Der Ge¬ danke, der ihnen zugrunde liegt, lautet: Der Mensch ist ein absolutes Ganzes, nicht bloß ein andre ergänzendes und durch sie ergänztes Glied des sozialen Organismus, er soll nicht an andre von selbst gebunden sein, sondern nur soweit er sich freiwillig, geschäfts- und vertragsmäßig mit ihnen verbindet. Seine Freiheit kann nur beschränkt sein sür die Freiheit der übrigen, nicht für den Zweck einer Sache, eines Berufs, einer Einrichtung. Will er z. B. ein Handwerk treiben, so darf er nur andre nicht betrügen, das ist alles.. Wie er das Handwerk lernt, ob er es gut oder schlecht, in der oder jener Aus¬ dehnung betreibt, wie er andre darin unterrichtet, das alles ist nur seine und sonst niemands Sache. Alle sollen völlig gleichgestellt sein; nur an einer Un¬ gleichheit nimmt der konsequente Liberalismus keinen Anstoß, an der Ungleichheit nach dem Vermögen. Es ist nicht bloß das eigne Interesse des Mittelstandes, wenn die Liberalen bei ihrem Kampfe gegen alle andern Ungleichheiten diese unangetastet lasten, sondern auch das spricht für sie, daß sie unorganisch ist, daß durch das besondre Recht der Wohlhabenden keine gegliederte Institution begründet wird, daß mit diesem Rechte die Gesellschaft ein bloßes Aggregat, eine Masse vereinzelter Menschen bleibt. Der Liberalismus hat seine Absicht, die Herrschaft des Mittelstandes, nicht erreicht, wohl aber die Gliederung der Gesellschaft vielfach zerstört, und die Regierungen haben dabei geholfen. „Die Menschen," sagt Stahl, dem wir in den vorliegenden Auseinandersetzungen im Ganzen folgen, „verkommen in Masse, wenn sie auf sich selbst gestellt, wenn sie vereinzelt werden. Die mo¬ ralischen Hebel des Standesgeistes, der Standesehre weichen, der echte Gemein¬ sinn nimmt ab; denn er kann mir in kleinern Kreisen erstarken, die Zucht und Sitte in den Berufsklassen verfällt. . . . Aber selbst die individuelle Freiheit, die man mit dem allen erstrebte, ist bloßer Schein. . .. Man meint in merkwürdiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/264>, abgerufen am 21.06.2024.